Rechtssache C‑213/17

X

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie erlässt

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Art. 17, 18, 23 und 24 – Vorhergehendes, in einem anderen Mitgliedstaat laufendes Verfahren des internationaler Schutzes – Neuer Antrag in einem anderen Mitgliedstaat – Fehlen eines fristgerechten Wiederaufnahmegesuchs – Übergabe der betreffenden Person zur Strafverfolgung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 5. Juli 2018

  1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – Fristen für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs – Folge der Nichteinhaltung dieser Fristen – Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz auf den Mitgliedstaat, der das Wiederaufnahmegesuch nicht rechtzeitig gestellt hat – In einem anderen Mitgliedstaat anhängiger Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Ablehnung eines der in diesem Mitgliedstaat früher gestellten Anträge auf internationalen Schutz – Keine Auswirkung

    (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 23 Abs. 1 bis 3)

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs – In einem anderen Mitgliedstaat anhängiger Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Ablehnung eines in diesem Mitgliedstaat früher gestellten Antrags auf internationalen Schutz – Pflicht, die Prüfung des Rechtsbehelfs auszusetzen und anschließend, falls dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, einzustellen – Fehlen

    (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 18 Abs. 2)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – Informationen, die das Wiederaufnahmegesuch enthalten muss – Information, dass in dem ersuchenden Mitgliedstaat ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Ablehnung eines in diesem Mitgliedstaat früher gestellten Antrags auf internationalen Schutz anhängig ist – Ausschluss

    (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 22 Abs. 3, Art. 23 Abs. 2 und Art. 24 Abs. 5)

  4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – Internationalen Schutz beantragende Person, die mit einem Europäischen Haftbefehl gesucht wird und sich im Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats befindet, ohne einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben – Vom Ausstellungsmitgliedstaat gestelltes Gesuch um Wiederaufnahme durch den Vollstreckungsmitgliedstaat – Zulässigkeit – Möglichkeit für den Ausstellungsmitgliedstaat, den im Vollstreckungsmitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen – Fehlen

    (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 24 Abs. 1)

  1.  Art. 23 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, für dessen Prüfung zuständig ist, wenn er innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung festgelegten Fristen kein Wiederaufnahmegesuch gestellt hat, obwohl zum einen ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung zuvor gestellter Anträge auf internationalen Schutz zuständig war und zum anderen der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines dieser Anträge bei Ablauf der genannten Fristen bei einem Gericht des anderen Mitgliedstaats noch anhängig war.

    Der Anwendungsbereich des Wiederaufnahmeverfahrens ist in den Art. 23 und 24 der Verordnung Nr. 604/2013 festgelegt. Aus Art. 23 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt sich, dass das Wiederaufnahmeverfahren u. a. auf Personen im Sinne ihres Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. April 2017, Ahmed,C‑36/17, EU:C:2017:273, Rn. 26 und 27, sowie Urteil vom 25. Januar 2018, Hasan,C‑360/16, EU:C:2018:35, Rn. 42 und 43). Die letztgenannte Vorschrift erfasst u. a. Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, deren Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde und die in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Antrag gestellt haben. Das in Art. 23 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehene Wiederaufnahmeverfahren ist daher auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar, der in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, obwohl ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz durch eine Entscheidung der zuständigen Behörden abgelehnt worden war, auch wenn diese Entscheidung infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs, der bei einem Gericht des letztgenannten Mitgliedstaats anhängig ist, noch nicht bestandskräftig geworden ist.

    In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens hatten die Behörden des Mitgliedstaats, bei dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, folglich die Möglichkeit, nach Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ein Gesuch um Wiederaufnahme der betreffenden Person zu stellen. Allerdings hat er nach Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung das Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Fristen zu stellen; nach Ablauf dieser Fristen kann ein solches Gesuch nicht mehr wirksam gestellt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab,C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 67). Sowohl aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 als auch aus ihrer Systematik und ihren Zielen ergibt sich, dass bei Ablauf dieser Fristen die Zuständigkeit von Rechts wegen auf den Mitgliedstaat übergeht, bei dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist (vgl. entsprechend Urteile vom 26. Juli 2017, Mengesteab,C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 61, und vom 25. Oktober 2017, Shiri,C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 30).

    (vgl. Rn. 27,28, 32-35, 40, Tenor 1)

  2.  Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat dadurch, dass er ein Gesuch um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen stellt, der sich ohne Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet aufhält, nicht verpflichtet wird, die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz auszusetzen und anschließend, falls der ersuchte Mitgliedstaat dem Gesuch stattgibt, die Prüfung einzustellen.

    Zwar sind in Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 verschiedene Anforderungen an die Behandlung eines Antrags auf internationalen Schutz festgelegt, die vom Stand des betreffenden Verfahrens des internationalen Schutzes abhängen; diese Anforderungen sollen jedoch alle den Fortgang des Verfahrens des internationalen Schutzes gewährleisten und verpflichten nicht dazu, das Verfahren in irgendeinem Mitgliedstaat auszusetzen oder zu unterbrechen.

    (vgl. Rn. 42, 44, Tenor 2)

  3.  Art. 24 Abs. 5 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein Mitgliedstaat, der ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 24 dieser Verordnung stellt, nach dem Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen im ersuchten Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, den Behörden des ersuchten Mitgliedstaats mitzuteilen, dass bei einem Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines zuvor gestellten Antrags auf internationalen Schutz anhängig ist.

    Nach Art. 24 Abs. 5 der Verordnung Nr. 604/2013 ist für ein Wiederaufnahmegesuch ein Standardformblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien im Sinne der beiden Verzeichnisse nach Art. 22 Abs. 3 dieser Verordnung oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung der betroffenen Person enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat auf Grundlage der in dieser Verordnung festgelegten Kriterien zuständig ist. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 5 der Verordnung Nr. 604/2013 ergibt sich somit, dass sich die Pflicht des ersuchenden Mitgliedstaats zur Übermittlung von Informationen auf die Angaben beschränkt, die es dem ersuchten Mitgliedstaat ermöglichen, seine Zuständigkeit zu prüfen.

    (vgl. Rn. 47, 48, 53, Tenor 3)

  4.  Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 der Verordnung Nr. 604/2013 sind dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren zum Zeitpunkt der Überstellungsentscheidung bestehenden, in der eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, von einem ersten Mitgliedstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls an einen zweiten Mitgliedstaat übergeben wurde und sich im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhält, ohne bei diesem einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, der zweite Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat um Wiederaufnahme der betreffenden Person ersuchen kann und nicht beschließen muss, den von dieser gestellten Antrag zu prüfen.

    Nach Art. 24 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 kann ein Mitgliedstaat u. a. einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung wiederaufzunehmen, die sich ohne Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet aufhält, ohne dort einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat nach der letztgenannten Vorschrift zuständig ist. Da diese Vorschrift kein Erfordernis hinsichtlich der Modalitäten der Einreise der betreffenden Person in das Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats enthält, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber die Befugnis zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht von irgendeiner diesbezüglichen Voraussetzung abhängig gemacht hat.

    In diesem Kontext und angesichts der Autonomie der in der Dublin‑III-Verordnung bzw. dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) vorgesehenen Verfahren, die unterschiedliche Ziele verfolgen und nicht austauschbar sind, ist die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht bereits deswegen ausgeschlossen, weil die Einreise in das Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats durch Übergabe in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgte.

    Im Übrigen ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, dass diese Vorschrift jeden Mitgliedstaat ermächtigt, zu beschließen, „einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz“ zu prüfen. Diese Vorschrift hat somit weder zum Zweck noch zur Folge, dass einem Mitgliedstaat die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ermöglicht wird, der nicht bei ihm gestellt worden ist.

    (vgl. Rn. 56-58, 60, 63, Tenor 4)