Rechtssache C‑290/16

Air Berlin plc & Co. Luftverkehrs KG

gegen

Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Union – Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 – Bestimmungen zur Preisfestsetzung – Art. 22 Abs. 1 – Art. 23 Abs. 1 – Pflichtangaben bei der Darstellung der der Öffentlichkeit zugänglichen Preise – Pflicht zur Ausweisung der tatsächlich anfallenden Steuern, Gebühren, Zuschläge oder Entgelte – Preisfreiheit – Erhebung von Bearbeitungsgebühren im Fall eines vom Fluggast stornierten oder nicht angetretenen Fluges – Verbraucherschutz“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 6. Juli 2017

  1. Verkehr–Luftverkehr–Gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Union–Verordnung Nr. 1008/2008–Preisfestsetzung–Pflichtangaben bei der Darstellung der den Fluggästen zugänglichen Preise–Pflicht, die von der Öffentlichkeit für die Steuern, die Flughafengebühren und die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte geschuldeten Beträge von den Preisen getrennt auszuweisen

    (Verordnung Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 23 Abs. 1 Satz 3)

  2. Verkehr–Luftverkehr–Gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Union–Verordnung Nr. 1008/2008–Preisfestsetzung–Preisfreiheit–Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Luftbeförderungsverträge, nach der im Fall eines vom Fluggast stornierten oder nicht angetretenen Fluges Bearbeitungsgebühren erhoben werden können–Nationale Regelung zur Umsetzung des Verbraucherschutzrechts der Union, nach der eine solche Klausel für nichtig erklärt werden kann–Zulässigkeit

    (Verordnung Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 22 Abs. 1)

  1.  Art. 23 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft ist dahin auszulegen, dass Luftfahrtunternehmen die von den Kunden für die Steuern, die Flughafengebühren und die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 Buchst. b bis d dieser Verordnung geschuldeten Beträge bei der Veröffentlichung ihrer Flugpreise gesondert ausweisen müssen und sie daher nicht – auch nicht teilweise – in den Flugpreis gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 Buchst. a der Verordnung einbeziehen dürfen.

    Diese Auslegung wird durch eine Betrachtung sowohl der Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung gehört, als auch ihres Zusammenhangs bestätigt. Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 soll für Flugdienste von einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats u. a. Information und Transparenz in Bezug auf die Preise gewährleisten und trägt somit zum Schutz des Kunden, der diese Dienste in Anspruch nimmt, bei. Das Ziel der Information und Transparenz in Bezug auf die Preise würde nicht erreicht, wenn Art. 23 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 1008/2008 dahin auszulegen wäre, dass er den Luftfahrtunternehmen die Wahl ließe, die Steuern, die Flughafengebühren und die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte entweder in den Flugpreis einzubeziehen oder sie gesondert auszuweisen.

    Eine andere Auslegung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 1008/2008 nähme dieser Bestimmung im Übrigen jede praktische Wirksamkeit. Zum einen führte nämlich eine teilweise Einbeziehung der in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 Buchst. b bis d der Verordnung Nr. 1008/2008 genannten Posten in den Flugpreis dazu, dass nur Beträge ohne Bezug zur Realität ausgewiesen würden. Zum anderen hätte eine vollständige Einbeziehung dieser Posten in den Flugpreis zur Folge, dass der als Flugpreis angegebene Betrag dem zu zahlenden Endpreis entsprechen könnte. Die Pflicht zur Ausweisung des zu zahlenden Endpreises ist jedoch bereits in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung normiert.

    (vgl. Rn. 29-32, 36, Tenor 1)

  2.  Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Anwendung einer nationalen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen zur Nichtigerklärung einer Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen führen kann, nach der von Kunden, die einen Flug nicht angetreten oder storniert haben, gesonderte pauschalierte Bearbeitungsentgelte erhoben werden können.

    Es handelt sich somit um eine in allen Wirtschaftszweigen anwendbare allgemeine Richtlinie zum Schutz der Verbraucher. Vor diesem Hintergrund könnte eine Nichtanwendbarkeit dieser Richtlinie im Bereich der durch die Verordnung Nr. 1008/2008 geregelten Flugdienste nur dann zugelassen werden, wenn dies in den Bestimmungen dieser Verordnung klar vorgesehen wäre. Einen solchen Schluss lässt jedoch weder der Wortlaut von Art. 22 der Verordnung Nr. 1008/2008, der die Preisfreiheit betrifft, noch der der übrigen Bestimmungen der Verordnung zu, obwohl die Richtlinie 93/13 zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung bereits in Kraft war.

    Auch aus dem mit Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 verfolgten Ziel lässt sich nicht ableiten, dass bei Luftbeförderungsverträgen die allgemeinen Vorschriften zum Schutz der Verbraucher vor missbräuchlichen Klauseln nicht eingehalten werden müssten. So hieß es im fünften Erwägungsgrund der durch die Verordnung Nr. 1008/2008 aufgehobenen Verordnung (EWG) Nr. 2409/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über Flugpreise und Luftfrachtraten (ABl. 1992, L 240, S. 15), dass „[d]ie freie Preisbildung … durch geeignete Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Interessen der Verbraucher und der Industrie ergänzt werden“ sollte.

    Das Urteil vom 18. September 2014, Vueling Airlines (C‑487/12, EU:C:2014:2232), lässt keinen anderen Schluss zu. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 einer Regelung wie der in jener Rechtssache fraglichen entgegensteht, nach der Luftfahrtunternehmen in jedem Fall verpflichtet sind, das von ihren Fluggästen aufgegebene Gepäck zu befördern, ohne für dessen Beförderung Zusatzkosten verlangen zu dürfen. Er hat hingegen nicht erklärt, dass die Preisfreiheit allgemein der Anwendung jeglicher Verbraucherschutzregelung entgegenstünde.

    Diesem Urteil lässt sich somit nicht entnehmen, dass Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstünde, mit der die verbraucherschutzrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts wie die der Richtlinie 93/13 umgesetzt werden.

    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die in Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1008/2008 verankerte Preisfreiheit für Flugdienste innerhalb der Union der Anwendung einer solchen nationalen Regelung auf Klauseln in Luftbeförderungsverträgen nicht entgegenstehen kann. Eine gegenteilige Antwort würde den Verbrauchern die Rechte nehmen, die ihnen die Richtlinie 93/13 im Bereich der Preisfestsetzung für Flugdienste gewährt, und es ermöglichen, dass die Luftfahrtunternehmen ohne jede Kontrolle missbräuchliche Preisfestsetzungsklauseln in die Verträge mit Fluggästen aufnehmen könnten.

    (vgl. Rn. 44-52, Tenor 2)