Rechtssache C‑452/16 PPU

Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen Krzysztof Marek Poltorak

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 1 – Begriff ‚justizielle Entscheidung‘ – Art. 6 Abs. 1 – Begriff ‚ausstellende Justizbehörde‘ – Vom Rikspolisstyrelsen (Reichspolizeiamt, Schweden) zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 10. November 2016

  1. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen–Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten–Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses–Polizeibehörde eines Mitgliedstaats–Ausschluss–Begriff „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses–Von dieser Polizeibehörde ausgestellter Europäischer Haftbefehl–Ausschluss

    (Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1)

  2. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen–Auslegung–Zeitliche Wirkung der Auslegungsurteile–Rückwirkung–Grenzen–Folgen des Urteils–Folgen, die keine Begrenzung der zeitlichen Wirkung des Urteils rechtfertigen

    (Art. 267 AEUV)

  1.  Der Begriff „Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts; Art. 6 Abs. 1 ist dahin auszulegen, dass eine Polizeibehörde nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne dieser Vorschrift fällt, so dass ein von ihr zur Vollstreckung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wird, ausgestellter Europäischer Haftbefehl nicht als „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung angesehen werden kann.

    Der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verankerte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wonach die vollstreckende Justizbehörde den von der ausstellenden Justizbehörde erlassenen Haftbefehl zu vollstrecken hat, beruht nämlich auf der Prämisse, dass vor der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls eine Justizbehörde zur Ausübung einer justiziellen Kontrolle tätig geworden ist. Wird ein Europäischer Haftbefehl von einer Stelle ausgestellt, die wie eine Polizeibehörde keine Justizbehörde ist, besteht aber für die vollstreckende Justizbehörde nicht die Gewissheit, dass die Ausstellung dieses Haftbefehls einer solchen justiziellen Kontrolle unterlag, so dass keine ausreichende Rechtfertigung für das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten besteht, das die tragende Grundlage des Rahmenbeschlusses darstellt. Insoweit sind die spezielle Ausgestaltung der Polizeibehörden innerhalb der Exekutive und der Grad ihrer etwaigen Autonomie unerheblich.

    (vgl. Rn. 44-45, 52 und Tenor)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 55-58)