SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 13. September 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑264/17

Harry Mensing

gegen

Finanzamt Hamm

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Münster [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 314 und 316 – Sonderregelungen – Steuerpflichtige Wiederverkäufer – Differenzbesteuerung – Lieferung von Kunstgegenständen durch ihre Urheber oder deren Rechtsnachfolger – Innergemeinschaftliche Umsätze – Recht auf Vorsteuerabzug“

Einleitung

1.

Wenn ein mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz Gegenstände betrifft, deren Preis bereits die auf früheren Vermarktungsstufen angefallene Vorsteuer enthält, ohne dass diese abgezogen werden kann, wie dies bei wiederholt vermarkteten Gegenständen, z. B. Kunstgegenständen, oft vorkommt, garantiert die normale Steuerregelung nicht die Einhaltung des wichtigsten Grundsatzes dieser Steuer, und zwar des Grundsatzes ihrer Neutralität für die Steuerpflichtigen. Aus diesem Grund hat der Unionsgesetzgeber eine steuerliche Sonderregelung eingeführt, die es erlaubt, nur die Handelsspanne des Steuerpflichtigen zu besteuern, d. h. den auf der betreffenden Vermarktungsstufe erzeugten Mehrwert. Zwar scheinen die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts für sich genommen völlig eindeutig zu sein, doch führt ihre kumulative Anwendung nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen. Doch ist das ein hinreichender Grund, um sie in manchen Situationen überhaupt nicht anzuwenden? Diese Frage wird der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache beantworten müssen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

2.

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ( 2 ) bestimmt:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)

Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

b)

der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt

i)

durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder durch eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher handelt, für den die Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen gemäß den Artikeln 282 bis 292 nicht gilt und der nicht unter Artikel 33 oder 36 fällt;

d)

die Einfuhr von Gegenständen.“

3.

Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert die Lieferung von Gegenständen als „Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.

4.

Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen wird in Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 definiert, in dem es heißt:

„Als ‚innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen‘ gilt die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird.“

5.

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden[,] von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“

6.

In Art. 168 dieser Richtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

c)

die Mehrwertsteuer, die für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i geschuldet wird;

e)

die Mehrwertsteuer, die für die Einfuhr von Gegenständen in diesem Mitgliedstaat geschuldet wird oder entrichtet worden ist.“

7.

Art. 169 Buchst. b dieser Richtlinie bestimmt:

„Über den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 hinaus hat der Steuerpflichtige das Recht, die in jenem Artikel genannte Mehrwertsteuer abzuziehen, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

b)

für seine Umsätze, die gemäß den Artikeln 138 … befreit sind“.

8.

Titel XII Kapitel 4 der Richtlinie 2006/112 stellt Sonderregelungen für Gebraucht- und Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten auf. In Art. 311 Abs. 1 Nrn. 2 und 5 der Richtlinie heißt es:

„Für die Zwecke dieses Kapitels gelten unbeschadet sonstiger Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts folgende Begriffsbestimmungen:

2.

‚Kunstgegenstände‘ sind die in Anhang IX Teil A genannten Gegenstände;

5.

‚steuerpflichtiger Wiederverkäufer‘ ist jeder Steuerpflichtige, der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zum Zwecke des Wiederverkaufs Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten kauft, seinem Unternehmen zuordnet oder einführt, gleich, ob er auf eigene Rechnung oder aufgrund eines Einkaufs- oder Verkaufskommissionsvertrags für fremde Rechnung handelt;

…“

9.

Unterabschnitt 1 des Abschnitts 2 dieses Kapitels der Richtlinie 2006/112 regelt die Differenzbesteuerung für steuerpflichtige Wiederverkäufer. Die Art. 312 bis 317 sowie Art. 319 dieser Richtlinie lauten:

„Artikel 312

Für die Zwecke dieses Unterabschnitts gelten folgende Begriffsbestimmungen:

1.   ‚Verkaufspreis‘ ist die gesamte Gegenleistung, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Erwerber oder von einem Dritten erhält oder zu erhalten hat, einschließlich der unmittelbar mit dem Umsatz zusammenhängenden Zuschüsse, Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben sowie der Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer dem Erwerber in Rechnung stellt, mit Ausnahme der in Artikel 79 genannten Beträge;

2.   ‚Einkaufspreis‘ ist die gesamte Gegenleistung gemäß der Begriffsbestimmung unter Nummer 1, die der Lieferer von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält oder zu erhalten hat.

Artikel 313

(1)   Die Mitgliedstaaten wenden auf die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch steuerpflichtige Wiederverkäufer eine Sonderregelung zur Besteuerung der von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielten Differenz (Handelsspanne) gemäß diesem Unterabschnitt an.

Artikel 314

Die Differenzbesteuerung gilt für die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer, wenn ihm diese Gegenstände innerhalb der Gemeinschaft von einer der folgenden Personen geliefert werden:

a)

von einem Nichtsteuerpflichtigen;

b)

von einem anderen Steuerpflichtigen, sofern die Lieferungen des Gegenstands durch diesen anderen Steuerpflichtigen gemäß Artikel 136 von der Steuer befreit ist;

c)

von einem anderen Steuerpflichtigen, sofern für die Lieferung des Gegenstands durch diesen anderen Steuerpflichtigen die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen gemäß den Artikeln 282 bis 292 gilt und es sich dabei um ein Investitionsgut handelt;

d)

von einem anderen steuerpflichtigen Wiederverkäufer, sofern die Lieferung des Gegenstands durch diesen anderen steuerpflichtigen Wiederverkäufer gemäß dieser Sonderregelung mehrwertsteuerpflichtig ist.

Artikel 315

Die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen nach Artikel 314 ist die von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne), abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer.

Die Differenz (Handelsspanne) des steuerpflichtigen Wiederverkäufers entspricht dem Unterschied zwischen dem von ihm geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gegenstands.

Artikel 316

(1)   Die Mitgliedstaaten räumen den steuerpflichtigen Wiederverkäufern das Recht ein, die Differenzbesteuerung bei der Lieferung folgender Gegenstände anzuwenden:

a)

Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten, die sie selbst eingeführt haben;

b)

Kunstgegenstände, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden;

c)

Kunstgegenstände, die ihnen von einem Steuerpflichtigen, der kein steuerpflichtiger Wiederverkäufer ist, geliefert wurden, wenn auf die Lieferung dieses anderen Steuerpflichtigen gemäß Artikel 103 der ermäßigte Steuersatz angewandt wurde.

Artikel 317

Macht ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer von der Option des Artikels 316 Gebrauch, wird die Steuerbemessungsgrundlage gemäß Artikel 315 ermittelt.

Bei der Lieferung von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer selbst eingeführt hat, ist der für die Berechnung der Differenz zugrunde zu legende Einkaufspreis gleich der gemäß den Artikeln 85 bis 89 ermittelten Steuerbemessungsgrundlage bei der Einfuhr zuzüglich der für die Einfuhr geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer.

Artikel 319

Der steuerpflichtige Wiederverkäufer kann auf jede der Differenzbesteuerung unterliegende Lieferung die normale Mehrwertsteuerregelung anwenden.“

10.

Die Grundsätze des Vorsteuerabzugsrechts steuerpflichtiger Wiederverkäufer sind in den Art. 320 und 322 der Richtlinie 2006/112 geregelt. Diese bestimmen:

„Artikel 320

(1)   Wendet der steuerpflichtige Wiederverkäufer die normale Mehrwertsteuerregelung an, ist er berechtigt, bei der Lieferung eines von ihm selbst eingeführten Kunstgegenstands, Sammlungsstücks oder einer Antiquität die für die Einfuhr dieses Gegenstands geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen.

Wendet der steuerpflichtige Wiederverkäufer die normale Mehrwertsteuerregelung an, ist er berechtigt, bei der Lieferung eines Kunstgegenstands, der ihm von seinem Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern oder von einem Steuerpflichtigen, der kein steuerpflichtiger Wiederverkäufer ist, geliefert wurde, die von ihm dafür geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen.

Artikel 322

Sofern die Gegenstände für Lieferungen verwendet werden, die der Differenzbesteuerung unterliegen, darf der steuerpflichtige Wiederverkäufer von seiner Steuerschuld folgende Beträge nicht abziehen:

a)

die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer auf von ihm selbst eingeführte Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten;

b)

die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer auf Kunstgegenstände, die ihm vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert werden;

c)

die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer auf Kunstgegenstände, die ihm von einem Steuerpflichtigen geliefert werden, der kein steuerpflichtiger Wiederverkäufer ist.“

11.

In Art. 342 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können hinsichtlich des Rechts auf Vorsteuerabzug Maßnahmen treffen, um zu verhindern, dass steuerpflichtigen Wiederverkäufern, die unter eine der Regelungen des Abschnitts 2 fallen, ungerechtfertigte Vor- oder Nachteile entstehen.“

Deutsches Recht

12.

Die Differenzbesteuerung für steuerpflichtige Wiederverkäufer wurde durch § 25a des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) in deutsches Recht umgesetzt. Diese Vorschrift bestimmt im Einzelnen:

„(1)   Für die Lieferungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 von beweglichen körperlichen Gegenständen gilt eine Besteuerung nach Maßgabe der nachfolgenden Vorschriften (Differenzbesteuerung), wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

1.

Der Unternehmer ist ein Wiederverkäufer. Als Wiederverkäufer gilt, wer gewerbsmäßig mit beweglichen körperlichen Gegenständen handelt oder solche Gegenstände im eigenen Namen öffentlich versteigert.

2.

Die Gegenstände wurden an den Wiederverkäufer im Gemeinschaftsgebiet geliefert. Für diese Lieferung wurde

a)

Umsatzsteuer nicht geschuldet oder nach § 19 Abs. 1 nicht erhoben oder

b)

die Differenzbesteuerung vorgenommen.

(2)   Der Wiederverkäufer kann spätestens bei Abgabe der ersten Voranmeldung eines Kalenderjahres gegenüber dem Finanzamt erklären, dass er die Differenzbesteuerung von Beginn dieses Kalenderjahres an auch auf folgende Gegenstände anwendet:

2.

Kunstgegenstände, wenn die Lieferung an ihn steuerpflichtig war und nicht von einem Wiederverkäufer ausgeführt wurde.

(3)   Der Umsatz wird nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis den Einkaufspreis für den Gegenstand übersteigt; … Im Fall des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 2 schließt der Einkaufspreis die Umsatzsteuer des Lieferers ein.

(5)   … Abweichend von § 15 Abs. 1 ist der Wiederverkäufer in den Fällen des Absatzes 2 nicht berechtigt, die entstandene Einfuhrumsatzsteuer, die gesondert ausgewiesene Steuer oder die nach § 13b Absatz 5 geschuldete Steuer für die an ihn ausgeführte Lieferung als Vorsteuer abzuziehen.

(7)   Es gelten folgende Besonderheiten:

1.

Die Differenzbesteuerung findet keine Anwendung

a)

auf die Lieferungen eines Gegenstands, den der Wiederverkäufer innergemeinschaftlich erworben hat, wenn auf die Lieferung des Gegenstands an den Wiederverkäufer die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen im übrigen Gemeinschaftsgebiet angewendet worden ist,

…“

Sachverhalt und Verfahren

13.

Herr Harry Mensing ist ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer im Sinne von Art. 311 Abs. 1 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112 und § 25a Abs. 1 Nr. 1 UStG. Er betreibt Kunstgalerien in verschiedenen Städten in Deutschland. Im Steuerjahr 2014 erwarb er u. a. Kunstgegenstände von Urhebern aus anderen Mitgliedstaaten. Diese Lieferungen wurden in den Ursprungsmitgliedstaaten von der Mehrwertsteuer befreit, während Herr Mensing sie als innergemeinschaftliche Erwerbe versteuerte. Er machte dabei keinen Vorsteuerabzug geltend.

14.

Anfang 2014 begehrte Herr Mensing vom Finanzamt Hamm (Deutschland) die Anwendung der Differenzbesteuerung auf die Lieferungen von Kunstgegenständen, die er von den Urhebern erworben hatte. Das Finanzamt verweigerte jedoch unter Berufung auf § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG die Anwendung der Differenzbesteuerung in Bezug auf die Kunstgegenstände, die er von den Urhebern aus anderen Mitgliedstaaten erworben hatte, und erhöhte infolgedessen den Betrag der geschuldeten Mehrwertsteuer um 19763,31 Euro.

15.

Nach erfolglosem Einspruch klagte Herr Mensing beim Finanzgericht Münster (Deutschland) gegen den Bescheid des Finanzamts Hamm. Diesem Gericht sind Zweifel bezüglich der Vereinbarkeit von § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG mit dem Unionsrecht sowie bezüglich des Verhältnisses zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112 gekommen. Es hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 dahin gehend auszulegen, dass steuerpflichtige Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung auch auf die Lieferung von Kunstgegenständen anwenden können, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolger, bei denen es sich nicht um Personen im Sinne von Art. 314 der Richtlinie handelt, innergemeinschaftlich geliefert wurden?

2.

Falls die Frage 1 bejaht wird: Erfordert es Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112, dem Wiederkäufer das Recht auf Vorsteuerabzug aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb der Kunstgegenstände zu versagen, auch wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine entsprechende Regelung enthält?

16.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 17. Mai 2017 beim Gerichtshof eingegangen. Schriftliche Erklärungen haben Herr Mensing, die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission abgegeben. Dieselben Beteiligten waren auch in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 2018 vertreten.

Würdigung

Zur ersten Vorlagefrage

17.

Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 in Anspruch nehmen kann, wenn er Kunstgegenstände verkauft, die er von den Urhebern oder deren Rechtsnachfolgern aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat, bei denen es sich nicht um Personen im Sinne von Art. 314 dieser Richtlinie handelt. Diese Frage umfasst eigentlich zwei Rechtsfragen. Die erste betrifft das Verhältnis zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112. Bei der zweiten geht es um die Möglichkeit der Anwendung der Differenzbesteuerung auf den Verkauf von Kunstgegenständen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Steuerpflichtigen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat.

Verhältnis zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112

18.

Das vorlegende Gericht führt im Vorabentscheidungsersuchen aus, dass seiner Ansicht nach Art. 314 der Richtlinie 2006/112 den Anwendungsbereich der Differenzbesteuerung erschöpfend regele. Das Gericht ist mit anderen Worten der Auffassung, dass die Differenzbesteuerung nur auf Gegenstände Anwendung finden könne, die von Personen erworben worden seien, die die Voraussetzungen nach Art. 314 bzw. nach den Art. 314 und 316 der Richtlinie erfüllten. Dieses Verständnis des Verhältnisses zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112 rechtfertige es, Gegenstände gemäß § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG von der Differenzbesteuerung auszunehmen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von einer Person aus einem anderen Mitgliedstaat erworben habe, wenn diese Person die Steuerbefreiung unter Beibehaltung des Rechts auf Vorsteuerabzug in Anspruch genommen habe, die Art. 138 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 169 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 für innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen vorsehe. Die in Art. 314 dieser Richtlinie genannten Personen kämen nämlich nicht in den Genuss einer solchen Befreiung mit Recht auf Vorsteuerabzug.

19.

Ich denke aber nicht, dass das Verhältnis zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112 in dieser Weise aufgefasst werden kann.

20.

Insbesondere ergibt sich das nicht aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen. Der einleitende Satz in Art. 314 der Richtlinie 2006/112 bestimmt, dass die Differenzbesteuerung in den in diesem Artikel genannten Fällen „gilt“. Das bedeutet, dass diese Regelung automatisch angewendet wird, wenn die dort genannten Umstände vorliegen ( 3 ). Art. 316 Abs. 1 dieser Richtlinie räumt dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer hingegen „das Recht ein, die Differenzbesteuerung [in Fällen] anzuwenden“, die in dieser Bestimmung genannt und nicht durch Art. 314 geregelt werden. Nichts im Wortlaut dieser Bestimmungen deutet darauf hin, dass das Recht auf Anwendung der Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 von der Erfüllung der in Art. 314 genannten Voraussetzungen abhängt. Der Wortlaut dieser Bestimmung lässt vielmehr darauf schließen, dass der Gesetzgeber das Recht nach Art. 316 Abs. 1 dieser Richtlinie ergänzend zum eigentlichen Anwendungsbereich der Differenzbesteuerung nach Art. 314 der Richtlinie gewähren wollte. Art. 316 erweitert folglich den möglichen Anwendungsbereich dieser Besteuerung und überlässt die diesbezügliche Entscheidung dem Steuerpflichtigen.

21.

Die Kommission weist in ihren Erklärungen in der vorliegenden Rechtssache auf die Erwägungen hin, die dieser Regelung zugrunde liegen. Sie erläutert, dass die Differenzbesteuerung hauptsächlich dem Zweck diene, die Doppelbesteuerung von Gegenständen zu vermeiden, deren Preis, zu dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Gegenstände erworben habe, einen Mehrwertsteuerbetrag enthalten habe, der bereits auf einer früheren Vermarktungsstufe durch den ursprünglichen Verkäufer ohne Recht auf Vorsteuerabzug entrichtet worden sei.

22.

Die in Art. 314 der Richtlinie 2006/112 genannten Personen haben kein Recht auf Vorsteuerabzug und tragen folglich die wirtschaftliche Last dieser Steuer, so dass sie den Vorsteuerbetrag beim Verkauf des Gegenstands naturgemäß auf dessen Preis aufschlagen. Würden diese Gegenstände bei ihrem Verkauf durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer nach den allgemeinen Grundsätzen besteuert werden, d. h., als Steuerbemessungsgrundlage würde der volle Verkaufspreis dienen, dann würde diese Besteuerungsgrundlage auch den Steuerbetrag umfassen, der auf früheren Vermarktungsstufen bezahlt worden ist, was eine Doppelbesteuerung zur Folge hätte („Steuer auf die Steuer“). Die Anwendung der Differenzbesteuerung, in deren Rahmen nur die Handelsspanne als Steuerbemessungsgrundlage herangezogen wird, d. h. der Mehrerlös, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer beim Wiederverkauf erzielt, ermöglicht die Vermeidung dieser Doppelbesteuerung.

23.

Es ist jedoch nicht immer möglich oder sinnvoll, genau zu bestimmen, für welche Gegenstände, die von einem steuerpflichtigen Wiederverkäufer veräußert wurden, die Mehrwertsteuer im Vorfeld abgezogen wurde und für welche nicht. Zudem kann es vorkommen, dass die Vorsteuer nur teilweise abgezogen wurde oder die Gegenstände überhaupt nicht der Besteuerung unterlagen, was die Sache zusätzlich kompliziert. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber die automatische Anwendung der Differenzbesteuerung in Fällen vorgesehen, in denen die Vorsteuer nicht auf einer früheren Vermarktungsstufe abgezogen werden konnte, sei es, weil der Verkäufer nicht steuerpflichtig ist, sei es, weil der Verkauf unter Ausschluss des Rechts auf Vorsteuerabzug von der Steuer befreit war. Dies entspricht der derzeitigen Regelung in Art. 314 der Richtlinie 2006/112. In einigen anderen Fällen hat der Gesetzgeber, wohl aus verwaltungsökonomischen Gründen, den steuerpflichtigen Wiederverkäufern hingegen die Wahl gelassen, ob sie die Differenzbesteuerung anwenden wollen (jetziger Art. 316 der Richtlinie 2006/12). Art. 316 der Richtlinie 2006/112 steht folglich unabhängig neben Art. 314 und ergänzt diesen.

24.

Eine Auslegung von Art. 316 der Richtlinie 2006/112, die seine Anwendung an die Erfüllung der in Art. 314 der Richtlinie genannten Voraussetzungen knüpfen würde, wäre zudem mit der Systematik und der Logik der Differenzbesteuerung unvereinbar.

25.

Man kann sich durchaus eine Begrenzung des von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 erfassten Personenkreises auf diejenigen Personen vorstellen, die gleichzeitig unter Art. 314 fallen. Dies wären vor allem nicht steuerpflichtige Urheber und ihre Rechtsnachfolger (Art. 314 Buchst. a) sowie, wenn auch nur in Ausnahmefällen, Urheber und ihre Rechtsnachfolger, die zwar steuerpflichtig sind, deren Lieferungen aber unter den in Art. 314 Buchst. b und c genannten Umständen erfolgen ( 4 ).

26.

Die gleichzeitige Erfüllung der Voraussetzungen der Art. 314 und 316 ist jedoch unmöglich, soweit es um Art. 316 Abs. 1 Buchst. a und c geht.

27.

Art. 316 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 bezieht sich auf Gegenstände, die von den steuerpflichtigen Wiederverkäufern selbst eingeführt werden. Im einleitenden Satz von Art. 314 ist hingegen von Gegenständen die Rede, die dem Steuerpflichtigen „innerhalb der Gemeinschaft … geliefert werden“. Art. 314 ist mithin von vornherein nicht auf eingeführte Gegenstände anwendbar. Dies erklärt sich durch den Umstand, dass im Fall von Gegenständen, die von außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems eingeführt wurden, keine Steuer auf einer früheren Vermarktungsstufe entrichtet wurde, die im Preis dieser Gegenstände enthalten ist. Aus der Sicht des Mehrwertsteuersystems ist die Steuer nie im Preis eingeführter Gegenstände enthalten.

28.

Art. 316 Abs. 1 Buchst. c betrifft Kunstgegenstände, die an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer geliefert wurden, „wenn auf die Lieferung … der ermäßigte Steuersatz angewandt wurde“ ( 5 ). Da es hier um die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes nicht auf Gegenstände, sondern auf Lieferungen geht, ist meines Erachtens die Anwendung dieser Bestimmung auf Lieferungen ausgeschlossen, die überhaupt nicht steuerpflichtig (Art. 314 Buchst. a) oder von der Steuer befreit sind (Art. 314 Buchst. b und c).

29.

Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, können Art. 314 und Art. 316 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 2006/112 nicht zusammen angewendet werden. Folglich halte ich eine Auslegung, wonach Art. 314 der Richtlinie nur zusammen mit Art. 316 Abs. 1 Buchst. b angewendet werden kann, für unlogisch.

30.

Auch teleologische Gesichtspunkte rechtfertigen es nicht, die Anwendung von Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 von der Erfüllung der in Art. 314 genannten Voraussetzungen abhängig zu machen. Die Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 314 der Richtlinie führt automatisch zur Anwendung der Differenzbesteuerung. Welchen Sinn hätte es dann, den steuerpflichtigen Wiederverkäufern die Möglichkeit einzuräumen, dieses Verfahren in Fällen anzuwenden, die ohnehin von Art. 314 erfasst sind? Man könnte darin allenfalls eine Art Opt-out-Regelung sehen; die Möglichkeit des Opt-outs von der Differenzbesteuerung enthält aber schon Art. 319 der Richtlinie 2006/112, während Art. 316 ausdrücklich als eine Opt-in-Regelung konzipiert wurde.

31.

Schließlich ließe es Art. 322 der Richtlinie 2006/112 sinnlos erscheinen, wenn die Anwendung von Art. 316 der Richtlinie von der Erfüllung der in Art. 314 genannten Voraussetzungen abhängig gemacht würde. Art. 322 der Richtlinie entzieht dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer in drei Fällen, die mit denen in Art. 316 Abs. 1 übereinstimmen, das Recht auf Abzug der Vorsteuer auf Gegenstände, die er im Rahmen der Differenzbesteuerung verkauft. So betrifft Art. 322 Buchst. a die Einfuhr (Art. 316 Abs. 1 Buchst. a), Art. 322 Buchst. b den Erwerb eines Kunstgegenstands vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern (Art. 316 Abs. 1 Buchst. b) und Art. 322 Buchst. c den Erwerb eines Kunstgegenstands von anderen Steuerpflichtigen unter Anwendung des ermäßigten Steuersatzes (Art. 316 Abs. 1 Buchst. c).

32.

Art. 314 der Richtlinie 2006/112 schließt hingegen eine Vorsteuer von vornherein aus, da er Lieferungen betrifft, die entweder gar nicht von der Mehrwertsteuer erfasst oder aber von ihr befreit sind ( 6 ). Wenn die Anwendung von Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 von der Erfüllung der in Art. 314 der Richtlinie genannten Voraussetzungen abhängig wäre, wäre Art. 322 der Richtlinie gegenstandslos. Selbst wenn man künstlich nur die Anwendung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b von der Erfüllung dieser Voraussetzungen abhängig machte, verlöre doch zumindest Art. 322 Buchst. b seinen Sinn.

33.

Aus diesen Gründen bin ich der Ansicht, dass Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass seine Anwendung nicht von der Erfüllung der in Art. 314 der Richtlinie genannten Voraussetzungen abhängig ist.

Anwendbarkeit der Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 auf Gegenstände, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat

34.

Die deutsche Regierung begründet in ihren Erklärungen in der vorliegenden Rechtssache den in § 25a Abs. 7 Nr. 1 UStG vorgesehenen Ausschluss der Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat, die die Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung in Anspruch genommen haben. Sie trägt drei Argumente zur Untermauerung ihrer Auffassung vor.

– Argumentation betreffend den Zweck der Differenzbesteuerung

35.

Nach Ansicht der deutschen Regierung kommt es zu keiner Doppelbesteuerung, wenn der Weiterverkauf von Kunstgegenständen durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer, dem die Gegenstände von Personen aus anderen Mitgliedstaaten unter Anwendung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen geliefert worden seien, der normalen Mehrwertsteuerregelung unterworfen werde, da der Einkaufspreis, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer bezahlt habe, keine Steuer enthalten habe, während die Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb abzugsfähig sei. Die Anwendung der Differenzbesteuerung würde in solchen Fällen nicht dem Zweck dieser Besteuerung dienen, der nach dem 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 darin bestehe, Doppelbesteuerungen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen Steuerpflichtigen zu vermeiden.

36.

Ich teile diese Auffassung jedoch nicht, und zwar aus Gründen, die denen ähneln, die ich in meinen Ausführungen zu den Zweifeln des vorlegenden Gerichts bezüglich des Verhältnisses zwischen den Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112 dargelegt habe (vgl. Nrn. 20 bis 32 der vorliegenden Schlussanträge).

37.

In der Tat führt in den in Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 genannten Fällen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung, d. h. die Besteuerung des gesamten Umsatzerlöses mit Recht zum Vorsteuerabzug, zu keiner Doppelbesteuerung. Dies gilt aber nicht nur für Gegenstände, die von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben werden, sondern in allen Fällen, die unter Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 fallen.

38.

Bei der innergemeinschaftlichen Lieferung handelt es sich unter mehrwertsteuerrechtlichen Gesichtspunkten um eine normale, steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass aufgrund der Befreiung nach Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie und der gleichzeitigen Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie die Steuerhoheit vom Verkaufsstaat auf den Erwerbsstaat übergeht. Mithin ist die Befreiung von innergemeinschaftlichen Lieferungen in Wirklichkeit keine Steuerbefreiung, wie sie Art. 136 der Richtlinie vorsieht, sondern eine Übertragung der Steuerhoheit auf einen anderen Mitgliedstaat. Befreiungen dieser Art werden teilweise als Steuern mit 0%-Satz bezeichnet.

39.

Aus der Sicht der Steuerpflichtigen ändert sich durch diese Befreiung wenig. Der Verkäufer liefert die Gegenstände zu einem Preis, der „keine Steuer“ enthält, und ist nicht zur Abführung der Steuer an den Fiskus verpflichtet, behält jedoch das Recht, die Vorsteuer auf die Gegenstände und Dienstleistungen abzuziehen, die für die Zwecke seiner innergemeinschaftlichen Lieferung verwendet wurden (Art. 169 Buchst. b der Richtlinie 2006/112). Der Käufer wiederum zahlt die Steuer nicht an den Verkäufer im Rahmen des Kaufpreises, wie dies bei Lieferungen innerhalb desselben Mitgliedstaats der Fall ist, sondern an den Fiskus. Zugleich erwirbt er jedoch auch das Recht, diese Steuer als Vorsteuer abzuziehen, vorausgesetzt natürlich, dass er die erworbenen Gegenstände für die Zwecke seiner steuerpflichtigen Tätigkeit verwendet.

40.

Ein ähnlicher Besteuerungsmechanismus kommt bei der Einfuhr von Gegenständen zur Anwendung. Der vom Importeur für die Gegenstände gezahlte Kaufpreis enthält keine Mehrwertsteuer (im Sinne der Richtlinie 2006/112), da diese Gegenstände von außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems eingeführt wurden. Der Importeur führt die Mehrwertsteuer auf die Einfuhr an den Fiskus ab und erwirbt zugleich das Recht, sie als Vorsteuer abzuziehen.

41.

Es kommt mithin zu keiner Doppelbesteuerung, und zwar unabhängig davon, ob es um einen eingeführten und in demselben Mitgliedstaat erworbenen Kunstgegenstand oder um einen von einer Person aus einem anderen Mitgliedstaat (im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung) erworbenen Kunstgegenstand geht. Sähe man es als Voraussetzung für die Anwendung der Differenzbesteuerung an, dass die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung zu einer Doppelbesteuerung führt, wäre Art. 316 der Richtlinie 2006/112 gegenstandslos und gegebenenfalls auch Art. 322, der eine Vorsteuer voraussetzt, die eventuell abgezogen werden kann, was aber bei Gegenständen, deren Lieferung von der Steuer befreit wurde (im eigentlichen Sinne dieses Ausdrucks) oder nicht der Besteuerung unterliegt, nicht der Fall ist ( 7 ).

42.

Art. 316 der Richtlinie 2006/112 dient nicht der Vermeidung der Doppelbesteuerung, sondern, wie es die Kommission in ihren Erklärungen erläutert, der Vermeidung übermäßiger administrativer Belastungen auf Seiten der steuerpflichtigen Wiederverkäufer, die mit der Notwendigkeit einhergehen würden, jedes Mal zu prüfen und nachzuweisen, ob der Preis des betreffenden Kunstgegenstands die Mehrwertsteuer enthält, die auf einer früheren Vermarktungsstufe bezahlt wurde, und wie hoch diese Steuer ist. Zu diesen administrativen Belastungen zählt auch die Pflicht zu einer doppelten Buchführung durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer, wenn er sowohl Gegenstände verkauft, die differenzbesteuert werden, als auch solche, für die die normale Mehrwertsteuerregelung gilt. Diese Verpflichtung ergibt sich unmittelbar aus Art. 324 der Richtlinie 2006/112.

43.

Aus diesem Grund überzeugt mich auch nicht die Argumentation der deutschen Regierung, wonach die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung als Ausnahme von der normalen Besteuerung eng auszulegen seien. Der Grundsatz der engen Auslegung von Ausnahmeregelungen darf nicht dazu führen, dass sie völlig ihren Sinn verlieren und dadurch gegenstandslos werden.

44.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens macht geltend, dass Art. 316 der Richtlinie 2006/112 in erster Linie darauf abziele, die in Art. 103 dieser Richtlinie vorgesehene steuerliche Begünstigung bestimmter Gegenstände aufrechtzuerhalten. Nach dieser Bestimmung kann auf die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden, im Fall von Kunstgegenständen auch dann, wenn sie durch ihren Urheber oder dessen Rechtsnachfolger geliefert werden. Gemäß Art. 94 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist dieser ermäßigte Steuersatz auch auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen anzuwenden, die durch ihre Urheber oder deren Rechtsnachfolger geliefert werden.

45.

Ich schließe nicht aus, dass dieses Ziel auch bei der Einführung von Art. 316 der Richtlinie 2006/112 verfolgt wurde, wobei jedoch zu beachten ist, dass die Anwendung von Art. 103 der Richtlinie für die Mitgliedstaaten fakultativ ist, während Art. 316 zwingend von ihnen angewendet werden muss. Jedenfalls zielt Art. 316 anders als Art. 314 der Richtlinie 2006/112 nicht darauf ab, Doppelbesteuerung zu vermeiden.

46.

Erwähnenswert ist auch, dass Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 zwar nicht der Vermeidung von Doppelbesteuerung dient, weil diese Gefahr gar nicht besteht, dass aber seine Anwendung auf inländische Lieferungen von Gegenständen bei gleichzeitiger Nichtanwendung im Fall eines innergemeinschaftlichen Erwerbs zu einer Wettbewerbsverzerrung zwischen den Steuerpflichtigen führen könnte. Manche steuerpflichtige Wiederverkäufer würden nämlich der Möglichkeit beraubt, die Differenzbesteuerung in Anspruch zu nehmen, obwohl sie sich unter anderen Gesichtspunkten in einer vergleichbaren Lage befinden wie die steuerpflichtigen Wiederverkäufer, die Kunstgegenstände in demselben Mitgliedstaat erwerben.

47.

Aus diesen Gründen denke ich, dass das Argument der fehlenden Gefahr der Doppelbesteuerung es nicht rechtfertigt, die Anwendung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 auf Kunstgegenstände abzulehnen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat.

– Argumentation betreffend die fehlende Möglichkeit, die Mehrwertsteuer im Fall eines innergemeinschaftlichen Erwerbs dem Kaufpreis hinzuzurechnen

48.

Die deutsche Regierung weist ferner darauf hin, dass im Gegensatz zu den Bestimmungen über die Einfuhr von Gegenständen durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer, bei der gemäß Art. 317 Abs. 2 dem Einkaufspreis die für die Einfuhr geschuldete Mehrwertsteuer hinzuzurechnen sei, die Richtlinie 2006/112 keine entsprechende Regelung für die Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb enthalte. Dies mache deutlich, dass der Unionsgesetzgeber bei der Abfassung von Art. 316 der Richtlinie nicht die Absicht gehabt habe, Kunstgegenstände dieser Regelung zu unterwerfen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben habe.

49.

In der Tat stellt das Fehlen einer Art. 317 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 entsprechenden Regelung für den innergemeinschaftlichen Erwerb ein gewisses Problem dar. Auf Kunstgegenstände, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwirbt, ist nämlich die normale Regelung nach Art. 315 in Verbindung mit Art. 317 Abs. 1 der Richtlinie anzuwenden. Nach diesen Bestimmungen entspricht die Handelsspanne, die die Steuerbemessungsgrundlage für die Differenzbesteuerung bildet, dem Unterschied zwischen dem Preis, zu dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer den Gegenstand verkauft, und dem von ihm an den Lieferer für diesen Gegenstand bezahlten Einkaufspreis. Der „Einkaufspreis“ wird in Art. 312 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112 als die gesamte Gegenleistung definiert, die der Lieferer von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält.

50.

Diese Bestimmungen gelten folglich sowohl für in demselben Mitgliedstaat als auch für innergemeinschaftlich durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer erworbene Kunstgegenstände. Je nachdem, welcher Fall vorliegt, wirken sich diese Bestimmungen jedoch unterschiedlich aus.

51.

Wenn der Erwerb innerhalb eines Mitgliedstaats erfolgt, umfasst die Gegenleistung des steuerpflichtigen Wiederverkäufers an den Lieferer auch den vom Lieferer gezahlten und in Rechnung gestellten Vorsteuerbetrag, soweit diese Lieferung nicht von der Steuer befreit ist, also u. a. in den in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 genannten Fällen. Der Preis, zu dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Gegenstände anschließend verkauft, entspricht dem Einkaufspreis (einschließlich Mehrwertsteuer) zuzüglich seiner Handelsspanne. Die Handelsspanne enthält folglich nicht die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer bezahlte Mehrwertsteuer, obwohl diese Steuer sich auf den Endpreis der von ihm verkauften Gegenstände auswirkt.

52.

Anders verhält es sich im Fall eines innergemeinschaftlichen Erwerbs, bei dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer dem Lieferer den Preis ohne Mehrwertsteuer bezahlt, da die innergemeinschaftliche Lieferung gemäß Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 von der Steuer befreit ist. Der steuerpflichtige Wiederverkäufer ist jedoch gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie verpflichtet, die Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb zu entrichten, und ist dabei gemäß Art. 322 Buchst. b nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Der steuerpflichtige Wiederverkäufer muss mithin den Betrag dieser Steuer dem Preis des Gegenstands hinzurechnen, wenn er ihn verkauft. Der Betrag der Steuer ist jedoch nicht vom Einkaufspreis im Sinne von Art. 312 Nr. 2 der Richtlinie umfasst. Er erhöht folglich die nach Art. 315 Abs. 2 bemessene Handelsspanne des steuerpflichtigen Wiederverkäufers.

53.

Die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichtete Mehrwertsteuer wird mithin der Steuerbemessungsgrundlage seiner Verkaufsumsätze hinzugerechnet. Dies führt zu einer Doppelbesteuerung („Steuer auf die Steuer“), deren Vermeidung die Differenzbesteuerung nach dem 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 gerade dient. Im Fall von Gegenständen, die steuerpflichtige Wiederverkäufer einführen, wird diese Doppelbesteuerung durch Art. 317 Abs. 2 der Richtlinie vermieden, wonach bei der Berechnung der Handelsspanne die Grundlage für die Besteuerung der Einfuhr (also der Einkaufspreis) zuzüglich der für die Einfuhr geschuldeten Mehrwertsteuer vom Verkaufspreis zu subtrahieren ist. Das Fehlen einer ähnlichen Bestimmung im Fall des innergemeinschaftlichen Erwerbs stellt eine Regelungslücke dar, die es verhindert, dass die Zwecke der Differenzbesteuerung vollständig erreicht werden können, wenn es um Kunstgegenstände geht, die steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwerben.

54.

Meines Erachtens kann diese Lücke nicht durch Auslegung geschlossen werden, da nach der Definition in Art. 312 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112 der Einkaufspreis ausdrücklich die Gegenleistung ist, die „der Lieferer“ vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält. Folglich kann die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer an den Fiskus abgeführte Steuer schwerlich dem Einkaufspreis hinzugerechnet werden. Gemäß Art. 322 Buchst. b der Richtlinie wiederum darf der steuerpflichtige Wiederverkäufer nicht die „auf Kunstgegenstände“, die ihm vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden, entrichtete Mehrwertsteuer abziehen, was sicherlich auch die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb dieser Kunstgegenstände entrichtete Steuer einschließt. Die dargelegte Regelungslücke muss mithin vom Gesetzgeber geschlossen werden.

55.

Ich denke jedoch nicht, dass das Vorhandensein dieser Lücke entsprechend der Auffassung der deutschen Regierung bedeutet, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit der Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände ausschließen wollte, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten unter Befreiung von der Steuer auf innergemeinschaftliche Lieferungen erworben hat.

56.

Insbesondere weisen weder der Wortlaut von Art 316 Abs. 1 Buchst. b noch der von Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 darauf hin. In der erstgenannten Bestimmung ist die Rede von Kunstgegenständen, „die [dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer] vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden“. Es geht mithin um die Lieferung von Kunstgegenständen, ohne dass irgendwelche weiteren Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Wenn die Richtlinie 2006/112 den Begriff der Lieferung verwendet, ist damit sowohl die Lieferung innerhalb eines Mitgliedstaats als auch die innergemeinschaftliche Lieferung gemeint. Zu diesem Schluss kommt man bereits, wenn man die Definition der Lieferung von Gegenständen in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie ( 8 ) mit der Definition des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen in ihrem Art. 20 Abs. 1 ( 9 ) vergleicht. In Fällen, in denen es nur um eine dieser Arten der Lieferung geht, bringt der Gesetzgeber dies ausdrücklich zum Ausdruck, wie z. B. in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, wonach der Mehrwertsteuer „die Lieferungen von Gegenständen, die … im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt [ge]tätigt [werden]“, unterliegen, oder in Art. 138 Abs. 1, wonach „die Lieferungen von Gegenständen, die … nach Orten außerhalb [des] jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden“, von der Steuer befreit sind. Die grammatikalische Auslegung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 kann mithin nicht als Grundlage für den Ausschluss von Kunstgegenständen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwirbt, vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung dienen.

57.

Ähnlich verhält es sich mit Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112, der Art. 316 Abs. 1 Buchst. b ergänzt und so weit gefasst ist, dass er sowohl den Abzug der Steuer auf den Erwerb innerhalb eines Mitgliedstaats als auch den Abzug der Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb verbietet (vgl. auch Nr. 54 der vorliegenden Schlussanträge).

58.

Es wäre auch schwierig, sinnvoll zu begründen, weshalb die Möglichkeit der Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände, die steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwerben, ausgeschlossen sein soll. Wenn diese Möglichkeit nämlich sowohl in Bezug auf Kunstgegenstände besteht, die innerhalb eines Mitgliedstaats erworben wurden (und zwar in zwei Fällen, nämlich denen nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b und c), als auch in Bezug auf eingeführte Kunstgegenstände (Art. 316 Abs. 1 Buchst. a), weshalb soll der Gesetzgeber ausgerechnet die innergemeinschaftlichen Umsätze benachteiligen, wenn die Erleichterung eines freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs doch eines der Hauptziele des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist ( 10 )?

59.

Die dargelegte Regelungslücke beruht daher meines Erachtens eher auf einem Versehen des Gesetzgebers als auf Absicht. Rechtfertigt es dieses Versehen aber, die Möglichkeit der Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände auszuschließen, die steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwerben? Ich denke nicht.

60.

Die betreffende Regelungslücke führt zwar dazu, dass der steuerpflichtige Wiederverkäufer, der Kunstgegenstände von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwirbt, schlechter dasteht als Wiederverkäufer, die Kunstgegenstände innerhalb desselben Mitgliedstaats oder von außerhalb der Union erwerben. Diese Lücke führt nämlich zu der vorstehend dargelegten Doppelbesteuerung und erhöht den Gesamtbetrag der Steuer, indem deren Bemessungsgrundlage, d. h. die Handelsspanne, zu hoch angesetzt wird.

61.

Zu beachten ist jedoch, dass die Anwendung der Differenzbesteuerung in den in Art. 316 der Richtlinie 2006/112 genannten Fällen für den Steuerpflichtigen fakultativ ist (dies gilt allerdings nicht für den Mitgliedstaat, dieser muss ihm die Möglichkeit einräumen). Möchte ein Steuerpflichtiger die Doppelbesteuerung seiner Handelsspanne vermeiden, soweit diese die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichtete Mehrwertsteuer umfasst, kann er die normale Mehrwertsteuerregelung mit vollem Recht auf Vorsteuerabzug wählen.

62.

Wie ich bereits ausgeführt habe, ist der Hauptzweck der Anwendung der Differenzbesteuerung in den in Art. 316 der Richtlinie 2006/112 genannten Fällen nicht in der Vermeidung von Doppelbesteuerung zu sehen, weil diese schon durch die normale Mehrwertsteuerregelung vermieden wird, sondern in der Begrenzung administrativer Belastungen, die mit der unterschiedlichen Besteuerung der einzelnen vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer angebotenen Gegenstände einhergehen. Wenn sich der Steuerpflichtige aus diesem Grund für die Differenzbesteuerung entscheidet, kann er sich nach dem althergebrachten Grundsatz volenti non fit iniuria nicht geschädigt fühlen und bedarf auch keines „Schutzes“ durch die Versagung des Rechts auf Anwendung dieser Besteuerung.

63.

Gemäß Art. 342 der Richtlinie 2006/112 können die Mitgliedstaaten zwar Maßnahmen treffen, um zu verhindern, dass steuerpflichtigen Wiederverkäufern u. a. durch die Anwendung der Differenzbesteuerung ungerechtfertigte Nachteile entstehen. Diese Maßnahmen können jedoch nur das Recht auf Vorsteuerabzug betreffen und nicht die Anwendung der Differenzbesteuerung an sich.

– Auf den Wortlaut von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 gestützte Argumentation

64.

In der mündlichen Verhandlung hat die deutsche Regierung ein weiteres Argument angeführt, das nach ihrer Auffassung die Möglichkeit der Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände ausschließt, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat. Da bei der innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen die Steuerhoheit vom Verkaufs- auf den Erwerbsmitgliedstaat übergehe, knüpfe die Steuerpflicht nicht an die innergemeinschaftliche Lieferung des Gegenstands an, sondern an seinen innergemeinschaftlichen Erwerb. In Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 werde ein derartiger Steuertatbestand jedoch nicht genannt, woraus folge, dass diese Bestimmung Kunstgegenstände, die von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben würden, nicht erfasse.

65.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Art. 314 und 316 der Richtlinie 2006/112 die Besteuerung von Gegenständen nicht auf der Stufe des Erwerbs durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer regeln, sondern erst auf der Stufe ihres Verkaufs durch diesen Steuerpflichtigen. Art. 314 Buchst. a bis d und Art. 316 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie nennen nur die Möglichkeiten, wie der steuerpflichtige Wiederverkäufer in den Besitz der Gegenstände gelangen kann, die er bei ihrem anschließenden Verkauf nach der Differenzmethode besteuern kann. Der Erwerb dieser Gegenstände durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer kann, muss aber nicht einen Steuertatbestand darstellen. Art. 314 Buchst. a bis c der Richtlinie 2006/112 betrifft Fälle, in denen überhaupt keine (Mehrwert)steuerpflicht entsteht, weil diese Umsätze entweder nicht der Steuer unterliegen oder von ihr befreit sind. Auch die in Art. 316 Abs. 1 Buchst. a bis c genannten Fälle des Erwerbs von Gegenständen durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer können, müssen aber nicht die Steuerpflicht auslösen.

66.

Außerdem stellt zwar die innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen als solche tatsächlich keinen Steuertatbestand dar, weil sie von der Steuer befreit ist, sie ist aber zwingend mit der Entstehung der Steuerpflicht im Moment des innergemeinschaftlichen Erwerbs derselben Gegenstände verbunden. Es gibt nämlich keine innergemeinschaftliche Lieferung ohne innergemeinschaftlichen Erwerb. Die Steuerbefreiung gilt hingegen nicht für die innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen, deren Erwerb nicht der Steuer unterliegt (vgl. Art. 139 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112). Die Argumentation der deutschen Regierung scheint sich mithin auf eine allzu formalistische Auslegung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 zu stützen.

Antwort auf die erste Vorlagefrage

67.

Ich schlage daher vor, dass der Gerichtshof auf die erste Vorlagefrage antwortet, dass Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung nach dieser Bestimmung auch dann auf den Verkauf von Kunstgegenständen anwenden kann, die er vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat, bei denen es sich nicht um Personen im Sinne von Art. 314 dieser Richtlinie handelt, wenn diese Personen die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen gemäß Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie in Anspruch genommen haben.

Zur zweiten Vorlagefrage

68.

Sollte der Gerichtshof meinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage folgen, wird die zweite Frage geprüft werden müssen. Mit der zweiten Vorlagefrage möchte das nationale Gericht wissen, ob Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass er das Recht des steuerpflichtigen Wiederverkäufers auf Abzug der von ihm gezahlten Vorsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen, auf deren Lieferung dieser Steuerpflichtige die Differenzbesteuerung gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie anwendet, auch dann ausschließt, wenn das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats keinen solchen Ausschluss des Abzugsrechts vorsieht.

69.

Diese Frage steht im Zusammenhang mit dem Umstand, dass das deutsche Recht, das gemäß § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG die Lieferung von Gegenständen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat und die der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen unterliegen, von der Anwendung der Differenzbesteuerung ausnimmt, keine Bestimmung enthält, die das Recht des steuerpflichtigen Wiederverkäufers, die Vorsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb abzuziehen, ausschließen würde, wenn auf diese Gegenstände die Differenzbesteuerung Anwendung fände.

70.

Wenn das vorlegende Gericht auf der Grundlage der Antwort auf die erste Frage feststellt, dass § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG nicht mit der Richtlinie 2006/112 vereinbar ist, wird es diese Bestimmung nicht anwenden dürfen und dem Kläger des Ausgangsverfahrens das Recht zur Anwendung der Differenzbesteuerung einräumen müssen. Doch wird dem Kläger auch das Recht zum Abzug der auf den innergemeinschaftlichen Erwerb der fraglichen Gegenstände entrichteten Steuer zustehen? Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen eines Einzelnen begründen, so dass sich ein Mitgliedstaat ihm gegenüber nicht auf die Richtlinie als solche berufen kann ( 11 ). Zugleich wurde Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112, was den Vorsteuerabzug auf innergemeinschaftliche Erwerbe angeht, nicht in deutsches Recht umgesetzt. Ich teile die Auffassung aller Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, einschließlich des Klägers des Ausgangsverfahrens, wonach diese Frage zu verneinen ist.

71.

Das Recht auf Vorsteuerabzug ist kein eigenständiges Recht der Steuerpflichtigen. Es ist ein Teil des Mehrwertsteuersystems, das auf der Besteuerung aller Umsätze bei gleichzeitigem Abzug der auf einer früheren Vermarktungsstufe gezahlten Steuer beruht. Auf diese Weise erhöht sich die steuerliche Belastung jeweils nur um den Mehrwert des Gegenstands oder der Dienstleistung auf der betreffenden Vermarktungsstufe, und der Gesamtbetrag dieser Belastung wird auf die letzte Vermarktungsstufe übertragen, nämlich den Verkauf an den Verbraucher. Das Abzugsrecht soll gewährleisten, dass dieser Mechanismus ordnungsgemäß funktioniert, und ist, wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, nur gegeben, wenn die Aufwendungen für den Erwerb der zum Abzug berechtigenden Gegenstände und Dienstleistungen zu den Kostenelementen der besteuerten Umsätze gehören ( 12 ). Der Steuerpflichtige, dessen eigene Umsätze nach dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats von der Steuer befreit sind, ist nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt, und zwar selbst dann nicht, wenn diese Befreiung gegen die Richtlinie 2006/112 verstößt ( 13 ).

72.

Ähnlich ist in der vorliegenden Rechtssache zu verfahren. Entspricht die Steuerbemessungsgrundlage nicht dem Gesamtpreis des Gegenstands, sondern nur der Handelsspanne des Verkäufers, d. h. der Differenz zwischen dem Verkaufs- und dem Einkaufspreis – wie dies im Rahmen der Differenzbesteuerung der Fall ist –, ist die bei der Kaufpreiszahlung entrichtete Steuer (Vorsteuer) nicht in der Steuer auf den Verkauf (geschuldete Steuer) enthalten. Es gibt mithin keine Grundlage für den Abzug dieser Vorsteuer. Jede andere Lösung würde de facto zu einer gegen die Richtlinie 2006/112 verstoßenden Steuerbefreiung der Lieferung von Gegenständen an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer führen, da er das Recht auf Erstattung des gesamten Betrags der entrichteten Steuer erhalten würde, ohne zur Abführung des entsprechenden Betrags der geschuldeten Steuer verpflichtet zu sein.

73.

Wenn das nationale Recht entgegen den Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit verweigert, eine steuerliche Sonderregelung anzuwenden, kann sich dieser Steuerpflichtige unmittelbar auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen, um in den Genuss dieser Regelung zu kommen, verliert jedoch das Recht auf Vorsteuerabzug, das ihm das nationale Recht gewährt, wenn der Rechtsverlust mit der Anwendung dieser Sonderregelung einhergeht.

74.

Daran ändert sich auch nichts durch den Umstand, auf den ich in den Nrn. 46 bis 60 der vorliegenden Schlussanträge eingegangen bin, dass es im Fall von Kunstgegenständen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von Personen aus anderen Mitgliedstaaten erwirbt, infolge der Regelungslücke in der Richtlinie 2006/112 zu einer Doppelbesteuerung desjenigen Teils der Handelsspanne kommt, die den Betrag der Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb deckt. Diese Lücke ist durch eine Änderung der Art und Weise der Berechnung des Einkaufspreises und nicht dadurch zu schließen, dass dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer ein der Logik des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zuwiderlaufendes Abzugsrecht zugestanden wird.

75.

Ich schlage daher vor, die zweite Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass er das Recht des steuerpflichtigen Wiederverkäufers auf Abzug der von ihm gezahlten Vorsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen, auf deren Lieferung dieser Steuerpflichtige die Differenzbesteuerung gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie anwendet, auch dann ausschließt, wenn das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats dieses Abzugsrecht nicht ausschließt.

Ergebnis

76.

Nach alledem schlage ich vor, die Vorlagefragen des Finanzgerichts Münster (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 316 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung nach dieser Bestimmung auch dann auf den Verkauf von Kunstgegenständen anwenden kann, die er vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern aus anderen Mitgliedstaaten erworben hat, bei denen es sich nicht um Personen im Sinne von Art. 314 dieser Richtlinie handelt, wenn diese Personen die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen gemäß Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie in Anspruch genommen haben.

2.

Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass er das Recht des steuerpflichtigen Wiederverkäufers auf Abzug der von ihm gezahlten Vorsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen, auf deren Lieferung dieser Steuerpflichtige die Differenzbesteuerung gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie anwendet, auch dann ausschließt, wenn das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats dieses Abzugsrecht nicht ausschließt.


( 1 ) Originalsprache: Polnisch.

( 2 ) ABl. 2006, L 347, S. 1, in der Fassung der Richtlinie 2013/61/EU des Rates vom 17. Dezember 2013 (ABl. 2013, L 353, S. 5).

( 3 ) Unter dem Vorbehalt, dass der Steuerpflichtige gemäß Art. 319 der Richtlinie 2006/112 die normale Mehrwertsteuerregelung anwenden kann.

( 4 ) Die Anwendung von Art. 314 Buchst. d käme natürlich nicht in Frage, da man sich nicht gleichzeitig als Urheber oder dessen Rechtsnachfolger und steuerpflichtiger Wiederverkäufer betätigen kann.

( 5 ) Hervorhebung nur hier.

( 6 ) Mit Ausnahme des in Art. 314 Buchst. d geregelten Falls, der aber mit keinem der in Art. 316 Abs. 1 geregelten Fälle verknüpft werden kann.

( 7 ) Ich stimme dabei der Argumentation der deutschen Regierung nicht zu, wonach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 nach seinem Wortlaut unabhängig davon anwendbar sei, ob die Lieferung der Kunstgegenstände an den Wiederverkäufer von der Steuer befreit gewesen sei oder nicht. Art. 314 der Richtlinie 2006/112 regelt Lieferungen, die von der Steuer befreit sind oder ihr nicht unterliegen, während Art. 316 steuerpflichtige Lieferungen betrifft, wobei die Steuerpflicht entweder auf Seiten des Verkäufers (inländische Lieferung) oder des Erwerbs (innergemeinschaftlicher Erwerb und Einfuhr) entstehen kann.

( 8 ) „… die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.

( 9 ) „… die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.

( 10 ) Vgl. vierter Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112.

( 11 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a. (C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 12 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 28. November 2013, MDDP (C‑319/12, EU:C:2013:778, Rn. 41).

( 13 ) Vgl. Urteil vom 28. November 2013, MDDP (C‑319/12, EU:C:2013:778, Rn. 56 erster Gedankenstrich).