Rechtssache C‑516/16

Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse eGen

gegen

Agrarmarkt Austria

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Operationelles Programm im Sektor Obst und Gemüse – Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 361/2008 geänderten Fassung – Art. 103b, 103d und 103g – Finanzielle Beihilfe der Europäischen Union – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 – Art. 60 und Anhang IX Nr. 23 – Investitionen, die in den Liegenschaften und/oder Räumlichkeiten der Erzeugerorganisation stattfinden – Begriff – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 20. Dezember 2017

  1. Landwirtschaft–Gemeinsame Marktorganisation–Obst und Gemüse–Erzeugerorganisationen–Finanzielle Beihilfe der Union–Investitionen, die in den Liegenschaften und/oder Räumlichkeiten der Erzeugerorganisation stattfinden–Begriff

    (Verordnung Nr. 543/2011 der Kommission, Anhang IX Nr. 23)

  2. Landwirtschaft–Gemeinsame Marktorganisation–Obst und Gemüse–Erzeugerorganisationen–Finanzielle Beihilfe der Union–Ablehnung der Zahlung des Restbetrags der finanziellen Beihilfe und Antrag auf Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Beihilfe–Vertrauensschutz–Fehlen

    (Verordnung Nr. 543/2011 der Kommission, Anhang IX Nr. 23)

  3. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen–Zulässigkeit–Grenzen–Offensichtlich unerhebliche Fragen und hypothetische Fragen, die in einem eine zweckdienliche Antwort ausschließenden Zusammenhang gestellt werden

    (Art. 267 AEUV)

  4. Eigenmittel der Europäischen Union–Zu Unrecht gezahlte von der Union mitfinanzierte Beihilfen–Absehen von einer Rückforderung–Zulässigkeit–Voraussetzungen

  1.  Die Bezugnahme in Nr. 23 des Anhangs IX der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 der Kommission vom 7. Juni 2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates für die Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse auf Investitionen, die „in den Liegenschaften und/oder Räumlichkeiten der Erzeugerorganisation“ stattfinden, ist wie folgt auszulegen:

    Die bloße Tatsache, dass eine im Rahmen eines operationellen Programms im Sinne von Art. 60 Abs. 1 dieser Verordnung getätigte Investition auf einem Grundstück stattfindet, das einem Dritten und nicht der betreffenden Erzeugerorganisation gehört, stellt grundsätzlich keinen Grund dafür dar, dass die Ausgaben der Erzeugerorganisation für diese Investition aufgrund von Nr. 23 des Anhangs IX nicht beihilfefähig sind.

    Nr. 23 des Anhangs IX erfasst Investitionen, die in Liegenschaften und/oder Räumlichkeiten stattfinden, die sowohl rechtlich als auch tatsächlich unter der alleinigen Kontrolle der betreffenden Erzeugerorganisation stehen, so dass jede Nutzung der Investitionen zugunsten eines Dritten ausgeschlossen ist.

    (vgl. Tenor 1)

  2.  Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die zuständige nationale Behörde nicht daran hindert, die von einer Erzeugerorganisation für eine Investition, die letztlich in Anwendung von Nr. 23 des Anhangs IX der Verordnung Nr. 543/2011 für nicht beihilfefähig erklärt wurde, beantragte Zahlung des Restbetrags einer finanziellen Beihilfe abzulehnen und von der Erzeugerorganisation die ihr für diese Investition bereits gewährte Beihilfe zurückzufordern.

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Ausübung eines Ermessens durch einen Mitgliedstaat hinsichtlich der Frage, ob die Rückforderung zu Unrecht oder vorschriftswidrig gewährter Unionsmittel zweckmäßig ist, mit der Verpflichtung der nationalen Behörden im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik unvereinbar wäre, zu Unrecht oder vorschriftswidrig ausgezahlte Mittel wiedereinzuziehen (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 21. September 1983, Deutsche Milchkontor u. a., 205/82 bis 215/82, EU:C:1983:233, Rn. 22).

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht gegen eine klare unionsrechtliche Bestimmung angeführt werden, und das unionsrechtswidrige Verhalten einer mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten nationalen Behörde kann kein berechtigtes Vertrauen eines Wirtschaftsteilnehmers darauf begründen, in den Genuss einer unionsrechtswidrigen Behandlung zu kommen (Urteile vom 1. April 1993, Lageder u. a., C‑31/91 bis C‑44/91, EU:C:1993:132, Rn. 35, und vom 20. Juni 2013, Agroferm, C‑568/11, EU:C:2013:407, Rn. 52).

    Außerdem stand zum Zeitpunkt der Genehmigung des betreffenden operationellen Programms bereits eindeutig fest, dass im Rahmen der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik eine enge Auslegung der Voraussetzungen für die Übernahme der Ausgaben zulasten der Union zwingend ist, da die Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik die Gleichheit zwischen den Wirtschaftsteilnehmern der Mitgliedstaaten gewährleisten muss und die nationalen Behörden eines Mitgliedstaats daher nicht mittels einer weiten Auslegung einer bestimmten Vorschrift die Wirtschaftsteilnehmer dieses Staates begünstigen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 1985, Italien/Kommission, 55/83, EU:C:1985:84, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. November 2014, Niederlande/Kommission, C‑610/13 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2349, Rn. 41).

    (vgl. Rn. 68, 69, 71, Tenor 2)

  3.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 80, 82)

  4.  Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ist das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es, wenn die Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht zeitlich begrenzt werden, einer Heranziehung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, um die Rückzahlung einer zu Unrecht gezahlten Beihilfe auszuschließen, nicht entgegensteht, sofern dies unter den gleichen Voraussetzungen wie bei der Rückforderung rein nationaler finanzieller Leistungen geschieht, dem Interesse der Union in vollem Umfang Rechnung getragen wird und der gute Glaube des Begünstigten nachgewiesen ist.

    Es kann daher nicht als Verstoß gegen das Unionsrecht angesehen werden, wenn das nationale Recht im Bereich der Rückforderung zu Unrecht gewährter öffentlichen Geldleistungen neben dem Gebot rechtmäßigen Handelns auch den Grundsatz der Rechtssicherheit berücksichtigt, der Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist (Urteile vom 19. September 2002, Huber, C‑336/00, EU:C:2002:509, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 21. Juni 2007, ROM-projecten, C‑158/06, EU:C:2007:370, Rn. 24).

    Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt insbesondere, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Denn die Einzelnen müssen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 21. Juni 2007, ROM-projecten, C‑158/06, EU:C:2007:370, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    Dem Interesse der Union an der Rückforderung von Beihilfen, die unter Verstoß gegen die Voraussetzungen für ihre Gewährung ausgezahlt wurden, muss allerdings bei der Würdigung der in Betracht kommenden Interessen in vollem Umfang Rechnung getragen werden, und zwar auch dann, wenn man ungeachtet der Ausführungen in der vorstehenden Randnummer davon ausginge, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Rückforderung der Beihilfe vom Begünstigten entgegensteht (Urteile vom 19. September 2002, Huber, C‑336/00, EU:C:2002:509, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 21. Juni 2007, ROM-projecten, C‑158/06, EU:C:2007:370, Rn. 32).

    Außerdem kann sich der Begünstigte der Rückforderung nur widersetzen, wenn er hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Beihilfe guten Glaubens war (Urteil vom 19. September 2002, Huber, C‑336/00, EU:C:2002:509, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    (vgl. Rn. 97, 98, 100, 101, Tenor 3)