SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 27. September 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑477/17

Raad van bestuur van de Sociale Verzekeringsbank

gegen

D. Balandin,

I. Lukashenko,

Holiday on Ice Services BV

(Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep [Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande])

„Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 – Ausdehnung der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Drittstaatsangehörige, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben – Recht, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten – Missbrauch“

1.

Es ist einige Jahre her, aber ich erinnere mich gut daran, dass ich als Junge eine Holiday-on-Ice-Vorstellung besuchte. Damals war ich fasziniert von der fantastischen Darbietung, die aus dem Zusammentreffen vieler verschiedener Protagonisten resultierte: Eiskunstläufer, Beleuchtungsingenieure, Musiker und viele andere. Was viele Zuschauer von Holiday on Ice nicht bedenken, ist, dass hinter den Kulissen ebenso viele, wenn nicht mehr Dinge zusammentreffen müssen, um eine solche Vorstellung zu produzieren. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) veranschaulicht, wie viele Rechtsfragen betroffen sind, um die Vorstellung zu den Menschen quer durch Europa zu bringen.

2.

Im Besonderen ist die Frage betroffen, ob drittstaatsangehörige Eiskunstläufer, die für Holiday on Ice arbeiten, ein Recht auf Deckung durch die koordinierte soziale Sicherung besitzen, während sie sich in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Tournee befinden.

3.

Während die Verordnungen Nr. 1231/2010 ( 2 ) und Nr. 883/2004 ( 3 ) die Solisten dieser Unionsrechtsproduktion sind, besteht auch ein mächtiges Ensemble anderer Gesetzgebungsinstrumente, wie des Schengener Visakodex ( 4 ), der Verordnung über Aufenthaltstitel ( 5 ) und der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis ( 6 ), die alle für die Beantwortung der Vorlagefrage des Centrale Raad van Beroep maßgeblich sind.

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Verordnung Nr. 1231/2010

4.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 ersetzte die Verordnung Nr. 859/2003 ( 7 ), und ihr Wortlaut ist mit dem der früheren Verordnung nahezu identisch. Beide Verordnungen zielen darauf ab zu gewährleisten, dass auf Drittstaatsangehörige die gleichen Regeln über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Anwendung finden wie auf Unionsbürger, indem sie die Vorschriften der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 ( 8 ) bzw. der Verordnungen Nrn. 1408/71 ( 9 ) und 574/72 ( 10 ) auf Drittstaatsangehörige ausdehnen.

5.

In den Erwägungsgründen der Verordnung Nr. 1231/2010 heißt es u. a.:

„(1)

Das Europäische Parlament, der Rat und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss haben sich dafür ausgesprochen, Staatsangehörige von Drittstaaten, die sich regelmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, durch die Zuerkennung einheitlicher Rechte, die so weit wie möglich den Rechten der Unionsbürger entsprechen, besser zu integrieren.

(8)

Um zu vermeiden, dass Arbeitgeber und staatliche Träger der sozialen Sicherheit mit rechtlich und verwaltungstechnisch komplexen Sachverhalten konfrontiert werden, die nur eine kleine Gruppe von Personen betreffen, ist es wichtig, dass die Vorteile der Modernisierung und Vereinfachung im Bereich der sozialen Sicherheit uneingeschränkt genutzt werden können, indem nur ein einziges Rechtsinstrument angewendet wird, das die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 miteinander kombiniert.

(10)

Die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen, darf diese Personen in keiner Weise dazu berechtigen, in einen Mitgliedstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten oder ihren Wohnsitz zu nehmen bzw. dort eine Arbeit aufzunehmen. …

(11)

Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 sollen kraft der vorliegenden Verordnung nur Anwendung finden, wenn die betreffende Person bereits ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. Die Rechtmäßigkeit des Wohnsitzes sollte somit eine Voraussetzung für die Anwendung der genannten Verordnungen sein.“

6.

Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 lautet:

„Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 gelten für Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die genannten Verordnungen fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft.“

2. Verordnung Nr. 883/2004

7.

Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt u. a.:

„j)

‚Wohnort‘ [bezeichnet] den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person;

k)

‚Aufenthalt‘ [bezeichnet] den vorübergehenden Aufenthalt“.

8.

Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung in der Fassung der Verordnung Nr. 465/2012 ( 11 ) lautet:

„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt:

a)

den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, oder

b)

wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

i)

den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie bei einem Unternehmen bzw. einem Arbeitgeber beschäftigt ist …“

9.

Die Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004 werden durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009, ihre Durchführungsverordnung, ergänzt.

B.   Nationales Recht

10.

Unter Bezugnahme auf die Verordnung Nr. 1231/2010 sehen die allgemeinen Leitlinien des Raad van bestuur der Sociale Verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsbank; im Folgenden: SVB) für Angehörige von Staaten außerhalb der Europäischen Union vor, dass die Verordnung Nr. 883/2004 auf Drittstaatsangehörige Anwendung findet, die nur aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht unter diese Verordnung fallen, wenn diese sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und innerhalb der Europäischen Union rechtmäßig zu- und abwandern.

11.

In Bezug auf den Begriff des „rechtmäßigen Wohnsitzes“, der in der Verordnung Nr. 1231/2010 nicht definiert wird, bestimmen diese Leitlinien darüber hinaus, dass der rechtmäßige Wohnsitz in den Niederlanden vermutet wird, wenn der Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Vreemdelingenwet 2000 (Fremdengesetz 2000) rechtmäßig ist; dies gilt mit der Maßgabe, dass die SVB keinen rechtmäßigen Wohnsitz annimmt, wenn sich der Ausländer vor der Bescheidung seines Antrags auf erstmalige Zulassung in den Niederlanden aufhält.

12.

Außerdem müssen Drittstaatsangehörige in gleicher Weise wie Unionsbürger das Mobilitätskriterium der Verordnung Nr. 883/2004 erfüllen.

13.

In Bezug auf den räumlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmen die Leitlinien der SVB, dass die Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 abgesehen von bestimmten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltenden Ausnahmen „grundsätzlich nur in Betracht [kommt], wenn eine Person im Gebiet der Europäischen Union lebt und arbeitet“.

II. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

14.

D. Balandin, ein russischer Staatsangehöriger, und I. Lukashenko, ein ukrainischer Staatsangehöriger, sind bei der Holiday on Ice Services BV (im Folgenden: HOI) angestellt, einer Gesellschaft mit Sitz in Amsterdam und Hauptniederlassung in Utrecht. Während der Wintersaison organisiert HOI Eiskunstlaufvorstellungen in verschiedenen Mitgliedstaaten.

15.

Die HOI-Angestellten verbringen jedes Jahr einige Wochen in den Niederlanden, um sich für die bevorstehenden Ereignisse vorzubereiten. Einige Angestellte treten dann in den Niederlanden auf, während andere Angestellte in anderen Mitgliedstaaten, meistens in Frankreich und Deutschland, auftreten.

16.

Während der Dauer des Trainings und gegebenenfalls der Vorstellungen scheinen sich alle Drittstaatsangehörigen rechtmäßig in den Niederlanden aufzuhalten. Anschließend bleiben einige von ihnen für die ganze Saison in den Niederlanden mit den erforderlichen Genehmigungen, die für sie nach dem niederländischen Recht eingeholt werden. Einige Drittstaatsangehörige halten sich jedoch in anderen Mitgliedstaaten auf, in denen sie, häufig auf der Grundlage eines „Schengen-Visums“, in Vorstellungen auftreten.

17.

Während mehrerer Jahre hat die SVB für Drittstaatsangehörige, die bei HOI angestellt waren, für die Dauer der Vorstellungssaison „A1‑Bescheinigungen“ erteilt, in jüngster Zeit nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009. Darin wird bescheinigt, dass auf die Angestellten die niederländischen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit Anwendung finden und die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge in den Niederlanden zu entrichten sind. Allerdings lehnte es die SVB seit der Saison 2015/2016 ab, den bei HOI angestellten Drittstaatsangehörigen A1‑Bescheinigungen zu erteilen, mit der Begründung, sie habe diese Bescheinigungen in der Vergangenheit zu Unrecht ausgestellt.

18.

Auch aufgrund einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen einstweiligen Verfügung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) erteilte die SVB nachträglich A1‑Bescheinigungen mit Gültigkeit bis zum 1. Mai 2016. Die Saison endet jedoch erst am 22. Mai 2016, so dass in Bezug auf diese letzten Wochen immer noch Streit besteht.

19.

Mit Urteil vom 28. April 2016 entschied die Rechtbank Amsterdam, dass die SVB A1‑Bescheinigungen mit Gültigkeit für die gesamte Saison, d. h. bis zum 22. Mai 2016, hätte ausstellen müssen.

20.

Die SVB legte beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein.

21.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts fallen Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht in den Geltungsbereich des Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, da sie weder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats noch Staatenlose oder Flüchtlinge seien. Sie könnten sich auf die Bestimmungen dieser Verordnung nur berufen, wenn sie in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1231/2010 fielen, deren Zweck darin bestehe, unter bestimmten Bedingungen den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung auf Drittstaatsangehörige auszudehnen.

22.

Es sei unstreitig, dass Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht dauerhaft in den Niederlanden oder in einem anderen Mitgliedstaat lebten, sondern dass sie sich im Sinne des Art. 1 Buchst. k der Verordnung Nr. 883/2004 vorübergehend in der Union aufhielten und arbeiteten. Vor diesem Hintergrund bestehe Unsicherheit, ob sich nur Drittstaatsangehörige, die sich in der Europäischen Union gewöhnlich aufhielten im Sinne des Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 oder auch Drittstaatsangehörige in der Situation von Herrn Balandin und Herrn Lukashenko auf Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 berufen könnten.

23.

Da Zweifel hinsichtlich der zutreffenden Auslegung des Unionsrechts bestanden, hat der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 dahin auszulegen, dass sich Drittstaatsangehörige mit Wohnsitz außerhalb der Europäischen Union, die für einen in den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber vorübergehend in verschiedenen Mitgliedstaaten arbeiten, auf die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (bzw. deren Titel II) berufen können?

24.

Im vorliegenden Verfahren haben Herr Balandin, Herr Lukashenko und HOI (gemeinsam im Folgenden: Balandin u. a.), die SVB, die niederländische, die tschechische und die französische Regierung sowie die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. Balandin u. a., die SVB, die niederländische Regierung und die Kommission haben auch in der Sitzung vom 4. Juli 2018 mündlich verhandelt.

III. Analyse

25.

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Drittstaatsangehörige in der Situation von Herrn Balandin und Herrn Lukashenko unter Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 und – durch Ausdehnung – die Richtlinie Nr. 883/2004 und ihre Durchführungsverordnung fallen.

26.

Zu dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht kam es, weil die SVB im nationalen Verfahren der Ansicht war, Herr Balandin und Herr Lukashenko fielen nicht unter die Verordnung Nr. 1231/2010. Im Lauf der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat sich die SVB jedoch der gegenteiligen Ansicht angeschlossen. Unter diesen Umständen könnte man sich fragen, ob noch ein wirklicher Streit besteht, wie er nach Art. 267 AEUV erforderlich ist.

27.

Für das Unionsrecht betreffende Fragen gilt eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, und die Schwelle für die Ablehnung einer Entscheidung über eine Vorlagefrage ist hoch: Sie ist nur überschritten, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 12 ). Daher bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage beantworten muss, es sei denn, das Vorabentscheidungsersuchen wird zurückgenommen.

28.

Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 enthält zwei Voraussetzungen für seine Anwendung. Drittstaatsangehörige, die von dieser Verordnung profitieren wollen, müssen, erstens, ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich, zweitens, in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft.

29.

In der vorliegenden Rechtssache ist unstreitig, dass Herr Balandin und Herr Lukashenko die zweite Voraussetzung erfüllen. Im Ausgangsverfahren ist die Frage strittig, ob Herr Balandin und Herr Lukashenko für die Zwecke der Verordnung Nr. 1231/2010 tatsächlich angesehen werden können, als hätten sie „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“.

30.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 enthält keine Definition für den Ausdruck „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben“, und eine solche Definition findet sich auch nicht in anderen Rechtsinstrumenten der Union. Meines Wissens hat der Gerichtshof nie zum Zweck der Anwendung dieser Verordnung (oder ihrer fast identisch formulierten Vorgängerin) eine solche Definition aufgestellt.

31.

Bisher hat der Gerichtshof das in Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 enthaltene Kriterium, dass Drittstaatsangehörige ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben müssen, nur indirekt in seiner Rechtsprechung zum zweiten Kriterium dieses Artikels angesprochen. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich klar, dass Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat einen Aufenthaltstitel besitzen, das Kriterium erfüllen ( 13 ).

32.

Herr Balandin und Herr Lukashenko besitzen jedoch keinen Aufenthaltstitel. Sie reisen in die Europäische Union auf der Grundlage eines Schengen-Visums ein, das ihnen erlaubt, für höchstens 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen rechtmäßig im Schengen-Gebiet zu verbleiben ( 14 ). Während es in der mündlichen Verhandlung nicht endgültig bestätigt werden konnte, scheint es, als würden diese Schengen-Visa durch nationale Visa ergänzt, um die gesamte Vorstellungssaison von Oktober bis Ende Mai abzudecken.

33.

Dementsprechend muss entschieden werden, ob Drittstaatsangehörige, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, angesehen werden können, als besäßen sie „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“, wenn sie nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, sondern sich auf der Grundlage von Visa für Kurzaufenthalte in der Europäischen Union aufhalten.

34.

In Übereinstimmung mit ständiger Rechtsprechung folgt aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und dem Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen ( 15 ).

35.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 enthält in Hinblick auf den Sinn der Begriffe „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben“ keinen Verweis auf nationales Recht. Daraus folgt, dass diese Wendung für die Anwendung der Verordnung Nr. 1231/2010 als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen ist, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist ( 16 ).

36.

Dies gilt, mutatis mutandis, auch für die Begriffe „Wohnort“ in Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 und „Aufenthalt“ in Art. 1 Buchst. k der gleichen Verordnung.

37.

Dies ist auch der Grund dafür, dass die Tatsache, dass, wie das vorlegende Gericht erwähnt, die verschiedenen Sprachversionen der Verordnung Nr. 1231/2010 ein wenig anders gefasst sind, keine Bedeutung für die vorliegende Beurteilung hat. Die Notwendigkeit einer autonomen und einheitlichen Auslegung erlaubt nicht die isolierte Betrachtung einer Textfassung, sondern gebietet eine Textauslegung auf der Grundlage des Zwecks der fraglichen Maßnahme ( 17 ).

38.

Angesichts der Tatsache, dass das Unionsrecht die Bedingungen für Einreise, Aufenthalt und Wohnsitz Drittstaatsangehöriger nicht vollständig harmonisiert hat, haben nach nationalen Immigrationsrecht begründete Kriterien gleichwohl Einfluss auf die Frage, ob die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Wohnsitz erfüllt sind. Es sollte allerdings betont werden, dass die rechtliche Qualifikation des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen nach nationalem Recht für die Beurteilung im Rahmen der Verordnung Nr. 1231/2010 nicht maßgeblich ist.

39.

Daraus folgt, dass die Situation von Herrn Balandin und Herrn Lukashenko einerseits, und die Situation der Drittstaatsangehörigen, die während der gesamten Wintersaison in den Niederlanden bleiben und unter die niederländische soziale Sicherung fallen, für die vorliegende Beurteilung nicht vergleichbar sind. Wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, findet unter Umständen, in denen nur ein Mitgliedstaat und ein Drittstaat betroffen sind, das Unionsrecht keine Anwendung, und Drittstaatsangehörige fallen nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1231/2010 ( 18 ). Die Situation solcher Drittstaatsangehöriger ist daher ausschließlich eine Angelegenheit des nationalen Rechts.

40.

Es folgt aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts in Ermangelung einer Definition in dem maßgeblichen Rechtsinstrument gebietet, nicht nur ihren Wortlaut, sondern auch den Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele des Regelwerks, zu dem sie gehört, zu berücksichtigen ( 19 ).

41.

Im Folgenden werden zuerst der Zusammenhang der Verordnung Nr. 1231/2010 und die Ziele des Regelwerks, zu dem sie gehört, untersucht. Auf der Grundlage dieser Analyse erfolgt in einem zweiten Schritt die Auslegung der Wendung „rechtmäßiger Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“, um zu bestimmen, ob Herr Balandin und Herr Lukashenko die Voraussetzungen für den rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat erfüllen.

A.   Der Zusammenhang der Verordnung Nr. 1231/2010 und die Ziele des Regelwerks, zu dem sie gehört

42.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 wurde als Teil eines umfassenden Gesetzgebungspakets erlassen, das die Vereinfachung und Modernisierung des rechtlichen Rahmens für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der Europäischen Union für Unionsbürger und Drittstaatsangehörige zum Ziel hatte.

43.

Der Wortlaut der Verordnung stimmt nahezu mit demjenigen der Vorgängerverordnung, der Verordnung Nr. 859/2003, überein. Während allerdings die ältere Verordnung Sonderbestimmungen zuließ, nach denen die Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich der Verordnung bis zu einem gewissen Grad begrenzen konnten, indem sie spezifische nationale Kriterien als Vorbedingungen verwendeten ( 20 ), wurden diese Ausnahmen mit der Verordnung Nr. 1231/2010 beseitigt.

44.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 dehnt, wie der Verordnungstitel angibt, die Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten, d. h. die Verordnung Nr. 883/2004 und ihre Durchführungsverordnung, auf Drittstaatsangehörige aus, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen.

45.

Um den Zusammenhang und die Ziele der Verordnung Nr. 1231/2010 richtig zu verstehen, muss die Verordnung daher unter Berücksichtigung der Verordnung Nr. 883/2004 betrachtet werden.

46.

Durch die Ausdehnung der Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung auf bestimmte Drittstaatsangehörige zielt die Verordnung Nr. 1231/2010 darauf ab, Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich die gleichen Rechte einzuräumen, die die Unionsbürger in Hinblick auf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nach der Verordnung Nr. 883/2004 besitzen ( 21 ).

47.

Beide Verordnungen gewährleisten, dass Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union ausüben, keine Nachteile in ihren Rechten der sozialen Sicherheit erleiden. Es sollte jedoch beachtet werden, dass die Verordnungen nicht zum Ziel haben, die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zu harmonisieren. Die Verordnungen legen vielmehr kollisionsrechtliche Regeln fest, die das Regime bestimmen, das auf den Schutz der sozialen Sicherung Anwendung findet ( 22 ). Dies soll nicht nur gewährleisten, dass Personen, die sich innerhalb der Europäischen Union frei bewegen, nicht ohne Schutz der sozialen Sicherheit bleiben, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind, sondern auch, dass sie jederzeit nur dem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats unterliegen ( 23 ).

48.

Die Verordnungen schaffen somit kein Recht auf soziale Sicherung als solches, sondern bestimmen vielmehr, welches Regime Anwendung findet. Die Koordinierungsregeln kommen daher nur zum Tragen, wenn jemand bereits dem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats angeschlossen ist. Es ist jedoch das nationale Recht, das die Bedingungen für einen solchen Anschluss bestimmt.

49.

Auch wenn die beiden Verordnungen im Wesentlichen die gleichen materiellen Regeln vorsehen, weichen sie jedoch in Hinblick auf ihren persönlichen Geltungsbereich erheblich voneinander ab. Die Verordnung Nr. 883/2004 findet auf alle Unionsbürger, Staatenlose und Flüchtlinge sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, die in einem Mitgliedstaat wohnen, Anwendung ( 24 ). Die Verordnung Nr. 1231/2010 findet hingegen auf Drittstaatsangehörige, sowie ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung ( 25 ).

50.

Warum also existieren zwei gesonderte Rechtsinstrumente, die das gleiche Ziel verfolgen?

51.

Ein erster Vorschlag für die Verordnung Nr. 883/2004 sah vor, dass die Verordnung auch auf Drittstaatsangehörige Anwendung finden sollte, solange sie ihren Wohnort in einem Mitgliedstaat hatten ( 26 ). Die Anwendung der gleichen Regeln auf Drittstaatsangehörige und Unionsbürger sollte vermeiden, dass die Behörden der Mitgliedstaaten mit rechtlich und verwaltungstechnisch komplexen Sachverhalten konfrontiert würden, die nur eine kleine Gruppe von Personen betrafen ( 27 ). Zusätzlich wurde es grundsätzlich als ungerecht betrachtet, dass Drittstaatsangehörige, die in einem der Mitgliedstaaten rechtmäßig arbeiteten und versichert waren, von dem Moment an, in dem sie eine der Grenzen innerhalb der Europäischen Union überquerten, anders behandelt würden als Unionsbürger ( 28 ).

52.

Allerdings ist die Verordnung Nr. 883/2004 auf das Recht der Freizügigkeit der Unionsbürger gestützt. Schon in den 1950er Jahren erkannte die Legislative der Europäischen Union, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union erheblich behindert würde, wenn diese Arbeitnehmer ihre Rechte der sozialen Sicherung nicht mit sich nehmen könnten ( 29 ). Da Drittstaatsangehörige nicht das gleiche Recht auf Freizügigkeit genießen, musste eine andere rechtliche Grundlage genutzt werden, um die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Drittstaatsangehörige auszudehnen ( 30 ). Anders als die Verordnung Nr. 883/2004 wurde die Verordnung Nr. 1231/2010 daher auf Art. 79 Abs. 2 Buchst. b AEUV gestützt.

53.

Art. 79 Abs. 2 AEUV ermächtigt die Europäische Union, die Rechte von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, einschließlich der Bedingungen, unter denen sie sich in den anderen Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen, festzulegen. Allerdings stellt Art. 79 Abs. 2 AEUV klar, dass diese Maßnahmen für die Zwecke des Art. 79 Abs. 1 AEUV erlassen werden dürfen, d. h. für die Zwecke der gemeinsamen Einwanderungspolitik, die eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel als Ziel hat ( 31 ).

54.

Die Migrationspolitik der Europäischen Union, zu der die Verordnung Nr. 1231/2010 gehört, ist ebenfalls auf Art. 79 AEUV gestützt. Diese Politik zielt darauf ab, Arbeitnehmer aus Drittstaaten anzuwerben und in den Arbeitsmarkt der EU‑Mitgliedstaaten zu integrieren, um den gegenwärtigen und zukünftigen Bedarf an Arbeitskräften zu decken und die nachhaltige Entwicklung aller Länder zu gewährleisten. Gleichzeitig hat die Migrationspolitik der Europäischen Union die Gewährleistung zum Ziel, dass Drittstaatsangehörige, die rechtmäßig in der Europäischen Union arbeiten, dies unter angemessenen Bedingungen und bei einem hohen sozialen Schutzniveau tun können. Die Politik hat jedoch nicht eine allgemeine Harmonisierung der Bedingungen für die Einreise, den Aufenthalt und den Wohnsitz von Drittstaatsangehörigen als Ziel ( 32 ).

55.

Im Zusammenhang mit der Verordnung Nr. 1231/2010 bedeutet dies, dass, während Drittstaatsangehörige das gleiche Recht auf Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit haben, die Anwendung der Koordinierungsvorschriften ihnen keine Berechtigung zur Einreise, zum Aufenthalt oder zur Wohnsitznahme in einem Mitgliedstaat oder zur dortigen Arbeitsaufnahme gewährt ( 33 ). Die betreffende Person muss bereits ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben ( 34 ).

56.

Dieses Wohnsitzkriterium muss allerdings nur im ersten Mitgliedstaat erfüllt sein. Um von der Koordinierung der sozialen Sicherheit in einem zweiten Mitgliedstaat zu profitieren, müssen die Bedingungen für einen rechtmäßigen Wohnsitz nicht nochmals für einen vorübergehenden Aufenthalt erfüllt sein. Haben Drittstaatsangehörige im ersten Mitgliedstaat den rechtmäßigen Aufenthaltsstatus erlangt, können sie einfach in einen zweiten Mitgliedstaat umziehen, soweit sie die nationalen Vorschriften dieses Landes zur Einreise und zum Aufenthalt beachten ( 35 ). Der rechtmäßige Aufenthaltsstatus wird sozusagen in einen zweiten Mitgliedstaat „exportiert“.

57.

Es sollte jedoch beachtet werden, dass dieser Status nur exportiert werden kann, solange er im ersten Mitgliedstaat besteht.

58.

Die Wendung „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben“ in der Verordnung Nr. 1231/2010 muss unter Beachtung der vorstehenden Erwägungen ausgelegt werden.

B.   Die Bedeutung des Ausdrucks „rechtmäßiger Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ in der Verordnung Nr. 1231/2010

59.

In ihren schriftlichen Erklärungen haben die Beteiligten in der vorliegenden Rechtssache den Schwerpunkt ihrer Erörterungen auf die Frage gelegt, ob die Auslegung des Begriffs „rechtmäßiger Wohnsitz“ für die Zwecke der Verordnung Nr. 1231/2010 auf den in der Verordnung Nr. 883/2004 definierten Begriff „Wohnort“ gestützt werden sollte. Alle Beteiligten und das vorlegende Gericht haben es als erwiesen angesehen, dass die Anwesenheit der betroffenen Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaaten auf jeden Fall rechtmäßig war.

60.

In Übereinstimmung mit Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004, bezeichnet „Wohnort“„den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person“.

61.

Art. 11 der Durchführungsverordnung zur Verordnung Nr. 883/2004, die die vorangegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs konsolidiert, bestimmt ferner, dass sich der Wohnort für die Zwecke der Verordnung Nr. 883/2004 am „Mittelpunkt der Interessen“ der betreffenden Person befindet. Die Bestimmung des Mittelpunkts der Interessen umfasst eine Gesamtbewertung aller Umstände unter Berücksichtigung etwa der Dauer des Aufenthalts, jeglicher ausgeübten Tätigkeit, der familiären Verhältnisse und familiären Bindungen, jeder nicht bezahlten Tätigkeit, der Wohnsituation oder des steuerlichen Wohnsitzes ( 36 ). Wo die Beurteilung dieser Kriterien nicht zu einem endgültigen Ergebnis führt, gilt der Wille der Person, wie er sich aus den Fakten und Umständen erkennen lässt, bei der Bestimmung des tatsächlichen Wohnorts dieser Person als ausschlaggebend.

62.

Der „Wohnort“ in der Verordnung Nr. 883/2004 ist somit ein im tatsächlichen Sinne zu verstehender Begriff.

63.

Das liegt daran, dass die Unionsbürger nach Unionsrecht das allgemeine Recht genießen, sich innerhalb aller Mitgliedstaaten frei aufzuhalten und zu bewegen. Rechtlich gesehen darf im Verhältnis zwischen einem Unionsbürger und einem bestimmten Mitgliedstaat keine Unterscheidung vorgenommen werden, ohne die Staatsangehörigkeit des Betreffenden zu berücksichtigen. Ein Unionsbürger hat im Allgemeinen das Recht, sich in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufzuhalten. Das Ziel der Verordnung Nr. 883/2004 ist somit nicht die Bestimmung, ob die Unionsbürger ein Recht auf Koordinierung ihrer Sozialversicherungsrechte besitzen, sondern die Bestimmung des Mitgliedstaats, zu dem sie tatsächlich die engsten Bindungen haben. In ähnlicher Weise genießen Staatenlose und Flüchtlinge gestützt auf internationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten einen solchen Rechtsanspruch und wurden daher in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 einbezogen ( 37 ).

64.

Im Gegensatz dazu genießen Drittstaatsangehörige kein allgemeines Recht darauf, sich innerhalb der Mitgliedstaaten frei aufzuhalten und zu bewegen. Dementsprechend haben sie keine allgemeine Berechtigung auf eine „exportierbare“ soziale Sicherung.

65.

Die Verordnung Nr. 1231/2010 hat somit zum Ziel, vorab zu bestimmen, ob ein Drittstaatsangehöriger nach Unionsrecht das Recht auf Koordinierung seiner Sozialversicherungsrechte hat. Wie der Begriff nahelegt, handelt es sich bei dem „rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat“ um einen Rechtsbegriff. Die Definition des im tatsächlichen Sinne zu verstehenden Wohnortbegriffs in der Verordnung Nr. 883/2004 kann daher keine Bedeutung für die Auslegung des Ausdrucks „rechtmäßiger Wohnsitz in einem Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 1231/2010 haben. Es ist die rechtliche Einordnung der Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaaten nach Unionsrecht, die bestimmt werden muss.

66.

Daraus folgt, dass die Begriffe „rechtmäßiger Wohnsitz in einem Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010, „Wohnort“, wie er in Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 definiert ist, und „Aufenthalt“, der in Art. 1 Buchst. k der Verordnung Nr. 883/2004 als „vorübergehender Aufenthalt“ definiert ist, im Unionsrecht drei verschiedene Rechtsbegriffe sind ( 38 ).

67.

In Ermangelung einer Definition des „rechtmäßigen Wohnsitzes“ in der Verordnung Nr. 1231/2010 sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden ( 39 ).

68.

Wie oben in Rn. 52 angedeutet, soll die Verordnung Nr. 883/2004 die Rechte der sozialen Sicherheit für diejenigen koordinieren, die von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch machen. Drittstaatsangehörige kommen jedoch nicht allgemein in den Genuss der Freiheit, sich in der Europäischen Union zu bewegen und aufzuhalten. Ihr Recht, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten, gründet sich vielmehr stets auf ausdrückliche rechtliche Bestimmungen, die ein solches Recht verleihen. In Ermangelung einer vollständigen Harmonisierung können derartige Bestimmungen entweder aus dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht stammen.

69.

Im Unionsrecht gibt es eine Reihe von Instrumenten, auf die das Recht von Drittstaatsangehörigen, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, gestützt werden kann. Für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache dürfte es jedoch genügen, sich auf die Instrumente zu konzentrieren, die Drittstaatsangehörige behandeln, die wie Herr Balandin und Herr Lukashenko einer Erwerbstätigkeit nachgehen ( 40 ).

70.

Die Richtlinie über die Blaue Karte ( 41 ) und die Richtlinie über unternehmensinterne Transfers ( 42 ) sehen beide für Drittstaatsangehörige ausdrücklich das Recht vor, sich auf unionsrechtlicher Basis in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Jeder Drittstaatsangehörige, der sich auf der Grundlage dieser unionsrechtlichen Instrumente in der Europäischen Union aufhält, ist daher so zu behandeln, dass er einen „rechtmäßigen Wohnsitz“ im Sinne der Verordnung Nr. 1231/2010 hat. Das Gleiche gilt für jedes Assoziierungsabkommen, das Vorschriften über das Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, enthält. Die Richtlinie über Saisonarbeitnehmer erlaubt Drittstaatsangehörigen zwar, vorübergehend in der Europäischen Union zu arbeiten, sieht jedoch kein derartiges Recht vor und schließt Drittstaatsangehörige, die sich in der Europäischen Union aufhalten, ausdrücklich aus ( 43 ). Daher ist bei Drittstaatsangehörigen, die sich auf der Grundlage dieses unionsrechtlichen Instruments in der Europäischen Union aufhalten, sicher nicht anzunehmen, dass sie einen „rechtmäßigen Wohnsitz“ im Sinne der Verordnung Nr. 1231/2010 haben ( 44 ).

71.

Auf der anderen Seite kann das Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, auch von einem auf nationalem Recht beruhenden Rechtsstatus abgeleitet werden. Allerdings können die Kriterien für einen solchen Status von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erhebliche Unterschiede aufweisen, da die Mitgliedstaaten allein dafür zuständig sind, die Zulassung – einschließlich ihres Umfangs – von Drittstaatsangehörigen für Beschäftigungszwecke zu regeln, und die Bedingungen für Einreise, Aufenthalt und Wohnsitz von Drittstaatsangehörigen nicht vollständig harmonisiert sind. Meines Erachtens folgt daher zwangsläufig aus der Gesamtstruktur und dem Zusammenhang der gegenständlichen Rechtsvorschriften sowie dem Ziel, die Kontrolle des Rechtsstatus von Drittstaatsangehörigen zu erleichtern, dass dieser Status durch einen Aufenthaltstitel bescheinigt sein muss ( 45 ). Nach der Verordnung über den einheitlichen Aufenthaltstitel ist ein „Aufenthaltstitel“ im Sinne des Unionsrechts „jede von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Erlaubnis, die einen Drittstaatenangehörigen zum rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats berechtigt, mit Ausnahme von [u. a.] Visa“ ( 46 ).

72.

Angesichts der Tatsache, dass Drittstaatsangehörige nicht das Recht genießen, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten, kann ich mir über die in den Nrn. 69 bis 71 beschriebenen Situationen hinaus keine Situation vorstellen, in der ein drittstaatsangehöriger Arbeitnehmer angesehen würde, als habe er für die Zwecke der Verordnung Nr. 1231/2010 einen rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.

73.

Herrn Balandin und Herrn Lukashenko wurde die Einreise in die Niederlande in Übereinstimmung mit dem Schengen‑Visakodex und, soweit den nationalen Verfahrensakten zu entnehmen ist, die dem Gerichtshof zur Verfügung gestellt wurden, den nationalen Visaregeln erlaubt. Sie verfügen auch für die Zeit von Oktober bis Mai über einen Anstellungsvertrag mit HOI.

74.

Können sie für die Zwecke der Verordnung Nr. 1231/2010 so behandelt werden, als hätten sie „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“?

75.

Ich glaube nicht.

76.

Erstens besitzen Herr Balandin und Herr Lukashenko keine auf die in Nr. 70 oder Fn. 40 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten speziellen unionsrechtlichen Instrumente gestützten Aufenthaltstitel.

77.

Zweitens können sie nicht so behandelt werden, als hätten sie einen auf die Kriterien des nationalen Rechts gestützten Aufenthaltstitel, da Visa nicht als „Aufenthaltstitel“ im Sinne des Unionsrechts gelten ( 47 ).

78.

Drittens kann die Anwesenheit von Herrn Balandin und Herrn Lukashenko in den Niederlanden ohnehin nur für den Zeitraum rechtmäßig sein, in dem ihnen das dortige Verbleiben erlaubt ist. Da einer der Grundsätze der Verordnung Nr. 1231/2010 besagt, dass der rechtmäßige Wohnsitz vom ersten Mitgliedstaat in andere Mitgliedstaaten „exportiert“ wird ( 48 ), muss bei den Drittstaatsangehörigen angenommen werden, dass sie während des gesamten Zeitraums, der abgedeckt werden soll, einen rechtmäßigen Wohnsitz im ersten Mitgliedstaat haben. Selbst wenn man einer freieren Auslegung des „rechtmäßigen Wohnsitzes“ folgte, würde dieser gestützt auf ihre Schengen‑Visa nur für eine Höchstdauer von 90 Tagen bestehen. In dieser Beziehung reicht es nicht aus, dass sich Herr Balandin und Herr Lukashenko in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig aufhalten könnten. Kann nach den Umständen ein rechtmäßiger Wohnsitz nicht exportiert werden, müssen die Erfordernisse eines rechtmäßigen Wohnsitzes im nächsten Mitgliedstaat erfüllt sein.

79.

Daraus folgt, dass Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und dass sie daher nicht von der Verordnung Nr. 1231/2010 erfasst werden.

80.

Entgegen dem Vorbringen der SVB und der niederländischen Regierung in der Sitzung können Herr Balandin und Herr Lukashenko auch nicht aufgrund des Sitzes von HOI in den Niederlanden so angesehen werden, als hätten sie „ihren rechtmäßigen Wohnsitz“ im Sinne der Verordnung Nr. 1231/2010 in den Niederlanden. Auch wenn dies ausreichen mag, um einen Wohnort nach der Verordnung Nr. 883/2004 zu begründen, müssen die zwei Eiskunstläufer zuerst die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 1231/2010 erfüllen, damit die Vorschriften der ersteren Verordnung überhaupt auf sie ausgedehnt werden.

81.

Ich möchte hinzufügen, dass die Berufung auf den Arbeitsplatz im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004, um den Rechtsstatus eines Drittstaatsangehörigen zu begründen, voraussetzen würde, dass die betroffene Person tatsächlich eine Arbeitserlaubnis in dem betreffenden Mitgliedstaat besitzt. Soweit in der Sitzung festgestellt werden konnte, arbeiten Herr Balandin und Herr Lukashenko in den Niederlanden ohne Arbeitserlaubnis, da sie sich auf eine Ausnahme verlassen, die Künstlern erlaubt, innerhalb jedes Zeitraums von 13 Wochen für bis zu sechs Wochen in den Niederlanden zu arbeiten. Lässt man für einen Moment die Frage außer Acht, ob diese Ausnahme tatsächlich auf Künstler Anwendung finden kann, die einer einträglichen Beschäftigung nachgehen, könnten Herr Balandin und Herr Lukashenko selbst in dem Fall, dass sie sich zur Begründung ihres rechtmäßigen Wohnsitzes in einem Mitgliedstaat auf ihren Arbeitsplatz berufen könnten, nur für höchstens sechs Wochen als in den Niederlanden beschäftigt angesehen werden.

82.

Entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung können Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht aufgrund einer Parallele zur Richtlinie über Saisonarbeitnehmer als unter die Verordnung Nr. 1231/2010 fallend angesehen werden. Diese Verordnung schließt nicht nur ausdrücklich einen Aufenthalt in der Europäischen Union aus, sondern auch Drittstaatsangehörige, die für Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags Tätigkeiten ausführen ( 49 ).

83.

Letztlich wird die Feststellung, dass Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1231/2010 fallen, durch die Bedingungen und die Verfahren gestützt, die auf Schengen‑Visa Anwendung finden. Art. 15 des Schengen‑Visakodex verlangt, dass die Antragsteller eines Visums für mehrfache Einreisen nachweisen, dass sie im Besitz einer angemessenen und gültigen Reisekrankenversicherung sind ( 50 ). Grundsätzlich haben Antragsteller diese Versicherung in ihrem Wohnsitzstaat abzuschließen ( 51 ). Darüber hinaus erklären Antragsteller im Rahmen ihrer Visaanträge, dass sie nicht beabsichtigen, in der Europäischen Union einen Wohnsitz zu begründen, und sie in ihrem Herkunftsstaat ausreichend verankert sind, um ihre Rückkehr zu gewährleisten.

84.

Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 dahin auszulegen ist, dass sich Drittstaatsangehörige, die in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union für einen in den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber arbeiten, aber keinen Aufenthaltstitel nach dem Unionsrecht oder nach nationalem Recht besitzen, nicht auf die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (bzw. deren Titel II) berufen können.

85.

Balandin u. a. tragen vor, die Anwendung der Verordnung Nr. 1231/2010 auf die Situation von Herrn Balandin und Herrn Lukashenko sei unerlässlich, damit HOI ihre Dienste in anderen Mitgliedstaaten erbringen könne. Daher werde ich in einem letzten Schritt prüfen, ob die Dienstleistungsfreiheit von HOI irgendeine Auswirkung auf die Auslegung des Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 hat.

C.   Hat die Dienstleistungsfreiheit von HOI irgendeine Auswirkung auf die Auslegung des Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010?

86.

In der mündlichen Verhandlung hat die SVB Balandin u. a. in ihrem Vorbringen unterstützt, Herr Balandin und Herr Lukashenko müssten so angesehen werden, dass sie in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1231/2010 fielen, da andernfalls die Dienstleistungsfreiheit von HOI in der Europäischen Union behindert werde. Die SVB berief sich in dieser Hinsicht ausdrücklich auf das Urteil Vander Elst des Gerichtshofs.

87.

In diesem Urteil entschied der Gerichtshof, die Dienstleistungsfreiheit, die nunmehr durch Art. 56 AEUV garantiert wird, verlange die Aufhebung aller Beschränkungen, die geeignet seien, die Tätigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden, der dort rechtmäßig gleichartige Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden oder zu behindern ( 52 ).

88.

Hier sind einige Anmerkungen angebracht.

89.

Erstens ist die Rechtssache Vander Elst in der vorliegenden Rechtssache nicht maßgeblich. Das Urteil in der Rechtssache Vander Elst und die sich aus dieser Rechtssache ergebende Rechtsprechung behandelten Arbeitnehmer, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt worden waren. Vor allem erfüllten die Arbeitnehmer die rechtlichen Erfordernisse für Wohnsitz und Beschäftigung im Entsendungsstaat ( 53 ). Die dem Gerichtshof vorliegende Rechtsfrage war eher, ob Arbeitnehmer die in einen Zielstaat entsandt wurden, Zugang zu dessen Arbeitsmarkt gewannen und ob der Zielstaat, wäre dies der Fall, zusätzliche Bedingungen aufstellen konnte ( 54 ).

90.

Zweitens hat HOI die Möglichkeit, für Herrn Balandin und Herrn Lukashenko Aufenthaltstitel nach der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis zu erhalten ( 55 ). Sobald Herr Balandin und Herr Lukashenko Aufenthaltstitel besitzen, fallen sie in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1231/2010. Gestützt auf eine solche Erlaubnis könnten sie dann von den Niederlanden in andere Mitgliedstaaten entsandt werden, in denen sie auftreten, und dementsprechend von den Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004 und ihrer Durchführungsverordnung profitieren.

91.

Drittens liegt eine Konsequenz dessen, dass HOI eine Kombination von Ausnahmen nach dem Unionsrecht und dem nationalen Recht nutzt, darin, dass sich Herr Balandin und Herr Lukashenko nicht auf gewisse Rechte berufen können, die sie andernfalls nach Unionsrecht, z. B. nach der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis, genießen würden, wie vor allem die Rechte auf Gleichbehandlung bezüglich der Arbeitsbedingungen, einschließlich Arbeitsentgelt und Entlassung sowie Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz ( 56 ). Es wäre absurd, wenn die Berufung auf eine der vier Grundfreiheiten des Unionsrechts dazu genutzt werden könnte, eines der Hauptziele, das von der Europäischen Union im Rahmen der Arbeitsmigrationspolitik und durch die Verordnung Nr. 1231/2010 verfolgt wird, nämlich das Ziel, Drittstaatsangehörigen Rechte und Pflichten zuzuerkennen, die mit denen der Unionsbürger vergleichbar sind, zu umgehen ( 57 ). Hinzu kommt, dass ein Instrument des Unionsrechts nicht so ausgelegt werden sollte, dass der Missbrauch von Rechten, die das Unionsrecht garantiert, ermöglicht wird ( 58 ).

92.

Daraus folgt das Ergebnis, dass die Dienstleistungsfreiheit von HOI innerhalb der Europäischen Union keine Auswirkungen auf die Auslegung des Art. 1 der Verordnung Nr. 1231/2010 hat.

IV. Ergebnis

93.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Ausdehnung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen, ist dahin auszulegen, dass sich Drittstaatsangehörige, die in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union für einen in den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber arbeiten, aber keinen Aufenthaltstitel nach dem Unionsrecht oder nach nationalem Recht besitzen, nicht auf die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (bzw. deren Titel II) berufen können.


( 1 ) Originalsprache: Englisch

( 2 ) Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Ausdehnung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen (ABl. 2010, L 344, S. 1).

( 3 ) Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1).

( 4 ) Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1).

( 5 ) Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 des Rates vom 13. Juni 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige (ABl. 2002, L 157, S. 1).

( 6 ) Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (ABl. 2011, L 343, S. 1).

( 7 ) Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen (ABl. 2003, L 124, S. 1).

( 8 ) Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).

( 9 ) Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2).

( 10 ) Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1972, L 74, S. 1).

( 11 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. 2012, L 149, S. 4).

( 12 ) Vgl. Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch mit Bezug auf künstliche Rechtssachen Urteile vom 11. März 1980, Foglia (104/79, EU:C:1980:73), und vom 16. Dezember 1981, Foglia (244/80, EU:C:1981:302). Darüber hinaus vgl. Urteil vom 9. Februar 1995, Leclerc-Siplec (C‑412/93, EU:C:1995:26, Rn. 14), mit dem der Gerichtshof entschied, dass der Umstand, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens über das angestrebte Ergebnis einig sind, nichts daran ändert, dass der Rechtsstreit tatsächlich besteht.

( 13 ) Vgl. Urteile vom 21. Juni 2017, Martinez Silva (C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 27), vom 13. Juni 2013, Hadj Ahmed (C‑45/12, EU:C:2013:390, Rn. 12 und 31), und vom 18. November 2010, Xhymshiti (C‑247/09, EU:C:2010:698, Rn. 29).

( 14 ) Vgl. Art. 1 Abs. 1 des Schengen-Visakodex.

( 15 ) Vgl. Urteil vom 19. September 2013, Brey (C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja (C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 17 ) Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 12. Dezember 2013, X (C‑486/12, EU:C:2013:836, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Vgl. z. B. Urteile vom 13. Juni 2013, Hadj Ahmed (C‑45/12, EU:C:2013:390, Rn. 32), und vom 18. November 2010, Xhymshiti (C‑247/09, EU:C:2010:698, Rn. 37).

( 19 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 1982, Cifit u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 20). Vgl. auch Urteile vom 2. September 2010, Kirin Amgen (C‑66/09, EU:C:2010:484, Rn. 41und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja (C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) Vgl. Anhang der Verordnung Nr. 859/2003.

( 21 ) Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. […] auf Drittstaatsangehörige, die nicht bereits ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit unter diese Bestimmungen fallen (KOM[2007] 439 endgültig), Begründung, S. 2, Abschnitt 1, Hintergrund des Vorschlags). Vgl. auch Ratsdokument Nr. 14762/01, 2392. Tagung des Rates – Beschäftigung und Sozialpolitik – am 3. Dezember 2001 in Brüssel, S. 7 und 8, und Europäischer Rat, Tampere, 15./16. Oktober 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Punkt 21.

( 22 ) Vgl. Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (KOM[1998] 779 endg.), S. 1.

( 23 ) Vgl. Urteile vom 11. September 2014, B. (C‑394/13, EU:C:2014:2199, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 5. Juni 2014, I (C‑255/13, EU:C:2014:1291, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 24 ) Vgl. Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004.

( 25 ) Vgl. Art. 1 Verordnung Nr. 1231/2010.

( 26 ) Vgl. Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (KOM[1998] 779 endg.), S. 2 und 3.

( 27 ) Vgl. in diesem Sinne achter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1231/2010.

( 28 ) Vgl. Ratsdokument Nr. 12296/01, ADD 2, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Parameter für die Modernisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 = Begründung, S. 11.

( 29 ) Vgl. Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, Nr. 30, S. 561) und Ratsdokument Nr. 12296/01, ADD 1, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Parameter für die Modernisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 = Text der Parameter, S. 3.

( 30 ) Vgl. Ratsdokument Nr. 12296/01, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Parameter für die Modernisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, S. 4, mit Verweis auf das Urteil vom 11. Oktober 2001, Khalil u. a. (C‑95/99 bis C‑98/99 und C‑180/99, EU:C:2001:532).

( 31 ) Vgl. Urteil vom 18. Dezember 2014, Vereinigtes Königreich/Rat (C‑81/13, EU:C:2014:2449, Rn. 41 und 42).

( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Ratsdokument Nr. 16879/1/06, Europäischer Rat, Brüssel, 14./15. Dezember 2006, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, S. 6 bis 12, und die dort aufgeführten Dokumente, sowie den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. […] auf Drittstaatsangehörige, die nicht bereits ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit unter diese Bestimmungen fallen (KOM[2007] 439 endgültig).

( 33 ) Vgl. zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1231/2010.

( 34 ) Vgl. elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1231/2010.

( 35 ) Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. […] auf Drittstaatsangehörige, die nicht bereits ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit unter diese Bestimmungen fallen (KOM[2007] 439 endgültig), Begründung, S. 5.

( 36 ) Vgl. Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009.

( 37 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Oktober 2001, Khalil u. a. (C‑95/99 bis C‑98/99 und C‑180/99, EU:C:2001:532, Rn. 39 bis 58).

( 38 ) Dies gilt, selbst wenn in einigen Sprachen, wie der niederländischen, die gleiche oder eine täuschend ähnliche Terminologie für die drei Begriffe verwendet wird.

( 39 ) Urteil vom 2. September 2010, Kirin Amgen (C‑66/09, EU:C:2010:484, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 40 ) Andere Beispiele sind die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77), die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) oder die Richtlinie (EU) 2016/801 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit (ABl. 2016, L 132, S. 21).

( 41 ) Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (ABl. 2009, L 155, S. 17), Art. 18.

( 42 ) Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers (ABl. 2014, L 157, S. 1), Art. 20.

( 43 ) Vgl. Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer (ABl. 2014, L 95, S. 375), Art. 2.

( 44 ) Obwohl sie nicht so behandelt werden, als hätten sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der Europäischen Union, können Saisonarbeiter gleichwohl von der Deckung durch die soziale Sicherheit profitieren. Als Ausnahme wird dieses Recht auf soziale Sicherheit ausdrücklich in Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie über Saisonarbeitnehmer gegründet. In ähnlicher Weise bestehen andere Instrumente des Unionsrechts und sogar Vorschriften des nationalen Rechts, die ausdrücklich Deckung durch die soziale Sicherung vorsehen, wo betroffene Drittstaatsangehörige nicht angesehen werden können, als hätten sie für Zwecke der Verordnung Nr. 1231/2010 „ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“.

( 45 ) Vgl. in diesem Sinne Erwägungsgründe 3 und 6 der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis.

( 46 ) Vgl. Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung über Aufenthaltstitel. Dies schließt auch einen nach der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis ausgestellten Titel ein.

( 47 ) Vgl. Art. 1 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung über Aufenthaltstitel.

( 48 ) Vgl. oben, Nrn. 56 und 57.

( 49 ) Vgl. Art. 2 Abs. 1 und 3 Buchst. a der Richtlinie über Saisonarbeitnehmer.

( 50 ) Vgl. Art. 15 Abs. 2 des Schengen-Visakodex.

( 51 ) Vgl. Art. 15 Abs. 4 des Schengen-Visakodex.

( 52 ) Vgl. Urteil vom 9. August 1994, Vander Elst (C‑43/93, EU:C:1994:310, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 53 ) Vgl. z. B. Urteil vom 9. August 1994, Vander Elst (C‑43/93, EU:C:1994:310, Rn. 3).

( 54 ) Urteil vom 9. August 1994, Vander Elst (C‑43/93, EU:C:1994:310, Rn. 11). Vgl. auch Urteil vom 11. September 2014, Essent Energie Productie (C‑91/13, EU:C:2014:2206, Rn. 51 bis 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. in diesem Sinne auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Danieli & C. Officine Meccaniche u. a. (C‑18/17, EU:C:2018:288, Nrn. 85 bis 95).

( 55 ) Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis.

( 56 ) Vgl. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie über die kombinierte Erlaubnis.

( 57 ) Vgl. zweiter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1231/2010.

( 58 ) Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2005:200, Nr. 69).