SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 25. Juli 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑163/17

Abubacarr Jawo

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat – Art. 29 Abs. 1 – Modalitäten der Fristverlängerung – Art. 29 Abs. 2 – Begriff des Flüchtigseins – Zulässigkeit der Weigerung, den Betroffenen wegen der realen und erwiesenen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Abschluss des Asylverfahrens zu überstellen – Art. 3 Abs. 2 – Lebensverhältnisse der Personen, denen im zuständigen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

I. Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, das der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) am 3. April 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht hat, betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 2 ) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) sowie von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem Asylbewerber, Herrn Abubacarr Jawo, und der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: BAMF) vom 25. Februar 2015, mit dem der Asylantrag von Herrn Jawo als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung von Herrn Jawo nach Italien angeordnet wurde.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Völkerrecht

1.   Genfer Abkommen

3.

Art. 21 („Wohnungswesen“) des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 3 ), das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Abkommen bzw. Flüchtlingskonvention), lautet:

„Hinsichtlich des Wohnungswesens werden die vertragschließenden Staaten insoweit, als diese Angelegenheit durch Gesetze oder sonstige Rechtsvorschriften geregelt ist oder der Überwachung öffentlicher Behörden unterliegt, den sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhaltenden Flüchtlingen eine möglichst günstige und jedenfalls nicht weniger günstige Behandlung gewähren, als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Umständen gewährt wird.“

2.   Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

4.

Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

B. Unionsrecht

1.   Charta

5.

Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta sieht vor:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“

6.

Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

7.

Art. 19 („Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung“) der Charta bestimmt in Abs. 2:

„Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

8.

Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta sieht in Abs. 1 vor:

„Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“

9.

Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta bestimmt in Abs. 3:

„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

2.   Dublin‑III-Verordnung

10.

Die Verordnung Nr. 604/2013 legt die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats fest, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 4 ). In dieser Verordnung sind die folgenden Erwägungsgründe und Artikel relevant:

11.

32. Erwägungsgrund

„In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.“

12.

39. Erwägungsgrund

„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“

13.

Art. 3

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   …

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat … die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

14.

Art. 29

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

…“

3.   Verordnung (EG) Nr. 1560/2003

15.

Die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 ( 5 ) in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 ( 6 ) (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält die Durchführungsbestimmungen zur Dublin‑III-Verordnung.

16.

Art. 8 („Zusammenarbeit zum Zwecke der Überstellung“) der Verordnung Nr. 1560/2003 lautet:

„(1)   Der zuständige Mitgliedstaat hat die rasche Überstellung des Asylbewerbers zu ermöglichen und dafür Sorge zu tragen, dass dessen Einreise nicht behindert wird. Es obliegt ihm, gegebenenfalls den Ort in seinem Gebiet zu bestimmen, an den der Antragsteller zu überstellen oder an dem er den zuständigen Behörden zu übergeben ist; dabei hat er geografische Gesichtspunkte sowie die Beförderungsarten, die dem für die Überstellung verantwortlichen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen, zu berücksichtigen. Es kann keinesfalls verlangt werden, dass die Begleitung den Asylbewerber über den mit dem gewählten internationalen Verkehrsmittel erreichten Ankunftspunkt hinaus eskortiert oder der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornimmt, für die mit einer Beförderung über den Ankunftspunkt hinaus verbundenen Kosten aufkommt.

(2)   Der für die Überstellung verantwortliche Mitgliedstaat organisiert die Beförderung des Antragstellers und der diesen eskortierenden Begleitung und legt in Absprache mit dem zuständigen Mitgliedstaat die Ankunftszeit und gegebenenfalls die Modalitäten der Übergabe des Antragstellers an die zuständigen Behörden fest. Der zuständige Mitgliedstaat kann verlangen, dass er hiervon drei Arbeitstage im Voraus unterrichtet wird.

(3)   Das Standardformblatt in Anhang VI wird zur Übermittlung der Daten, die für den Schutz der Rechte und der unmittelbaren Bedürfnisse der zu überstellenden Person wesentlich sind, an den zuständigen Mitgliedstaat verwendet. Dieses Standardformblatt gilt als Unterrichtung im Sinne von Absatz 2.“

17.

In Art. 9 („Verschieben der Überstellung und nicht fristgerechte Überstellungen“) der Durchführungsverordnung heißt es:

„(1)   Der zuständige Mitgliedstaat wird unverzüglich unterrichtet, wenn sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder wegen materieller Umstände wie der Gesundheitszustand des Antragstellers, die Nichtverfügbarkeit des Beförderungsmittels oder der Umstand, dass der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat, verzögert.

(1a)   Wurde eine Überstellung auf Ersuchen des überstellenden Mitgliedstaats verschoben, so nehmen der überstellende und der zuständige Mitgliedstaat wieder Kontakt auf, um möglichst bald und nicht später als zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden erfahren, dass die Umstände, die die Verzögerung oder Verschiebung verursacht haben, nicht mehr vorliegen, eine neue Überstellung gemäß Artikel 8 zu organisieren. In diesem Fall wird vor der Überstellung ein aktualisiertes Standardformblatt für die Übermittlung von Daten vor einer Überstellung gemäß Anhang VI übermittelt.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der [Dublin‑III-Verordnung] genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der [Dublin‑III-Verordnung] gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.

…“

18.

Die Anhänge VI und IX der Durchführungsverordnung enthalten die Standardformblätter für die Übermittlung von Daten bzw. den Austausch von Gesundheitsdaten vor einer Überstellung gemäß der Dublin‑III-Verordnung.

4.   Richtlinie 2011/95/EU

19.

Nach Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ( 7 ) stellt ein „Antrag auf internationalen Schutz“ das „Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat [dar], wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt …“.

20.

Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95 enthält folgende Bestimmungen:

21.

Art. 20 Abs. 1

„Die Bestimmungen dieses Kapitels berühren nicht die in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Rechte.“

22.

Art. 26 Abs. 1

„Unmittelbar nach Zuerkennung des Schutzes gestatten die Mitgliedstaaten Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die Aufnahme einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit nach den Vorschriften, die für den betreffenden Beruf oder für die öffentliche Verwaltung allgemein gelten.“

23.

Art. 27 Abs. 1

„Die Mitgliedstaaten gewähren allen Minderjährigen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, zu denselben Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen Zugang zum Bildungssystem.“

24.

Art. 29 („Sozialhilfeleistungen“) Abs. 1

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten.“

25.

Art. 30 („Medizinische Versorgung“) Abs. 1

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörige des diesen Schutz gewährenden Mitgliedstaats Zugang zu medizinischer Versorgung haben.“

26.

Art. 32 („Zugang zu Wohnraum“) Abs. 1

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Zugang zu Wohnraum unter Bedingungen erhalten, die den Bedingungen gleichwertig sind, die für andere Drittstaatsangehörige gelten, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

27.

Herr Jawo, der alleinstehend ist und keine gesundheitlichen Einschränkungen aufweist, ist nach eigenem Bekunden ein am 23. Oktober 1992 geborener Staatsangehöriger Gambias. Er verließ Gambia am 5. Oktober 2012 und erreichte auf dem Seeweg Italien, wo er am 23. Dezember 2014 einen Asylantrag stellte.

28.

Von Italien aus reiste er nach Deutschland weiter. Auf der Grundlage eines Eurodac-Treffers ( 8 ), wonach er in Italien einen Asylantrag gestellt habe, ersuchte das BAMF am 26. Januar 2015 die Italienische Republik um die Wiederaufnahme von Herrn Jawo ( 9 ). Dem vorlegenden Gericht zufolge „blieb eine Reaktion Italiens auf dieses Ersuchen aus“.

29.

Mit Bescheid vom 25. Februar 2015 lehnte das BAMF den Asylantrag von Herrn Jawo als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an; Herr Jawo wendet sich gegen seine Überstellung zur Durchführung eines Asylverfahrens.

30.

Herr Jawo erhob am 4. März 2015 Klage und stellte am 12. März 2015 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, den das Verwaltungsgericht Karlsruhe (Deutschland) mit Beschluss vom 30. April 2015 als unzulässig ablehnte, weil er verspätet gestellt worden sei. Auf einen weiteren Eilantrag hin ordnete das Verwaltungsgericht später die aufschiebende Wirkung der Klage mit Beschluss vom 18. Februar 2016 an.

31.

Am 8. Juni 2015 sollte Herr Jawo nach Italien überstellt werden, was jedoch misslang, da er in seinem Wohnbereich in der Gemeinschaftsunterkunft in Heidelberg nicht angetroffen werden konnte. Nach entsprechenden Nachfragen des Regierungspräsidiums Karlsruhe (Deutschland) teilte die „Fachstelle für Wohnungsnotfälle“ der Stadt Heidelberg unter dem 16. Juni 2015 dem Regierungspräsidium mit, der Kläger sei seit Längerem nicht in der Gemeinschaftsunterkunft anzutreffen, was der zuständige Hausmeister bestätigt habe. In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht erklärte der Kläger – erstmals im gesamten gerichtlichen Verfahren – hierzu, dass er Anfang Juni nach Freiberg/Neckar gereist sei, um einen dort lebenden Freund zu besuchen.

32.

Er erklärte weiter, nach etwa ein bis zwei Wochen habe er einen Anruf von seinem Zimmergenossen aus Heidelberg erhalten, dass die Polizei ihn suche. Er habe sich entschieden, nach Heidelberg zurückzugehen, habe aber kein Geld gehabt, um die Rückfahrt zu bezahlen; er habe sich dieses erst leihen müssen. Etwa nach zwei Wochen sei er wieder in Heidelberg gewesen und sei dort zum Sozialamt gegangen und habe gefragt, ob er noch sein Zimmer habe, was bejaht worden sei. Darüber, dass er seine längere Abwesenheit melden müsse, habe ihn niemand belehrt.

33.

Das BAMF unterrichtete das italienische Innenministerium mit einem Formblatt am 16. Juni 2015, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil Herr Jawo flüchtig sei, wovon es am selben Tag Kenntnis erhalten habe. Weiter heißt es in dem Formular, dass eine Überstellung bis spätestens zum 10. August 2016„gem. Art. 29 Abs. 2 Dublin-VO“ erfolgen werde.

34.

Am 3. Februar 2016 sollte eine erneute Überstellung stattfinden. Auch diese scheiterte, weil Herr Jawo sich weigerte, das Flugzeug zu besteigen.

35.

Mit Urteil vom 6. Juni 2016 wies das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Klage von Herrn Jawo ab.

36.

Im Berufungsverfahren machte Herr Jawo geltend, dass er im Juni 2015 nicht flüchtig gewesen sei und das BAMF die Fristverlängerung nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung habe bewirken können. Die Abschiebungsanordnung sei „auch deshalb …, weil bislang keine seit 6. August 2016 erforderliche Entscheidung zum Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots erfolgt“ sei, sowie „im Hinblick auf seine mit Erlaubnis der Ausländerbehörde aufgenommene Ausbildung“ aufzuheben ( 10 ). Eine Überstellung nach Italien sei auch deshalb unzulässig, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen dort systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung aufweise.

37.

Während des Berufungsverfahrens konnte das BAMF in Erfahrung bringen, dass Herrn Jawo in Italien ein nationaler Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt worden war, der ein Jahr gültig und am 9. Mai 2015 abgelaufen war.

38.

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist ein Asylbewerber nur dann flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, wenn er sich gezielt und bewusst dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzieht, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, oder genügt es, wenn er sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert ist und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann?

Kann sich der Betroffene auf die richtige Anwendung der Vorschrift berufen und in einem Verfahren gegen die Überstellungsentscheidung einwenden, die Überstellungsfrist von sechs Monaten sei abgelaufen, weil er nicht flüchtig gewesen sei?

2.

Kommt eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung allein dadurch zustande, dass der überstellende Mitgliedstaat noch vor Ablauf der Frist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass der Betreffende flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ist eine Verlängerung nur in der Weise möglich, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen?

3.

Ist eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat unzulässig, wenn er für den Fall einer Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus dort im Hinblick auf die dann zu erwartenden Lebensumstände einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren?

Fällt diese Fragestellung noch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts?

Nach welchen unionsrechtlichen Maßstäben sind die Lebensverhältnisse des anerkannten international Schutzberechtigten zu beurteilen?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

39.

Das vorlegende Gericht hat beantragt, wegen der weitreichenden Bedeutung der dritten Vorlagefrage sein Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. Diese Frage sei für alle Italien betreffenden Überstellungsverfahren relevant; sie sei daher vorgreiflich in einer unübersehbaren Zahl von Verfahren. Die Ungewissheit über ihren Ausgang berge die Gefahr, das Funktionieren des durch die Dublin‑III-Verordnung eingeführten Systems zu beeinträchtigen und somit das Gemeinsame Europäische Asylsystem zu schwächen.

40.

Am 24. April 2017 hat die Fünfte Kammer entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, nicht stattzugeben.

41.

Schriftliche Erklärungen sind von Herrn Jawo, der deutschen, der italienischen, der ungarischen und der niederländischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie der Europäischen Kommission eingereicht worden.

42.

In der gemeinsamen Sitzung, die am 8. Mai 2018 in der Rechtssache C‑163/17 sowie in den verbundenen Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17 stattgefunden hat, haben die Kläger der Ausgangsverfahren in diesen Rechtssachen, das BAMF, die deutsche, die belgische, die italienische und die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission mündlich verhandelt.

V. Würdigung

A. Zur ersten Vorlagefrage

1.   Die Möglichkeit einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, sich auf den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Sechsmonatsfrist und auf den Umstand, dass sie nicht flüchtig gewesen sei, zu berufen, um sich ihrer Überstellung zu widersetzen

a)   Die Sechsmonatsfrist

43.

Mit dem zweiten Teil der ersten Vorlagefrage, der zunächst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung festgelegten Sechsmonatsfrist berufen kann, „[weil sie] nicht flüchtig gewesen sei“.

44.

Nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wird eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat. In Rn. 41 des Urteils vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805), hat der Gerichtshof entschieden, dass „sich die in Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung genannten Fristen … nicht nur auf den Erlass der Überstellungsentscheidung beziehen, sondern auch auf ihre Durchführung“. Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb dieser Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 kann die Frist von sechs Monaten jedoch auf höchstens 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

45.

Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor, dass einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht zusteht. In Rn. 48 des Urteils vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587), hat der Gerichtshof entschieden, dass „diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie der Person, die internationalen Schutz beantragt, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz garantiert, indem sie ihr u. a. die Möglichkeit verschafft, einen Rechtsbehelf gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung einzulegen, der auf die Überprüfung der Anwendung [der Dublin‑III-Verordnung] einschließlich der Beachtung der von ihr vorgesehenen Verfahrensgarantien abzielen kann“.

46.

In den Rn. 39 und 40 des Urteils vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805), hat der Gerichtshof entschieden, dass die durch die Dublin‑III-Verordnung geschaffenen Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren insbesondere unter Beachtung einer Reihe zwingender Fristen durchgeführt werden müssen, zu denen die in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung erwähnte sechsmonatige Frist zählt. Diese Vorschriften sollen zwar die genannten Verfahren regeln, tragen aber auch – ebenso wie die in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien – zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bei. Wenn der Antragsteller nicht vor Ablauf dieser Frist vom ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde, geht nämlich die Zuständigkeit von Rechts wegen auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Daher muss das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht, um sicherzustellen, dass die angefochtene Überstellungsentscheidung ergangen ist, nachdem die genannten Verfahren korrekt durchgeführt wurden, das Vorbringen einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, prüfen können, wonach diese Entscheidung unter Verletzung der Bestimmungen in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung ergangen sei, weil der ersuchende Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung wegen des vorherigen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten Frist von sechs Monaten bereits zum zuständigen Mitgliedstaat geworden sei.

47.

Der Gerichtshof hat in Rn. 46 des Urteils vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805), außerdem entschieden, dass „Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes[ ( 11 )], sowie Art. 47 der Charta … dahin auszulegen sind, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen“.

48.

Nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung kann eine Feststellung, der zufolge die betreffende Person flüchtig war, die Frist von sechs Monaten auf bis zu 18 Monate ausdehnen. Angesichts der Auswirkungen einer solchen Feststellung auf ihre Situation – die Frist wird dann verdreifacht – muss der betreffenden Person gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung und Art. 47 der Charta unbedingt ein wirksamer und schneller Rechtsbehelf zur Verfügung stehen, der es ihr ermöglicht, sich auf den Ablauf der sechsmonatigen Frist zu berufen und gegebenenfalls geltend zu machen, dass sie nicht flüchtig war, weshalb diese Frist nicht verlängert werden konnte.

49.

Infolgedessen sind Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen und gegebenenfalls geltend zu machen, dass sie nicht flüchtig war, weshalb diese Frist nicht verlängert werden konnte.

b)   Der Begriff „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung

50.

Der erste Teil der ersten Vorlagefrage hat den Begriff „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung und die Voraussetzungen zum Gegenstand, unter denen davon auszugehen ist, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, flüchtig ist, was dazu führt, dass die Überstellungsfrist von sechs auf bis zu 18 Monaten verlängert werden kann. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob der Begriff „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung den Nachweis verlangt, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, „sich gezielt und bewusst dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden [entzogen hat], um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren“, oder ob es „genügt, wenn er sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert ist und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann“ ( 12 ).

51.

Die Dublin‑III-Verordnung enthält keine Legaldefinition des Begriffs „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 ( 13 ) der Verordnung.

52.

Zudem enthalten die in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung verwendeten Begriffe „fuite“ (in der französischen Fassung), „Flucht“ ( 14 ) (in der deutschen Fassung), „absconds“ (in der englischen Fassung) und „fuga“ (in der spanischen, der italienischen und der portugiesischen Fassung) – selbst wenn sie an den Wunsch, vor etwas zu fliehen, denken lassen – keinen Hinweis darauf, dass die Absichten der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, insbesondere ihr Vorhaben, sich gezielt und bewusst der Durchführung der Überstellung zu entziehen, nachgewiesen werden müssten.

53.

Im Übrigen lässt der Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung auch nicht den Schluss zu, dass es genügt, die „Flucht“ der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, anhand eines oder mehrerer objektiver Umstände, insbesondere anhand ihrer ungeklärten und längeren Abwesenheit von ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, nachzuweisen.

54.

Wegen dieser mangelnden Klarheit im Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung ist bei der Auslegung des Begriffs „flüchtig sein“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 dieser Verordnung ( 15 ) nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch deren Kontext und die Zielsetzung der Regelung zu berücksichtigen, zu der sie gehört ( 16 ).

55.

Da die betreffende Person internationalen Schutz beantragt hat, gehören außerdem die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ( 17 ) und die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen ( 18 ) zum relevanten Kontext.

1) Zu den mit Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung verfolgten Zielen

56.

Wie sich u. a. aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung ergibt, soll durch diese Verordnung eine auf objektiven und gerechten Kriterien beruhende klare und praktikable Formel zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats eingeführt werden. Diese Formel soll insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu erreichen.

57.

Gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung erfolgt die Überstellung der betreffenden Person, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten. Der Gerichtshof hat in Rn. 40 des Urteils vom 29. Januar 2009, Petrosian (C‑19/08, EU:C:2009:41), entschieden, dass mit der Sechsmonatsfrist angesichts der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung einer solchen Überstellung einhergehen, das Ziel verfolgt wird, es den beiden betroffenen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen, und es insbesondere dem ersuchenden Mitgliedstaat zu erlauben, die Modalitäten dieser Durchführung zu regeln, die nach den nationalen Rechtsvorschriften dieses letztgenannten Staates erfolgt ( 19 ).

58.

Nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet, woraufhin die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht.

59.

Ich bin der Auffassung, dass im Hinblick auf das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz die Möglichkeit einer Firstverlängerung von sechs auf bis zu 18 Monaten nur dann in Betracht kommt, wenn es stichhaltige Bewiese dafür gibt, dass die betreffende Person flüchtig ist. Wie Herr Jawo gehe ich nämlich davon aus, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung Ausnahmecharakter mit erheblichen Folgen für die betreffende Person und die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats hat ( 20 ). Diese Bestimmung ist folglich eng auszulegen.

60.

Trotz des Ausnahmecharakters von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung wäre eine Pflicht zur Erbringung des Nachweises, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, sich gezielt und bewusst dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzogen hat, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, meines Erachtens jedoch überzogen und könnte das bereits komplizierte und schwierige System der Überstellungen, das mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführt wurde, erheblich durcheinanderbringen ( 21 ).

61.

Ebenso wie die Kommission in ihrer Stellungnahme bin ich der Ansicht: Wenn man für das Merkmal „flüchtig sein“ den Beweis für eine bestimmte subjektive Absicht der Person verlangte, die internationalen Schutz beantragt hat, ließe sich „eine solche Absicht … oft nur schwer und in aufwändigen Anhörungsverfahren klären, für die innerhalb der Sechsmonatsfrist von Art. 29 Abs. 2 [der Dublin‑III-Verordnung] regelmäßig keine Zeit ist“. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung wäre mit anderen Worten weder als Ausnahmevorschrift noch im Wege einer engen Auslegung, sondern praktisch überhaupt nicht anzuwenden ( 22 ).

2) Zum Kontext: Einfluss der Richtlinien 2013/32 und 2013/33

62.

Die Frage, ob eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, flüchtig ist, muss nach meiner Meinung auf der Grundlage konkreter und objektiver Beweise für diese „Flucht“ beantwortet werden, wobei alle maßgeblichen Umstände sowie der Kontext des Einzelfalls im Ausgangsverfahren zu berücksichtigen sind, ohne dass irgendwelche Absichten der flüchtigen Person nachzuweisen wären. Da das mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführte Verfahren nicht strafrechtlicher Natur ist, sollten die zivilrechtlichen Beweisanforderungen gelten (Kriterium der überwiegenden Wahrscheinlichkeit – „on the balance of probabilities“). Die Beweislast tragen zwangsläufig die zuständigen nationalen Behörden, die geltend machen, die betreffende Person sei flüchtig, da sie sich auf die Ausnahmebestimmung in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung berufen wollen.

63.

Was die besondere Konstellation betrifft, wenn Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, sich gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 „im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen [dürfen]“, so ist festzustellen, dass dieses Recht nicht absolut ist, sondern mit Bedingungen und Auflagen versehen werden kann.

64.

Die Mitgliedstaaten können nämlich „aus Gründen des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Ordnung oder wenn es für eine zügige Bearbeitung und wirksame Überwachung des betreffenden Antrags auf internationalen Schutz erforderlich ist“„einen Beschluss über den Aufenthaltsort des Antragstellers fassen“ ( 23 ) und „die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen an die Bedingung knüpfen, dass sich Antragsteller tatsächlich an dem Ort aufhalten, der von den Mitgliedstaaten festgelegt wird“ ( 24 ). Außerdem schreiben „[d]ie Mitgliedstaaten … Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen“ ( 25 ). Ich halte diese Einschränkungen und Auflagen für notwendig, um u. a. sicherzustellen, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, schnell ausfindig gemacht werden kann, damit die Prüfung ihres Antrags und gegebenenfalls ihre Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung erleichtert wird.

65.

Der Kommission zufolge wurde Art. 7 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2013/33 durch die Bundesrepublik Deutschland in den §§ 56 bis 58 des Asylgesetzes umgesetzt. Nach diesen Bestimmungen habe Herr Jawo „ohne behördliche Erlaubnis den Bezirk der Ausländerbehörde, hier die Stadt Heidelberg, nicht – auch nicht einmal vorübergehend – verlassen [dürfen], was er jedoch Anfang Juni 2015 tat“.

66.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie 2013/33 die Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über ihre Verpflichtungen im Rahmen der Aufnahmebedingungen unterrichten müssen ( 26 ). Wenn also diese Regeln nicht eingehalten wurden, kann eine Missachtung der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit den Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nicht entgegengehalten werden.

67.

Darüber hinaus sieht Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vor, dass die Mitgliedstaaten einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, die Verpflichtung auferlegen können, „sich entweder unverzüglich oder zu einem bestimmten Zeitpunkt bei den zuständigen Behörden zu melden oder dort persönlich vorstellig zu werden“ ( 27 ). Diese Verpflichtung kann meines Erachtens in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens von Bedeutung sein, auch wenn das BAMF den Asylantrag von Herrn Jawo als unzulässig abgelehnt und dessen Abschiebung nach Italien angeordnet hat. Die zuständige nationale Behörde muss nämlich in der Lage sein, mit einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, Kontakt aufzunehmen, um sie zu überstellen, damit ihr Antrag auf internationalen Schutz von den Behörden des nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats geprüft wird.

68.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf bis zu 18 Monate gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung meines Erachtens genügt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihr zugewiesenen Wohnung aufhält und die zuständigen nationalen Behörden nicht über ihren Verbleib informiert waren und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden konnte, vorausgesetzt, diese Person ist über die in den nationalen Vorschriften zur Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie 2013/33 und Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Beschränkungen ihres Rechts auf Bewegungsfreiheit und über ihre dort ebenfalls vorgesehenen Verpflichtungen, sich bei diesen Behörden zu melden, unterrichtet worden ( 28 ).

B. Zur zweiten Vorlagefrage

69.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ob eine Verlängerung der Sechsmonatsfrist nur in der Weise möglich ist, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen.

70.

Es ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung keine Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem zuständigen Mitgliedstaat ( 29 ) über die nach dieser Bestimmung mögliche Firstverlängerung vorgesehen ist.

71.

Im Übrigen wurde die Befugnis zur Festlegung einheitlicher Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, in Art. 29 Abs. 4 der Dublin‑III-Verordnung an die Kommission delegiert. Diese einheitlichen Bedingungen sind insbesondere in Art. 9 der Durchführungsverordnung normiert.

72.

Meines Erachtens ergibt sich aus Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 9 der Verordnung Nr. 1560/2003, dass die in Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Sechsmonatsfrist, wenn die betreffende Person nachweislich flüchtig ist, vom ersuchenden Mitgliedstaat einseitig auf bis zu 18 Monate verlängert werden kann ( 30 ), vorausgesetzt, dieser unterrichtet den anderen Mitgliedstaat unverzüglich darüber, dass sich die Überstellung verzögert, und beachtet die Modalitäten gemäß Art. 9 der Durchführungsverordnung. Nach Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1560/2003 muss er dies vor Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung festgesetzten Sechsmonatsfrist tun.

73.

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung und Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1560/2003 sind daher meines Erachtens dahin auszulegen, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird.

C. Zur dritten Vorlagefrage

74.

Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof erstens wissen, ob die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat unzulässig ist, wenn diese Person im Fall einer Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus dort im Hinblick auf die zu erwartenden Lebensverhältnisse dem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Das vorlegende Gericht will zweitens wissen, ob diese Fragestellung noch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Drittens fragt es sich, nach welchen Maßstäben die Lebensverhältnisse des anerkannten international Schutzberechtigten zu beurteilen sind.

75.

Ich werde nacheinander den zweiten, den ersten und den dritten Teil dieser Vorlagefrage prüfen.

1.   Vorbemerkungen

76.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts, einschließlich der Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, unter Beachtung der durch die Charta gewährleisteten Grundrechte auszulegen und anzuwenden. Das in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ist dabei von fundamentaler Bedeutung, denn es hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht ( 31 ).

77.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem wurde in einem Kontext entworfen, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber u. a. die Dublin‑III-Verordnung erlassen. Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, es müsse die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK stehe ( 32 ).

78.

Trotz dieser Konformitätsvermutung hat der Gerichtshof auch entschieden, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass die ernst zu nehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar sei ( 33 ).

79.

In Rn. 99 des Urteils vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), hat der Gerichtshof klargestellt, dass „eine Anwendung der [Dublin‑III-Verordnung] auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der [Dublin‑III-Verordnung] unvereinbar [ist]“.

80.

Es handelt sich also um eine widerlegliche Konformitätsvermutung.

81.

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 86 bis 94 und 106), auch festgestellt, dass die Überstellung von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems unter bestimmten Umständen mit dem in Art. 4 der Charta vorgesehenen Verbot unvereinbar sein kann. Dabei hat er entschieden, dass ein Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieses Artikels ausgesetzt zu werden, wenn er an einen Mitgliedstaat überstellt wird, bei dem ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller systemische Mängel aufweisen. Aufgrund des in Art. 4 der Charta aufgestellten Verbots obliegt es daher den Mitgliedstaaten, im Rahmen des Dublin-Systems keine Überstellungen an einen Mitgliedstaat vorzunehmen, von dem ihnen nicht unbekannt sein kann, dass dort solche Mängel bestehen ( 34 ).

82.

Das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), ist zu einem ähnlichen Sachverhalt ergangen, wie er dem Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland ( 35 ), zugrunde lag und Art. 3 EMRK zum Gegenstand hatte: Es ging um die Überstellung eines Asylbewerbers durch die belgischen Behörden nach Griechenland, das der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat war ( 36 ). Der Gerichtshof hat in Rn. 88 des Urteils vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), festgestellt, der EGMR habe u. a. entschieden, dass das Königreich Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, indem es den Beschwerdeführer zum einen den sich aus den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland ergebenden Risiken ausgesetzt habe, da die belgischen Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass eine gewissenhafte Prüfung seines Asylantrags durch die griechischen Behörden in keiner Weise gewährleistet gewesen sei, und indem es ihn zum anderen wissentlich Haft- und Existenzbedingungen ausgesetzt habe, die eine erniedrigende Behandlung darstellten ( 37 ).

83.

Obwohl die auf das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), zurückgehende Rechtsprechung zum Vorliegen systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Antragsteller im ersuchten Mitgliedstaat 2013 in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung kodifiziert wurde, hat der Gerichtshof dennoch entschieden, daraus könne nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung berühren würde ( 38 ). Es wäre nämlich nicht mit den Zielen und dem System der Dublin‑III-Verordnung vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln ( 39 ).

84.

Zu den Risiken im Zusammenhang mit der eigentlichen Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, hat der Gerichtshof in Rn. 65 des Urteils vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), entschieden, dass diese nur unter Bedingungen überstellt werden darf, die es ausschließen, dass sie tatsächlich Gefahr läuft, bei ihrer Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erleiden. In diesem Kontext hat der Gerichtshof den besonders ernsten Gesundheitszustand des Betroffenen berücksichtigt ( 40 ), aufgrund dessen seine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat ausgeschlossen sein kann, selbst wenn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im ersuchenden Mitgliedstaat keine systemischen Schwachstellen aufweisen.

85.

In Rn. 91 dieses Urteils hat der Gerichtshof das Argument der Kommission, aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung ergebe sich, dass nur die Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat Auswirkungen auf die Pflicht zur Überstellung eines Asylbewerbers in diesen Mitgliedstaat haben könne, nämlich ausdrücklich zurückgewiesen ( 41 ).

86.

In diesem Kontext hat der Gerichtshof auf den allgemeinen Charakter von Art. 4 der Charta abgestellt, der jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet, und ausgeführt, es stünde in offenkundigem Widerspruch zum absoluten Charakter dieses Verbots, wenn die Mitgliedstaaten die tatsächliche und erwiesene Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eines Asylbewerbers unter dem Vorwand außer Acht lassen könnten, dass sie sich nicht aus einer systemischen Schwachstelle im zuständigen Mitgliedstaat ergebe ( 42 ).

87.

Nach Rn. 95 des Urteils vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), wird durch die Unmöglichkeit, unter den in jener Rechtssache fraglichen Umständen eine Überstellung durchzuführen, „voll und ganz [der] Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens [gewahrt], denn sie berührt keineswegs die Existenz einer Vermutung für die Einhaltung der Grundrechte in allen Mitgliedstaaten, sondern stellt sicher, dass die Mitgliedstaaten den im vorliegenden Urteil behandelten Ausnahmefällen gebührend Rechnung tragen. Überdies wäre, wenn ein Mitgliedstaat in solchen Fällen einen Asylbewerber überstellen würde, die daraus resultierende unmenschliche und erniedrigende Behandlung weder unmittelbar noch mittelbar den Behörden des zuständigen Mitgliedstaats anzulasten, sondern allein dem erstgenannten Mitgliedstaat.“ ( 43 )

88.

Diese vorsichtige Herangehensweise, die auf den Schutz der Grund- und Menschenrechte abstellt, spiegelt auch die Rechtsprechung des EGMR wider. In § 126 seines Urteils vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD002921712), führt der EGMR nämlich aus, „dass das Vorbringen einer Person, wonach sie bei ihrer Rückführung in einen Drittstaat einer nach Art. 3 [EMRK] verbotenen Behandlung ausgesetzt würde, unbedingt von einer nationalen Stelle sorgfältig überprüft werden muss“.

89.

Im Unterschied zu den Sachverhalten in den Rechtssachen, in denen die Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), und vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), ergangen sind und die im ersten Fall die systemischen Schwachstellen beim Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen für Antragsteller sowie im zweiten Fall den Vorgang der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, als solchen betrafen, geht es im Ausgangsverfahren um die Berücksichtigung der Situation, zu der es möglicherweise nach der Gewährung des internationalen Schutzes im zuständigen Mitgliedstaat kommen kann.

90.

Zu diesem neuen Phänomen hat sich der Gerichtshof bisher noch nicht geäußert.

2.   Zum zweiten Teil der dritten Vorlagefrage ( 44 )

a)   Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

91.

Die italienische Regierung hat nur zur dritten Vorlagefrage Stellung genommen. Sie trägt vor, die dem zuständigen Mitgliedstaat zugeschriebenen angeblichen systemischen Schwachstellen, wie sie vom vorlegenden Gericht dargestellt würden, beträfen in Wirklichkeit das in diesem Staat geltende soziale Sicherungssystem und stellten daher keinen Verstoß gegen Art. 4 der Charta, sondern allenfalls einen Verstoß gegen die Art. 34 und 35 der Charta sowie gegen die Vorschriften der Richtlinie 2011/95 dar.

92.

Nach Ansicht der italienischen Regierung geht das vorlegende Gericht von möglichen „systemischen Schwachstellen“ aus, die weder das Asylverfahren noch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, sondern eine spätere Phase beträfen, nämlich den Aufenthalt der Asylbewerber, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, im Gebiet des Mitgliedstaats. Das geltend gemachte Risiko sei somit hypothetischer Natur, da die Position von Herrn Jawo die eines Asylbewerbers sei, dessen Antrag auf internationalen Schutz noch geprüft und entschieden werden müsse.

93.

Die deutsche Regierung macht geltend, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs seien die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts, einschließlich der Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung, unter Beachtung der durch die Charta gewährleisteten Grundrechte auszulegen und anzuwenden.

94.

Auf dieser Grundlage sind nach Ansicht der deutschen Regierung die Lebensverhältnisse eines international Schutzberechtigten nach seiner Anerkennung am Maßstab der Richtlinie 2011/95 zu beurteilen. Während die Richtlinie 2013/33 einheitliche Mindeststandards für die Aufnahme von Personen festschreibe, die internationalen Schutz beantragten, sei in der Richtlinie 2011/95 und im Genfer Abkommen das Gebot der Inländergleichbehandlung oder der Gleichstellung mit Drittstaatsangehörigen im zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen. Der deutschen Regierung zufolge ist „[d]iese Besonderheit … bei der Beurteilung der Lebensverhältnisse von anerkannten Schutzberechtigten zu berücksichtigen, wenn zu beurteilen ist, ob ihre Lebensverhältnisse dem Maßstab aus Art. 4 der [Charta] standhalten. Die abweichende Regelungstechnik[ ( 45 )] hat auch Auswirkungen auf den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte. Denn die Unionsgrundrechte gelten nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der [Charta] ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. Maßnahmen, die von der Richtlinie [2011/95] nicht erfasst sind und in denen die Mitgliedstaaten in eigener Zuständigkeit handeln, sind demnach nicht vom Anwendungsbereich der [Charta] erfasst“, so dass „[d]er primärrechtliche Maßstab – hier Art. 4 [der Charta] – … nur so weit reichen [kann], wie das abgeleitete Unionsrecht den Mitgliedstaaten Vorgaben macht“.

95.

Soweit das vorlegende Gericht impliziere, dass ein nationales Gericht bei der Beurteilung der Lebensverhältnisse der anerkannten international Schutzberechtigten über die unionsrechtlich vorgegebenen Standards der Richtlinie 2011/95 hinausgehend eine Verletzung von Art. 4 der Charta prüfen könnte, beruhe dies nach Auffassung der deutschen Regierung auf einem unzutreffenden Verständnis des Geltungsbereichs der Unionsgrundrechte. Im Übrigen obliege die materielle Prüfung des Asylantrags allein dem zuständigen Mitgliedstaat, und es sei nicht zu erkennen, auf welcher faktischen Grundlage der überstellende Mitgliedstaat diese Prüfung vorab durchführen könne, um zu dem gesicherten Ergebnis kommen zu können, dass im zuständigen Mitgliedstaat eine Anerkennung erfolgen oder nicht erfolgen werde.

96.

Die niederländische Regierung meint, dem ersuchenden Mitgliedstaat könne eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta nicht zugerechnet werden, die einer Person, die internationalen Schutz beantragt habe, in der Zeit nach Abschluss des Asylverfahrens möglicherweise widerfahre, da diese Person einer solchen Behandlung durch die Überstellung nicht unmittelbar ausgesetzt werde. Die Verantwortung für die Situation, in der sich der Asylbewerber „nach Durchlaufen des Asylverfahrens befinden wird, trägt ausschließlich der Mitgliedstaat, der auf der Grundlage der Dublin-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständig und verpflichtet ist, die sich daraus ergebenden Verpflichtungen auf sich zu nehmen“.

97.

Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs würde es eindeutig die Reichweite des Dublin-Systems überschreiten, wenn es einem Asylbewerber gestattet wäre, eine Überstellungsentscheidung auf der Grundlage von Behauptungen über die im zuständigen Mitgliedstaat nach der Gewährung internationalen Schutzes vorherrschenden Lebensverhältnisse anzufechten. Erstens lasse sich eine solche Ausdehnung nicht auf den Wortlaut der Dublin‑III-Verordnung stützen. Zweitens betreffe das Dublin-System die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig sei, nicht aber das Ergebnis eines Asylantrags oder die Situation von Asylbewerbern nach der Gewährung internationalen Schutzes, wenn dem Antrag stattgegeben worden sei. Drittens seien die Aussichten eines Asylantrags, wenn sich der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat befinde, ungewiss. Viertens würde eine Anfechtung, die sich auf die nach der Gewährung internationalen Schutzes bestehenden Lebensumstände stütze, zu früh erfolgen. Die Durchführung der Überstellung und die nachfolgende Entscheidung über den Asylantrag könnten lange dauern, wobei sich die Lebensumstände währenddessen stark verändern könnten. Jedenfalls könne ein anerkannter international Schutzberechtigter, wenn ihm nach der Schutzgewährung die Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung drohe, in diesem Stadium gerichtlichen Schutz im Aufnahmemitgliedstaat suchen, sofern Unionsrecht zur Anwendung kommt.

98.

Die ungarische Regierung trägt vor, der sachliche Anwendungsbereich der Dublin‑III-Verordnung erstrecke sich zeitlich auf die Durchführung des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats; den nachfolgenden Zeitraum regele diese Verordnung dagegen nicht. Umstände, die nach der Aufnahme oder nach der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz einträten, gehörten nicht zu den gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zu prüfenden Umständen. Die nach der Prüfung des Antrags eintretenden Lebensumstände ließen sich nicht objektiv überprüfen, da die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten nicht miteinander vergleichbar seien und die Angemessenheit einer mitgliedstaatlichen Lösung inhaltlich nicht in Frage gestellt werden könne. Es sei also grundsätzlich zweifelhaft, inwiefern sich eine Entscheidung einer nationalen Behörde oder eines nationalen Gerichts über die Ablehnung der Überstellung im Rahmen des „Dublin-Verfahrens“ begründen ließe, wenn zuvor zu prüfen wäre, ob der Antragsteller erstens im zuständigen Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt werde und ob zweitens im konkreten Fall die reale Gefahr bestehe, dass die Versorgungsbedingungen eventuell nicht zufriedenstellend seien.

99.

Nach Auffassung der Kommission schreibt die Dublin‑III-Verordnung auch im Licht von Art. 4 der Charta den Mitgliedstaaten nicht vor, zum einen der Frage nachzugehen, ob Personen mit internationalem Schutzstatus nach Abschluss ihres Asylverfahrens dem konkreten Risiko einer Verelendung und somit einer menschenunwürdigen Behandlung im Rahmen von Überstellungsverfahren nach dieser Verordnung ausgesetzt seien, und zum anderen deswegen im Einzelfall Überstellungen auszusetzen. Vielmehr sollte gelten: Solange der zuständige Mitgliedstaat seine Verpflichtungen gegenüber Schutzbegünstigten nach dem Genfer Abkommen und der Richtlinie 2011/95 erfülle, d. h. ihnen insbesondere gleichberechtigten Zugang zu Bildung, zu Beschäftigung, zu allen Sozialhilfeleistungen, zu Wohnraum und zu medizinischer Versorgung effektiv gewähre, dürften die anderen Mitgliedstaaten darauf vertrauen, dass Staat und Gesellschaft insgesamt dort ausreichende Anstrengungen unternähmen, damit auch Mittellose nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 der Charta behandelt würden.

b)   Würdigung

100.

Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob die vom ersuchenden Mitgliedstaat vor der Überstellung durchgeführte Prüfung einer etwa bestehenden realen und erwiesenen Gefahr, dass der Betroffene im ersuchten Mitgliedstaat nach der eventuellen Gewährung internationalen Schutzes eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren könnte, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder ob im Gegenteil davon ausgegangen werden kann, dass diese Gefahr zu fernliegend ist und es folglich verfrüht wäre, sie zu prüfen und zu berücksichtigen ( 46 ).

101.

Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. Folglich haben die Mitgliedstaaten Art. 4 der Charta, der unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet, zu beachten, wenn sie eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den zuständigen Mitgliedstaat überstellen ( 47 ).

102.

Überstellt ein Mitgliedstaat aber eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, so führt er Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung, nicht aber die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 durch. Das Vorbringen der deutschen Regierung, die Charta finde im vorliegenden Fall keine Anwendung, wenn die Richtlinie 2011/95 den Mitgliedstaaten keine Vorgaben mache, greift deshalb nicht durch.

103.

Hinsichtlich der Bemerkungen der italienischen Regierung zu den Art. 34 und 35 der Charta ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht keine Fragen zu diesen Bestimmungen gestellt hat. Zudem führt deren etwaige Anwendung meines Erachtens nicht dazu, dass die Anwendung von Art. 4 der Charta irrelevant würde.

104.

Hinzu kommt, dass außer dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta, der für eine extensive Anwendung dieser Bestimmung spricht, der Gerichtshof im Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), entschieden hat, das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruhe auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens und auf der Vermutung, dass die jeweils anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte beachten, so dass Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in Anwendung des Dublin-Systems grundsätzlich in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden dürfen.

105.

Insoweit geht aus den Rn. 84 und 85 des Urteils vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), hervor, dass der Gerichtshof bei seiner Prüfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht nur die Richtlinie 2003/9, sondern auch die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ( 48 ) sowie die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ( 49 ) berücksichtigt hat.

106.

Die Richtlinie 2004/83 enthielt – ebenso wie die Richtlinie 2011/95, die sie ersetzt hat – Vorschriften über die Behandlung von Personen mit internationalem Schutzstatus ( 50 ) und sah u. a. Mindestnormen für den Zugang der betreffenden Person zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und zu Wohnraum vor. Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist gerade der Zugang zu diesen sozialen Rechten in Italien.

107.

Außerdem erfolgen die Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz und die eventuelle Gewährung dieses Schutzes eindeutig im Anschluss an die Bestimmung des nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats.

108.

Auch wenn jede Phase durch besondere Regeln und Fristen gekennzeichnet ist, stellen meines Erachtens die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz und die eventuelle Gewährung dieses Schutzes zusammengenommen das Gemeinsame Europäische Asylsystem dar. Denn diese einzelnen Phasen folgen allesamt eine auf die andere und sind untrennbar miteinander verbunden. Unter den maßgeblichen Umständen des Ausgangsverfahrens, in dem geltend gemacht wird, im zuständigen Mitgliedstaat drohe die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, wäre es unnatürlich, wenn die Phasen, in denen es um die Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, um die Aufnahme dieser Person und um die Prüfung ihres Antrags geht, von der die Gewährung des internationalen Schutzes betreffenden Phase abgetrennt würden, zumal alle diese Phasen zeitnah aufeinanderfolgen ( 51 ). Daher hätte das im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung vorgebrachte Argument, es drohe nach der Gewährung des internationalen Schutzes die reale Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta, nach meiner Meinung keine verfrühte Prüfung zur Folge.

109.

Da die Mitgliedstaaten außerdem, bevor sie eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nach Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung überstellen, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat im Licht von Art. 4 der Charta überprüfen müssen, wenn geltend gemacht wird, es gebe in diesem Mitgliedstaat insoweit systemische Schwachstellen ( 52 ), ist das Argument der ungarischen und der deutschen Regierung zurückzuweisen, die Mitgliedstaaten seien nicht in der Lage, die Lebensverhältnisse von Personen mit internationalem Schutzstatus in anderen Mitgliedstaaten zu überprüfen. Zudem steht eine solche mit fehlenden praktischen Mitteln begründete Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, in klarem Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR, der den staatlichen Stellen die Pflicht zu einer „sorgfältigen Überprüfung“ auferlegt ( 53 ).

110.

Ich bin daher der Ansicht, dass die Frage, ob die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung unzulässig ist, wenn diese Person bei Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus in diesem Staat im Hinblick auf die dort dann zu erwartenden Lebensverhältnisse der realen und erwiesenen Gefahr ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

3.   Zum ersten Teil der dritten Vorlagefrage

111.

Aus meiner Antwort auf den zweiten Teil der dritten Frage des vorlegenden Gerichts und insbesondere aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des in Art. 4 der Charta vorgesehenen Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ergibt sich meines Erachtens, dass der erste Teil der dritten Frage wie folgt zu beantworten ist: Die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung ist unzulässig, wenn diese Person bei Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus in diesem Staat im Hinblick auf die dort dann zu erwartenden Lebensverhältnisse der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, kann folglich im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung nur erfolgen, wenn nach den Umständen ausgeschlossen ist, dass die Überstellung diese Person der realen und erwiesenen Gefahr aussetzt, nach der Gewährung des internationalen Schutzes eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren.

4.   Zum dritten Teil der dritten Vorlagefrage

112.

Mit dem dritten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, nach welchen unionsrechtlichen Maßstäben die Lebensverhältnisse einer Person mit anerkanntem internationalen Schutzstatus in einem Mitgliedstaat zu beurteilen sind.

113.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Richtlinie 2011/95, „was die Existenzbedingungen der Schutzberechtigten betrifft, in der Regel nur Inländerbehandlung verspricht [mit Ausnahme des den Zugang zu Wohnraum betreffenden Art. 32 der Richtlinie 2011/95, der nur Gleichbehandlung mit anderen Drittstaatszugehörigen verlangt,] und unionsrechtlich nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem keine bestimmten (Mindest‑)Standards vorgegeben werden. Inländerbehandlung kann allerdings unzureichend sein, selbst wenn die Standards für die Inländer noch menschenwürdegemäß sein sollten. Denn die Union muss bei alledem in den Blick nehmen, dass es sich hier typischerweise um verletzliche und entwurzelte Menschen, jedenfalls um Menschen mit vielerlei Handicaps[,] handelt, die nicht ohne weiteres oder auch gar nicht in der Lage sein werden, allein gestellt die Rechtspositionen, die die Rechtsordnung des Aufnahmestaats an sich formal gewährleistet[,] auch effektiv geltend zu machen. Sie müssen daher erst in die gleiche oder eine vergleichbare faktische Position einrücken, aus der heraus die einheimische Bevölkerung ihre Rechte in Anspruch nimmt und nehmen kann. Erst mit diesem realen sozialen Hintergrund erfährt Inländerbehandlung ihre innere Rechtfertigung und Tragfähigkeit. Deshalb fordert Art. 34 [der Richtlinie 2011/95] aus gutem Grund von den Mitgliedstaaten, den effektiven Zugang zu Integrationsprogrammen zu gewährleisten, denen eine spezifisch kompensatorische Funktion zukommt, und dieses bedingungs- und einschränkungslos“ ( 54 ).

114.

Das vorlegende Gericht weist zudem darauf hin, dass ihm u. a. der ausführliche Recherchebericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Aufnahmebedingungen in Italien“ vom August 2016 (vgl. dort S. 32 ff.) ( 55 ) (im Folgenden: Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe) vorliege, „aus dem sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass international Schutzberechtigte [in diesem Mitgliedstaat] einem konkreten Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben völlig am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe betont mehrfach, dass das völlig unzureichend entwickelte Sozialsystem in weiten Teilen durch den Rückhalt in familiären Strukturen zu erklären ist, bzw. anders gewendet nur wegen dieses Rückhalts unter der italienischen Bevölkerung Not nicht ein generelles Phänomen darstellt. Diese Strukturen fehlen aber bei den Schutzberechtigten völlig.“

a)   Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

115.

Nach Ansicht von Herrn Jawo „macht es keinen Sinn, wenn er in ein Land abgeschoben würde, in dem angeblich zwar die Bedingungen für Asylsuchende nicht zu beanstanden sind, wohl aber die Bedingungen für Schutzberechtigte. Das dann erfolgreiche Schutzverfahren hätte unter diesen Umständen die Folge, dass sich die Rechtsstellung des Betroffenen verschlechtert. Dies ist in sich widersinnig. Es zeigt … auch, dass die Behauptung, in Italien drohe Asylbewerbern keine durch Art. 4 [der Charta] verbotene Behandlung, nicht zutreffend sein kann.“

116.

Die italienische Regierung macht geltend, das vorlegende Gericht stelle die Angemessenheit des staatlichen Systems der sozialen Integration in Frage, dessen hypothetische Mängel als solche aber keine Bedeutung für die Anwendung von Art. 3 EMRK haben könnten. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung könne bei Bestehen eines sozialen Sicherungssystems des Staates, das den international Schutzberechtigten dieselben Rechte und Garantien wie den eigenen Staatsangehörigen gewährleiste, nicht allein deswegen vorliegen, weil die kompensatorischen Integrationsmaßnahmen, die wegen der besonderen Schwäche und Verletzlichkeit der Schutzberechtigten getroffen worden seien, nicht den in anderen Ländern gewährten Maßnahmen entsprächen oder gewisse Schwachstellen aufwiesen. Die Schwachstellen müssten derart sein, dass sie den international Schutzberechtigten konkret daran hinderten (oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohten, ihn daran zu hindern), die ihm zuerkannten Rechte in Bezug auf wesentliche Sozialleistungen wahrzunehmen. Um als ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung eingestuft zu werden, müssten die Schwachstellen ein konkretes Hemmnis für die Entgegennahme dieser wesentlichen Mindestsozialleistungen sein, das geeignet sei, den international Schutzberechtigten mit großer Wahrscheinlichkeit der Ausgrenzung und Armut zu überlassen.

117.

Die italienische Regierung betont, der (einzige) Bericht einer Nichtregierungsorganisation, den das vorlegende Gericht berücksichtigt habe ( 56 ), werde von einem anderen unabhängigen Bericht widerlegt ( 57 ) und enthalte zudem offensichtlich keine hinreichend genauen Angaben, um den Nachweis systemischer Schwachstellen zu erbringen, die eine Abweichung von der Dublin‑III-Verordnung rechtfertigen könnten ( 58 ).

118.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt vor, die Richtlinie 2011/95 sei so abgefasst worden, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, nicht besser behandelt würden als die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der ihnen diesen Schutz zuerkannt habe.

119.

Nach Ansicht der ungarischen Regierung müssen die nationalen Behörden ihr Handeln am Maßstab des zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden gegenseitigen Vertrauens ausrichten.

120.

Die niederländische Regierung bezweifelt, ob die vom vorlegenden Gericht beschriebenen Lebensumstände in Italien als eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung angesehen werden können. Diese Lebensumstände seien nicht mit den Sachverhalten vergleichbar, die den Rechtssachen zugrunde gelegen hätten, in denen das Urteil des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), und das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), ergangen seien.

121.

Die Kommission macht geltend, Art. 34 der Richtlinie 2011/95 sei sehr zurückhaltend formuliert. Die Mitgliedstaaten müssten lediglich Zugang zu Integrationsprogrammen gewährleisten, die „sie als den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus angemessen erachten“, oder Voraussetzungen dafür schaffen, dass Schutzbegünstigte Zugang zu nicht staatlichen Integrationsprogrammen gewährt werde. Allein aus Defiziten in der Erstellung von Integrationsprogrammen könne nicht die im Vorabentscheidungsersuchen angedeutete Hypothese abgeleitet werden, dass Schutzbegünstigte, die sich etwa mangels Sprachkenntnissen noch nicht in die Gesellschaft hätten integrieren können, von der Gesellschaft und vom Staat in gleichgültiger Haltung einer derart elenden Lage ausgesetzt würden, dass ihre Menschenwürde verletzt werde.

122.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich zur dritten Vorlagefrage nicht geäußert.

b)   Würdigung

123.

Nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ist zu vermuten, dass die Behandlung der international Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, des Genfer Abkommens und der EMRK steht ( 59 ). Diese Konformitätsvermutung wird noch verstärkt, wenn der Mitgliedstaat Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95 sowohl de iure ( 60 ) als auch de facto umsetzt, das für den betreffenden Berechtigten ein Niveau des sozialen Schutzes vorsieht, das dem im Genfer Abkommen vorgesehenen Niveau gleichwertig, ja sogar überlegen ist.

124.

Wie schon in Nr. 80 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt, ist diese Vermutung der Übereinstimmung (insbesondere mit Art. 4 der Charta) jedoch nicht unwiderleglich.

125.

Meines Erachtens geht aus den §§ 253 und 254 des Urteils des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609) – dessen Relevanz in einem Kontext, der dem des Ausgangsverfahrens gleicht, durch das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 88), bestätigt wurde –, entsprechend hervor, dass ein Mitgliedstaat gegen Art. 4 der Charta verstoßen würde, wenn international Schutzberechtigte, die vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängen, wegen der Gleichgültigkeit der Behörden in eine so große Not- und Zwangslage geraten würden, dass diese mit ihrer Menschenwürde unvereinbar wäre.

126.

Mit anderen Worten: Es kann davon ausgegangen werden, dass ernsthafte und erwiesene Gründe für die Annahme bestehen, dass international Schutzberechtigten die reale Gefahr droht, wegen ihrer Lebensverhältnisse in dem nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, wenn diese Berechtigten sich in einer besonders gravierenden Lage ( 61 ) befinden sollten, die auf die sie betreffenden systemischen Schwachstellen in diesem Mitgliedstaat zurückzuführen wäre.

127.

Die Prüfung, ob im zuständigen Mitgliedstaat eine solche Lage gegeben ist, beruht allein auf einer konkreten Beurteilung der Fakten und Umstände. Das vorlegende Gericht hat alle Beweismittel zu würdigen, die der Betroffene in Bezug auf alle relevanten Fakten im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der international Schutzberechtigten im zuständigen Mitgliedstaat vorlegt, einschließlich der Gesetze und Verordnungen sowie der Art und Weise, wie diese tatsächlich angewandt werden.

128.

Außerdem kann das vorlegende Gericht auch anhand der Berichte und Dokumente der europäischen Organe und Einrichtungen, des Menschenrechtskommissars des Europarats (im Folgenden: Menschenrechtskommissar) und des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) sowie der Berichte und Dokumente von Nichtregierungsorganisationen ( 62 ) die Lebensverhältnisse der international Schutzberechtigten beurteilen und somit die realen Gefahren einschätzen, die dem Betroffenen bei seiner Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat drohen würden ( 63 ).

129.

Auch wenn den Dokumenten der Kommission, des UNHCR und des Menschenrechtskommissars im Rahmen dieser Beurteilung eine besondere Bedeutung zukommt ( 64 ), muss das vorlegende Gericht prüfen, welche Relevanz und Tragweite den Daten und Bewertungen in Berichten und Dokumenten von Nichtregierungsorganisationen u. a. im Hinblick auf die Methodik ihrer Erarbeitung und die Unabhängigkeit dieser Organisationen zukommen.

130.

Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat den Verpflichtungen aus Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 nicht nachkommt, ist ein relevanter Umstand. Da ein Verstoß gegen Art. 4 der Charta im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen von international Schutzberechtigten im zuständigen Mitgliedstaat jedoch voraussetzt, dass diese Berechtigten sich in einer besonders gravierenden Lage befinden ( 65 ), reicht die Verletzung der Richtlinie 2011/95 nicht zwangsläufig als Nachweis aus.

131.

In der mündlichen Verhandlung haben mehrere Regierungen (konkret die deutsche, die belgische und die niederländische Regierung) diesen Begriff der besonders gravierenden Lage betont, um Anreize für eine „Sekundärmigration“ zu vermeiden und um eine „einseitige Belastung“ der Mitgliedstaaten zu vermeiden, in denen die besten Leistungen gewährt würden, und darauf hingewiesen, dass die zwischen den nationalen sozialen Sicherungssystemen bestehenden Unterschiede nicht unionsrechtswidrig seien.

132.

Die niederländische Regierung hat erklärt, vom Prinzip des gegenseitigen Vertrauens dürfe nur aus ganz schwerwiegenden Gründen abgewichen werden, während geringfügige Verstöße gegen die Richtlinie 2011/95 nur über Verfahren vor den nationalen Gerichten oder über Vertragsverletzungsklagen der Kommission vor dem Gerichtshof zu ahnden seien.

c)   Anwendung auf den vorliegenden Fall

133.

Das vorlegende Gericht richtet sein Augenmerk nur auf systemische Schwachstellen, nicht aber auf Einzelfälle.

134.

Außerdem ist in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten kein Anhaltspunkt dafür zu finden, dass sich Herr Jawo in einer Situation besonderer Schutzbedürftigkeit befände, die ihn individualisieren oder von den anderen international Schutzberechtigten in Italien unterscheiden ( 66 ) und zu einer schutzbedürftigen Person im Sinne von Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 machen würde.

135.

Ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens ist Herr Jawo volljährig, alleinstehend und weist keine gesundheitlichen Einschränkungen auf.

136.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen scheint hervorzugehen, dass die international Schutzberechtigten in Italien de iure, d. h. formal, zu denselben Bedingungen wie italienische Staatsangehörige Zugang u. a. zu Beschäftigung, zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen und zu medizinischer Versorgung haben ( 67 ). Hinsichtlich des Zugangs zu Wohnraum wird zwischen Inländern und Personen, die internationalen Schutz beantragen, unterschieden.

137.

Obwohl ich diese Unterscheidung in menschlicher Hinsicht für bedauerlich halte, steht sie dennoch grundsätzlich im Einklang mit dem Unions- und dem Völkerrecht. Im Gegensatz zu den Vorschriften über die Beschäftigung ( 68 ), die Bildung ( 69 ), die Sozialhilfeleistungen ( 70 ) und die medizinische Versorgung ( 71 ), die eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats verlangen ( 72 ), ist diese Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats und international Schutzberechtigten beim Zugang zu Wohnraum ausdrücklich in Art. 32 der Richtlinie 2011/95 und in Art. 21 des Genfer Abkommens vorgesehen.

138.

In § 249 seines Urteils vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), hat der EGMR zudem entschieden, dass „Art. 3 [EMRK] nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Hohen Vertragsparteien verpflichtet wären, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen ein Recht auf Wohnraum zu garantieren … Aus Art. 3 [EMRK] kann auch nicht die allgemeine Pflicht hergeleitet werden, Flüchtlinge finanziell zu unterstützen, damit sie einen bestimmten Lebensstandard aufrechterhalten können“ ( 73 ).

139.

Auch wenn die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht verpflichtet sind, international Schutzberechtigte hinsichtlich des Zugangs zu Wohnraum wie Inländer zu behandeln, müssen sie doch sicherstellen, dass diese Berechtigten zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörige u. a. Zugang zu Beschäftigung, zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen und zu medizinischer Versorgung haben, und auf diese Weise dafür sorgen, dass die durch die Richtlinie 2011/95 festgelegten Ergebnisse tatsächlich erreicht werden. Möglicherweise lassen sich diese Ergebnisse im zuständigen Mitgliedstaat nur dadurch erreichen, dass die international Schutzberechtigten beim Zugang zu Wohnraum wie Inländer behandelt werden. Diese Schlussfolgerung setzt eine eingehende und begründete Analyse voraus. In diesem Zusammenhang muss ich hier erwähnen, dass die italienische Regierung in der gemeinsamen Sitzung vom 8. Mai 2018 erklärt hat, international Schutzberechtigte hätten in Italien Anspruch auf Inländerbehandlung.

140.

Es ist noch darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht unter Berufung auf den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bezweifelt hat, dass die Italienische Republik ihren Verpflichtungen aus Art. 34 der Richtlinie 2011/95 über den Zugang zu Integrationsmaßnahmen nachkomme. Das vorlegende Gericht hat insoweit auf Sprachprobleme verwiesen, die es schwierig machten, international Schutzberechtigten einen effektiven Zugang zu Sozialhilfeleistungen in gleicher Weise wie Inländern zu bieten.

141.

Es trifft zu, dass der Mangel an auf die speziellen Bedürfnisse, insbesondere die Sprachprobleme, international Schutzberechtigter abgestimmten Integrationsprogrammen ( 74 ), wenn dieser Mangel vom vorlegenden Gericht festgestellt werden sollte, einen relevanten Umstand darstellen würde.

142.

Wie sich nämlich aus § 261 des Urteils des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), klar ergibt, ist die Tatsache, dass international Schutzberechtigte Probleme haben, da sie über keine Sprachkenntnisse und keine Unterstützungsstruktur verfügen, ein relevanter Umstand bei der Prüfung, ob eine gegen Art. 3 EMRK (und folglich auch gegen Art. 4 der Charta) verstoßende Behandlung vorliegt.

143.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass wegen des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens zu vermuten ist, dass die Behandlung der international Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, des Genfer Abkommens und der EMRK steht. Diese Konformitätsvermutung wird noch verstärkt, wenn ein Mitgliedstaat Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95 de iure und de facto umsetzt, das für die betreffenden Berechtigten ein Niveau des sozialen Schutzes vorsieht, das dem im Genfer Abkommen vorgesehenen Niveau gleichwertig, ja sogar überlegen ist. Diese Vermutung der Übereinstimmung insbesondere mit Art. 4 der Charta ist jedoch nicht unwiderleglich. Es kann davon ausgegangen werden, dass ernsthafte und erwiesene Gründe für die Annahme bestehen, dass international Schutzberechtigten die reale Gefahr droht, wegen ihrer Lebensverhältnisse in dem nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, wenn diese Berechtigten sich in einer besonders gravierenden Lage befinden sollten, die auf die sie betreffenden systemischen Schwachstellen in diesem Mitgliedstaat zurückzuführen wäre.

144.

Die Prüfung, ob im zuständigen Mitgliedstaat eine solche Lage gegeben ist, beruht allein auf einer konkreten Beurteilung der Fakten und Umstände. Das vorlegende Gericht hat alle Beweismittel zu würdigen, die der Betroffene in Bezug auf alle relevanten Fakten im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der international Schutzberechtigten im zuständigen Mitgliedstaat vorlegt, einschließlich der Gesetze und Verordnungen sowie der Art und Weise, wie diese tatsächlich angewandt werden. Es kann meines Erachtens sein, dass die Existenz eines einzigen Berichts einer Nichtregierungsorganisation über die Lebensbedingungen im zuständigen Mitgliedstaat keine ausreichende Aussagekraft besitzt. In diesem Fall muss sich das vorlegende Gericht auf andere Beweismittel stützen und gegebenenfalls einen Sachverständigen bestellen.

145.

Gewiss könnte nur durch die Verabschiedung einer echten Politik der Union zur Gewährung internationalen Schutzes, die mit einem eigenen Haushalt ausgestattet wäre und den Schutzberechtigten einen minimalen und einheitlichen Lebensstandard garantierte, erreicht werden, dass Rechtssachen wie das Ausgangsverfahren zahlenmäßig verringert, wenn nicht ganz verhindert würden, indem der in Art. 80 AEUV verankerte Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten zum Wohle nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern auch und vor allem der betroffenen Menschen verwirklicht würde. In der (wahrscheinlich langen!) Zwischenzeit ist es jedoch Sache der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, die volle Wirksamkeit der gegenwärtig geltenden Rechtsvorschriften wie vorstehend dargelegt sicherzustellen.

VI. Ergebnis

146.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen und gegebenenfalls geltend zu machen, dass sie nicht flüchtig war, weshalb diese Frist nicht verlängert werden konnte.

2.

Art. 29 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf bis zu 18 Monate genügt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihr zugewiesenen Wohnung aufhält und die zuständigen nationalen Behörden nicht über ihren Verbleib informiert waren und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden konnte, vorausgesetzt, diese Person ist über die in den nationalen Vorschriften zur Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, und Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vorgesehenen Beschränkungen ihres Rechts auf Bewegungsfreiheit und über ihre dort ebenfalls vorgesehenen Verpflichtungen, sich bei diesen Behörden zu melden, unterrichtet worden.

3.

Art. 29 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 und Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 in der Fassung der Durchführungsverordnung Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 sind dahin auszulegen, dass die in Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehene Sechsmonatsfrist, wenn die betreffende Person nachweislich flüchtig ist, vom ersuchenden Mitgliedstaat einseitig auf bis zu 18 Monate verlängert werden kann, vorausgesetzt, dieser unterrichtet den anderen Mitgliedstaat unverzüglich darüber, dass sich die Überstellung verzögert, und beachtet die Modalitäten gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 1560/2003. Nach Art. 9 Abs. 2 dieser Verordnung muss der ersuchende Mitgliedstaat dies vor Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 604/2013 festgesetzten Sechsmonatsfrist tun. Die betreffende Person muss zum Zeitpunkt sowohl des Überstellungsversuchs als auch der entsprechenden Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaats durch den ersuchenden Mitgliedstaat flüchtig sein.

4.

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 und Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1560/2003 sind dahin auszulegen, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird.

5.

Die Frage, ob die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 unzulässig ist, wenn diese Person bei Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus in diesem Staat im Hinblick auf die dort dann zu erwartenden Lebensverhältnisse der realen und erwiesenen Gefahr ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte zu erfahren, fällt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

6.

Die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 ist unzulässig, wenn diese Person bei Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus in diesem Staat im Hinblick auf die dort dann zu erwartenden Lebensverhältnisse der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte zu erfahren. Die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, kann folglich im Rahmen der Verordnung Nr. 604/2013 nur erfolgen, wenn nach den Umständen ausgeschlossen ist, dass die Überstellung diese Person der realen und erwiesenen Gefahr aussetzt, nach der Gewährung des internationalen Schutzes eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte zu erfahren.

7.

Wegen des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens ist zu vermuten, dass die Behandlung der international Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte, des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde, sowie der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten steht. Diese Konformitätsvermutung wird noch verstärkt, wenn ein Mitgliedstaat Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes de iure und de facto umsetzt, das für die betreffenden Berechtigten ein Niveau des sozialen Schutzes vorsieht, das dem im Genfer Abkommen vorgesehenen Niveau gleichwertig, ja sogar überlegen ist. Diese Vermutung der Übereinstimmung insbesondere mit Art. 4 der Charta der Grundrechte ist jedoch nicht unwiderleglich. Es kann davon ausgegangen werden, dass ernsthafte und erwiesene Gründe für die Annahme bestehen, dass international Schutzberechtigten die reale Gefahr droht, wegen ihrer Lebensverhältnisse in dem nach der Verordnung Nr. 604/2013 zuständigen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte zu erfahren, wenn diese Berechtigten sich in einer besonders gravierenden Lage befinden sollten, die auf die sie betreffenden systemischen Schwachstellen in diesem Mitgliedstaat zurückzuführen wäre.

8.

Die Prüfung, ob im zuständigen Mitgliedstaat eine solche Lage gegeben ist, beruht allein auf einer konkreten Beurteilung der Fakten und Umstände. Das vorlegende Gericht hat alle Beweismittel zu würdigen, die der Betroffene in Bezug auf alle relevanten Fakten im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der international Schutzberechtigten im zuständigen Mitgliedstaat vorlegt, einschließlich der Gesetze und Verordnungen sowie der Art und Weise, wie diese tatsächlich angewandt werden. Es kann sein, dass die Existenz eines einzigen Berichts einer Nichtregierungsorganisation über die Lebensbedingungen im zuständigen Mitgliedstaat keine ausreichende Aussagekraft besitzt. In diesem Fall muss sich das vorlegende Gericht auf andere Beweismittel stützen und gegebenenfalls einen Sachverständigen bestellen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2013, L 180, S. 31.

( 3 ) United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954).

( 4 ) Die Dublin‑III-Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

( 5 ) ABl. 2003, L 222, S. 3.

( 6 ) ABl. 2014, L 39, S. 1.

( 7 ) ABl. 2011, L 337, S. 9.

( 8 ) Vgl. Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1, im Folgenden: Eurodac-Verordnung).

( 9 ) Vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung.

( 10 ) Vgl. Rn. 9 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 11 ) Der Umfang des einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung zustehenden Rechtsbehelfs wird im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung näher umschrieben. Danach soll der durch die Verordnung geschaffene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, zum einen die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung und zum anderen die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

( 12 ) Das vorlegende Gericht „sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Vorschrift des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 [der Dublin‑III-Verordnung] ein missbilligtes Verhalten des Ausländers sanktioniert werden soll. [Es] versteht Sinn und Zweck der Vorschrift dahin gehend, dass das effektive Funktionieren des Dublin-Systems gesichert werden soll. Dieses Funktionieren kann erheblich beeinträchtigt werden, wenn die Überstellungen nicht zeitnah erfolgen können, weil dem Gründe entgegenstehen, die nicht in die Verantwortungssphäre des überstellenden Mitgliedstaats fallen. Im Übrigen würden praktisch gesehen oftmals erhebliche Ermittlungs- bzw. Beweisschwierigkeiten bestehen, wenn den Betroffenen nachgewiesen werden müsste, dass sie sich gerade, um eine Überstellung unmöglich zu machen oder zu erschweren, von ihrer Wohnung entfernt bzw. sich verborgen hatten.“

( 13 ) Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung spricht dagegen von der „Fluchtgefahr“ als vom „Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte“. Dieser Begriff scheint mir auf die Umstände zu zielen, unter denen eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zum Zweck der Überstellung in Haft genommen werden kann (Art. 28 der Verordnung). Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung betrifft daher nicht die Umstände, unter denen davon auszugehen ist, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung flüchtig gewesen ist.

( 14 ) „wenn die betreffende Person flüchtig ist“.

( 15 ) Auch die Art. 8 und 9 der Verordnung Nr. 1560/2003 enthalten dazu keine Klarstellungen.

( 16 ) Vgl. Urteil vom 23. November 2006, Lidl Italia (C‑315/05, EU:C:2006:736, Rn. 42). Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung verweist nicht auf das nationale Recht. Vgl. auch Urteil vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai (C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 37): „Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss.“

( 17 ) ABl. 2013, L 180, S. 60.

( 18 ) ABl. 2013, L 180, S. 96.

( 19 ) Zu den Modalitäten der Überstellung vgl. Art. 8 und 9 der Durchführungsverordnung.

( 20 ) Denn bei Überschreitung der Sechsmonatsfrist ist grundsätzlich der ersuchende Mitgliedstaat für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

( 21 ) Zumal die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, erreichbar sein muss, über den Verfahrensablauf Bescheid weiß und ganz leicht ihre Abwesenheit von ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, vor allem, wenn diese einen längeren Zeitraum umfasst, melden kann.

( 22 ) Der deutschen Regierung zufolge „dürften oftmals erhebliche Ermittlungs- bzw. Beweisschwierigkeiten bestehen, wenn den Betroffenen nachgewiesen werden müsste, dass sie sich gerade, um eine Überstellung unmöglich zu machen oder zu erschweren, von ihrer Wohnung entfernt bzw. sich verborgen hatten. Eine solche Auslegung könnte einen Anreiz für Asylsuchende darstellen, entsprechende Schutzbehauptungen aufzustellen. ‚Flüchtig‘ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 S. 2 der Dublin‑III-Verordnung sind Asylsuchende dann, wenn sie aus selbst zu vertretenden Gründen für die Behörden des die Überstellung durchführenden Staates nicht auffindbar sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich Asylsuchende über einen längeren Zeitraum nicht mehr in den ihnen zugewiesenen Wohnungen aufhalten, die Behörden nicht über ihren Verbleib informieren und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann“ (Rn. 67 und 68 ihrer Erklärungen). Die ungarische Regierung trägt vor, dass „für das von der [Dublin‑III-Verordnung] verfolgte Ziel … die subjektive innere Einstellung des Antragstellers völlig unerheblich [ist]; wäre nämlich die Überstellung von diesem Umstand abhängig, wäre die wirkungsvolle Durchführung der Verordnung ernsthaft in Frage gestellt“ (Rn. 10 ihrer Erklärungen). Nach Auffassung der niederländischen Regierung „passt … eine Auslegung von ‚Flüchtigsein‘ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der [Dublin‑III-Verordnung], bei der es im Wesentlichen um Fälle geht, in denen … Verfügbarkeit nicht gegeben ist. Diese Auslegung geht nicht so weit, dass eine Absicht des Asylbewerbers erforderlich ist, damit festgestellt werden kann, dass er ‚flüchtig‘ ist. Was genau der Grund bzw. das Motiv des Asylbewerbers dafür ist, dass er nicht zur Verfügung steht, tut angesichts des Systems und im Hinblick auf die Zielsetzung, dass die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat so rasch wie möglich durchgeführt werden kann, nichts zur Sache“ (Rn. 15 und 16 ihrer Erklärungen). Nach Ansicht der Schweizerischen Eidgenossenschaft „kann für die asylsuchende Person durchaus die Pflicht abgeleitet werden, sich den Behörden zur Verfügung zu halten und ihnen allfällige Abwesenheiten zu melden. Dies muss umso mehr gelten, wenn die Überstellung in den zuständigen [Mitgliedstaat] unmittelbar bevorsteht und die betroffene Person davon Kenntnis hat. Unter ‚flüchtig‘ sind also Sachverhalte zu verstehen, die die Überstellung wegen Abwesenheit der betroffenen Person verunmöglichen und die ihr zuzuschreiben sind“ (Nr. 11 ihrer Erklärungen). Hervorhebung nur hier.

( 23 ) Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33. Hervorhebung nur hier.

( 24 ) Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33. Nach Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie sehen „[d]ie Mitgliedstaaten … vor, dass Antragstellern eine befristete Genehmigung zum Verlassen des in den Absätzen 2 und 3 genannten Aufenthaltsorts und/oder des in Absatz 1 genannten zugewiesenen Gebiets erteilt werden kann. Die Entscheidung ist von Fall zu Fall, objektiv und unparteiisch zu treffen und im Falle einer Ablehnung zu begründen.“

( 25 ) Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33.

( 26 ) Gegebenenfalls können diese Informationen auch mündlich erteilt werden. In diesem Zusammenhang gehört zu den Aufnahmebedingungen auch das Recht auf Bewegungsfreiheit.

( 27 ) Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat vorgetragen, dass „[i]m Vereinigten Königreich … nicht inhaftierte Asylbewerber der Verpflichtung [unterliegen], sich regelmäßig beim Home Office (Innenministerium) zu melden. Die meisten Asylbewerber müssen sich wöchentlich melden. Asylbewerber, gegen die Überstellungsverfahren nach der [Dublin‑III-Verordnung] laufen, müssen sich alle zwei Wochen melden, es sei denn, der Betreffende führt einen Rechtsstreit wegen Anfechtung seiner Abschiebung; in diesem Fall hat er sich einmal monatlich zu melden. Zweck dieses Verfahrens ist, zu gewährleisten, dass der Asylbewerber mit den maßgeblichen Behörden in Kontakt bleibt; ferner sollen damit die maßgeblichen Behörden über seine Präsenz und seinen Aufenthalt informiert sein. Letztlich sichert dieses Verfahren die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung, da es die Durchführung der Überstellung ermöglicht. Darüber hinaus gilt im Vereinigten Königreich ein Asylbewerber, der sich dreimal nicht gemeldet hat, als flüchtig. Nach der Auffassung des Vereinigten Königreichs bietet dieser Ansatz den nationalen Behörden und dem Asylbewerber den nötigen Grad an Sicherheit und ermöglicht zudem eine gewisse einzelfallbezogene Flexibilität, wenn der Asylbewerber aus berechtigten Gründen (z. B. aufgrund von gesundheitlichen Beschwerden) nicht in der Lage ist, sich zu melden“ (Rn. 51 und 52 ihrer Erklärungen).

( 28 ) In der mündlichen Verhandlung konnte das BAMF die Frage, ob diese Unterrichtung stattgefunden hatte, nicht beantworten. Das vorlegende Gericht wird diesen Punkt zu klären haben.

( 29 ) Vgl. im Gegensatz dazu Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, der ausdrücklich eine Abstimmung zwischen den fraglichen Mitgliedstaaten vorsieht.

( 30 ) Die Verlängerung der Sechsmonatsfrist geschieht nicht automatisch.

( 31 ) Vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die den Asylbewerbern gewährten Rechte wurden im Übrigen durch die Dublin‑III-Verordnung gestärkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 34). Das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Art. 4 der Charta entspricht dem Gerichtshof zufolge dem in Art. 3 EMRK aufgestellten Verbot, so dass es nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird (Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 67). Außerdem geht aus Art. 15 Abs. 2 EMRK hervor, dass von Art. 3 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, und der Gerichtshof hat bekräftigt, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu Art. 3 EMRK bei der Auslegung von Art. 4 der Charta zu berücksichtigen ist (Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 68).

( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78 bis 80).

( 33 ) Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81).

( 34 ) Vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 35 ) CE:ECHR:2011:0121JUD003069609.

( 36 ) Der EGMR hat bei der Prüfung der Bedingungen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in Griechenland die Verpflichtungen der griechischen Behörden aus der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) berücksichtigt (EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 263).

( 37 ) Der EGMR hat in seinem Urteil entschieden, eine Situation erheblicher materieller Not könne ein Problem im Hinblick auf Art. 3 EMRK darstellen. Er hat festgestellt, der betreffende Beschwerdeführer habe sich in einer besonders schlimmen Lage befunden. Der EGMR hat darauf hingewiesen, dass „[der Beschwerdeführer erklärt hatte], er habe monatelang in bitterster Armut gelebt und sei nicht in der Lage gewesen, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen: sich ernähren, sich waschen und eine Unterkunft finden. Hinzu kam die ständige Angst, überfallen und beraubt zu werden, sowie die völlige Aussichtslosigkeit, dass sich seine Lage verbessern könnte“ (EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 254). In § 263 dieses Urteils hat der EGMR entschieden, dass die griechischen Behörden „die Schutzbedürftigkeit des Beschwerdeführers als Asylbewerber nicht gebührend berücksichtigt [haben] und … wegen ihrer Untätigkeit für die Bedingungen verantwortlich gemacht werden [müssen], unter denen er monatelang auf der Straße ohne Einkommen, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen und ohne die Möglichkeit lebte, für seine grundlegenden Bedürfnisse aufzukommen. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer Opfer einer erniedrigenden Behandlung war, die von einem Mangel an Respekt vor seiner Würde zeugte, und dass diese Situation bei ihm zweifellos Angst- oder Minderwertigkeitsgefühle hervorgerufen hat, die ihn zur Verzweiflung treiben konnten. Er stellt fest, dass solche Existenzbedingungen zusammen mit der anhaltenden Unsicherheit, der er ausgesetzt war, und der völligen Aussichtslosigkeit, dass sich seine Lage verbessern könnte, die für Art. 3 [EMRK] erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht haben“.

( 38 ) Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 82).

( 39 ) Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 84).

( 40 ) Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 71, 73 und 96). In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, es gebe keine wesentlichen Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu medizinischer Versorgung, systemische Schwachstellen aufwiesen. Gleichwohl sei nicht auszuschließen, dass die Überstellung eines Asylbewerbers, dessen Gesundheitszustand besonders ernst ist, als solche für ihn mit der tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta verbunden sein könne, unabhängig von der Qualität der Aufnahme und der verfügbaren Versorgung in dem für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat. Wäre mit der Überstellung eines Asylbewerbers, der eine besonders schwere psychische oder physische Beeinträchtigung aufweise, die tatsächliche und erwiesene Gefahr einer wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands verbunden, würde die Überstellung eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des genannten Artikels darstellen. Es obliege den Behörden des Mitgliedstaats, der die Überstellung vorzunehmen habe, und gegebenenfalls dessen Gerichten, alle ernsthaften Zweifel hinsichtlich der Auswirkung der Überstellung auf den Gesundheitszustand des Betroffenen zu beseitigen, indem sie die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen träfen, damit seine Überstellung unter Bedingungen stattfinde, die es ermöglichten, seinen Gesundheitszustand in angemessener und hinreichender Weise zu schützen. Sofern diese Vorsichtsmaßnahmen in Anbetracht der besonderen Schwere der Beeinträchtigung des betreffenden Asylbewerbers nicht ausreichten, um sicherzustellen, dass seine Überstellung nicht mit der tatsächlichen Gefahr einer wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands verbunden sein werde, obliege es den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, die Durchführung seiner Überstellung auszusetzen, solange er aufgrund seines Zustands nicht überstellungsfähig sei.

( 41 ) Ich weise darauf hin, dass der EGMR in seinem Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD002921712), entschieden hat, bei der Prüfung, ob die Überstellung einer Person, die im Rahmen des Dublin-Systems internationalen Schutz beantrage, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde, sei zu kontrollieren, ob es in Anbetracht der allgemeinen Situation der Aufnahmestrukturen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat und der besonderen Situation der Beschwerdeführer stichhaltige und erwiesene Gründe für die Annahme gebe, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückführung nach Italien Gefahr liefen, einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Der EGMR hat festgestellt, dass die Situation in Italien zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt keinesfalls mit der Situation in Griechenland zum Zeitpunkt des Urteils vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), vergleichbar gewesen sei und dass in dieser Rechtssache nicht genauso argumentiert werden könne wie in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei. Der EGMR hat gleichwohl entschieden, dass Art. 3 EMRK verletzt wäre, wenn die Beschwerdeführer (ein Elternpaar mit sechs minderjährigen Kindern, wobei die Letzteren wegen ihrer speziellen Bedürfnisse und ihrer extremen Hilfsbedürftigkeit Anspruch auf einen besonderen Schutz hätten) nach Italien zurückgeschickt werden sollten, ohne dass die schweizerischen Behörden von den italienischen Behörden zuvor eine individuelle Zusicherung in Bezug auf eine altersgerechte Betreuung der Kinder einerseits und die Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft andererseits erhalten hätten.

( 42 ) Vgl. Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 93).

( 43 ) Hervorhebung nur hier.

( 44 ) Wie in Nr. 75 der vorliegenden Schlussanträge angekündigt, werde ich zunächst den zweiten Teil der dritten Frage des vorlegenden Gerichts prüfen.

( 45 ) D. h. Inländergleichbehandlung anstatt einheitlicher Mindeststandards.

( 46 ) Das vorlegende Gericht führt aus, das Gemeinsame Europäische Asylsystem beschränke sich nicht darauf, die Phase der Aufnahme von Schutzsuchenden und des Verfahrens auf Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus zu regeln. Vielmehr habe dieses System auch diejenigen Personen in den Blick zu nehmen, denen nach Durchlaufen des Verfahrens vom zuständigen Mitgliedstaat ein internationaler Schutzstatus zuerkannt worden sei. Die Prüfung, ob es in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung gebe, dürfe sich nicht auf die Beantwortung der Frage beschränken, ob die Aufnahmebedingungen während des Verfahrens und das Verfahren selbst frei von solchen Mängeln seien, sondern müsse auch die Lage danach einbeziehen. Dies habe „notwendigerweise zur Konsequenz, dass systemische, nicht menschenwürdegemäße Mängel auch nur in einer Phase insgesamt dazu führen, dass die Betroffenen nicht auf das Verfahren in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat verwiesen werden können, wenn die Betroffenen andernfalls das reale Risiko eingingen, eine Schlechtbehandlung im Sinne des Art. 4 [der Charta] zu erfahren“.

( 47 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 64 bis 69).

( 48 ) ABl. 2004, L 304, S. 12. Die Richtlinie 2004/83 wurde durch die Richtlinie 2011/95 aufgehoben und ersetzt.

( 49 ) ABl. 2005, L 326, S. 13. Die Richtlinie 2005/85 wurde durch die Richtlinie 2013/32 aufgehoben und ersetzt.

( 50 ) Oder mit subsidiärem Schutzstatus.

( 51 ) Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 bestimmt nämlich, dass „[d]ie Mitgliedstaaten [sicherstellen], dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird“. Nach der gleichen Vorschrift beginnt die Sechsmonatsfrist, sobald der für die Prüfung zuständige Mitgliedstaat gemäß der Dublin‑III-Verordnung bestimmt ist, sich der Antragsteller im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und er von der zuständigen Behörde betreut wird.

( 52 ) Vgl. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung.

( 53 ) Vgl. § 126 des Urteils vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1104JUD002921712).

( 54 ) Das vorlegende Gericht fügt hinzu: „Konkret bedeutet dies dann auch, dass dieses Gemeinsame Europäische Asylsystem zumindest ein entsprechend dimensioniertes und den Defiziten des hier zu betrachtenden Personenkreises gerecht werdendes Integrationsprogramm gewährleisten muss, soweit dieses erforderlich ist, um jedenfalls die Inländerbehandlung faktisch und nicht nur formal rechtlich zu gewährleisten und sicherzustellen, was dann von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anforderungen bedingen kann. Dieser Standard stellt im Kontext des Unionsrechts ein flüchtlings- und menschenrechtliches Minimum dar“ (Rn. 25 des Vorlagebeschlusses).

( 55 ) Verfügbar im Internet unter: http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/resources/160908-sfh-bericht-italien-f.pdf.

( 56 ) D. h. der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

( 57 ) D. h. der Bericht einer anderen Nichtregierungsorganisation, der AIDA (Asylum Information Database, Country Report: Italy [Februar 2017], im Folgenden: AIDA-Bericht), verfügbar im Internet unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/italy.

( 58 ) Der italienischen Regierung zufolge beanstandet „[d]er genannte AIDA-Bericht … an dem – auf die Zuerkennung des internationalen Schutzes folgenden – System der Integration und Unterstützung zudem nicht, dass es eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung beinhalte“ (Rn. 88 ihrer Erklärungen).

( 59 ) Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78 bis 80).

( 60 ) Nach Art. 288 AEUV ist nämlich das zu erreichende Ziel für den Mitgliedstaat verbindlich.

( 61 ) Vgl. EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 254).

( 62 ) Wie der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der AIDA-Bericht, die vom vorlegenden Gericht angeführt wurden.

( 63 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 30. Mai 2013, Halaf (C‑528/11, EU:C:2013:342, Rn. 44), und EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 255).

( 64 ) In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof speziell auf die Rolle verwiesen, die dem UNHCR durch das Genfer Abkommen übertragen wurde, das bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist (vgl. Urteil vom 30. Mai 2013, Halaf, C‑528/11, EU:C:2013:342, Rn. 44).

( 65 ) Vgl. EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD0003069609, § 254).

( 66 ) Zum verstärkten Beistand für schutzbedürftige Personen vgl. Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … bei der Umsetzung [des] Kapitels [VII über den Inhalt des internationalen Schutzes] die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen [berücksichtigen], die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben“. In § 94 seines Urteils vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz (CE:ECHR:2014:1109JUD002921712), hat der EGMR entschieden, „dass die Behandlung nur unter das Verbot des Art. 3 [EMRK] fällt, wenn es ein Mindestmaß an Schwere aufweist. Ob ein solches Mindestmaß gegeben ist, hängt von den gesamten Umständen des Falles ab, so unter anderem von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen sowie in einigen Fällen vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.“

( 67 ) Der Kommission zufolge „ist festzuhalten, dass der Vorlagebeschluss keinerlei Anhaltspunkte dafür nennt, dass in Italien die allgemein geltenden Sozialleistungen anerkannten Flüchtlingen oder Begünstigten subsidiären Schutzes in diskriminierender Weise vorenthalten würden“ (Rn. 43 ihrer Erklärungen).

( 68 ) Vgl. Art. 26 der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch die Art. 17 bis 19 des Genfer Abkommens.

( 69 ) Vgl. Art. 27 der Richtlinie 2011/95 und Art. 22 des Genfer Abkommens.

( 70 ) Vgl. Art. 29 der Richtlinie 2011/95. Nach Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten „[a]bweichend von der allgemeinen Regel nach Absatz 1 … die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen beschränken, die sie im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige gewähren“. Vgl. auch die Art. 23 und 24 des Genfer Abkommens.

( 71 ) Vgl. Art. 30 der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch Art. 24 des Genfer Abkommens.

( 72 ) Im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Damit Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte und Leistungen wirksam wahrnehmen können, muss ihren besonderen Bedürfnissen und den speziellen Integrationsproblemen, denen sie sich gegenübersehen, Rechnung getragen werden. Unbeschadet der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, günstigere Normen zu erlassen oder beizubehalten, sollte die Tatsache, dass besonderen Bedürfnissen und den speziellen Integrationsproblemen Rechnung getragen wird, normalerweise nicht zu einer besseren Behandlung führen als derjenigen, die eigenen Staatsangehörigen zuteilwird.“ Hervorhebung nur hier.

( 73 ) Nach diesem Urteil kann allerdings eine Situation erheblicher materieller Not ein Problem im Hinblick auf Art. 3 EMRK – und folglich auch im Hinblick auf Art. 4 der Charta – darstellen.

( 74 ) Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob diese Angabe zutreffend ist.