Verbundene Rechtssachen C-116/16 und 117/16
Skatteministeriet
gegen
T Danmark
und
Y Denmark Aps
(Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret)
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Februar 2019
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435/EWG – Befreiung der von Gesellschaften eines Mitgliedstaats an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten ausgeschütteten Gewinne von der Steuer – Nutzungsberechtigter der ausgeschütteten Gewinne – Rechtsmissbrauch – In einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die an ein verbundenes Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, Dividenden zahlt, die dann in vollem oder nahezu vollem Umfang in ein Gebiet außerhalb der Europäischen Union fließen – Zum Quellensteuerabzug verpflichtete Tochtergesellschaft“
Recht der Europäischen Union – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Verbot, sich betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht zu berufen – Fall von Betrug oder Missbrauch – Verpflichtung, die in Art. 5 der Richtlinie 90/435 für Dividenden vorgesehene Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle zu verwehren – Fehlen von einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen zur Verhinderung von Betrug, die die Verwehrung der Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle vorsehen – Keine Auswirkung
(Richtlinie 90/435 des Rates in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung, Art. 5)
(vgl. Rn. 70-72, 76, 77, 79, 82, 83, 91, 92 und 95 sowie Tenor 2)
Recht der Europäischen Union – Missbräuchliche Ausübung eines durch das Unionsrecht begründeten Rechts – Transaktionen, die eine missbräuchliche Praxis darstellen – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte – Steuerumgehung oder -vermeidung – Künstliche Gestaltungen – Durchleitungsgesellschaft – Steuerliche Vorschriften – Direkte Besteuerung – Richtlinie 90/435 – Beweise für einen Rechtsmissbrauch – Kriterien – Objektive und subjektive Elemente – Begriff – Indizien für einen Rechtsmissbrauch – Einbeziehung – Voraussetzung – Objektive und übereinstimmende Indizien
(Richtlinie 90/435 des Rates in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung)
(vgl. Rn. 97, 98, 100, 108 und 114 sowie Tenor 3)
Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435 – Eigenschaft als Nutzungsberechtigter von Dividenden – Weigerung, eine Einheit als Nutzungsberechtigte von Zinsen oder Lizenzgebühren anzusehen, oder Feststellung eines von ihr begangenen Rechtsmissbrauchs – Beweislast – Erfordernis der Ermittlung des tatsächlichen Nutzungsberechtigten – Fehlen
(Richtlinie 90/435 des Rates in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung)
(vgl. Rn. 117, 118 und 120 sowie Tenor 4)
Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435 – Befreiung der Zahlung von Dividenden von allen erhebbaren Steuern – Nichtgeltung der Befreiung in Fällen von Rechtsmissbrauch – Nationale Regelung, nach der auf die Dividenden Steuern zu entrichten sind – Zulässigkeit – Möglichkeit, sich auf die im Vertrag verankerten Freiheiten zu berufen – Ausschluss
(AEU-Vertrag; Richtlinie 90/435 des Rates in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 2)
(vgl. Rn. 123 und Tenor 5)
Zusammenfassung
In den am 26. Februar 2019 ergangenen Urteilen N Luxembourg 1 u. a. (verbundene Rechtssachen C-115/16, C-118/16, C-119/16 und C-299/16) und T Danmark und Y Denmark (C-116/16 und C-117/16) hatte sich der Gerichtshof mit der Auslegung des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf die Vorschriften des Unionsrechts berufen kann, sowie mit dem Begriff des Nutzungsberechtigten von Zinsen und Lizenzgebühren (Richtlinie 2003/49 ( 1 )) bzw. Dividenden (Richtlinie 90/435 ( 2 ) in der durch die Richtlinie 2003/123 ( 3 ) geänderten Fassung) zu befassen.
Es ging in den genannten Rechtssachen um grenzüberschreitende Zahlungen von Dividenden bzw. Zinsen, die zwischen Gesellschaften erfolgten, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig waren. Der Gerichtshof hatte zu prüfen, welche Tragweite das Verbot des Rechtsmissbrauchs bei einer Quellensteuerbefreiung gemäß den genannten Richtlinien hat, die u. a. voraussetzt, dass die Einheit, die die Dividenden bzw. Zinsen erhält, deren „Nutzungsberechtigter“ ist. In den Ausgangsverfahren stellte sich die Frage, wie konzerninterne Zahlungen zu behandeln sind, bei denen die ausschüttende Gesellschaft Dividenden bzw. Zinsen an eine oder mehrere Gesellschaften zahlt, die die in den Richtlinien genannten Voraussetzungen zwar formal erfüllen, das Geld aber in vollem oder nahezu vollem Umfang an einen wirtschaftlichen Eigentümer weiterleiten, der außerhalb des Hoheitsgebiets der Union ansässig ist und daher nicht in den Genuss der Steuerbefreiung kommen kann.
Zu dem in den Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt hatte Dänemark zur Umsetzung der Richtlinien 2003/49 und 90/435 keine Bestimmungen speziell zur Bekämpfung von Rechtsmissbrauch angenommen, sondern lediglich Bestimmungen, die der Umsetzung der in den Richtlinien vorgesehenen Befreiungsregelungen dienten. Danach war bei grenzüberschreitenden Zahlungen zwischen Unternehmen, die die in den Richtlinien festgelegten Voraussetzungen erfüllen, keine Quellensteuer zu erheben. In den Ausgangsverfahren hatte sich die dänische Steuerverwaltung jedoch geweigert, diese Befreiung bei der Besteuerung von Dividenden bzw. Zinsen anzuwenden. Sie vertrat die Auffassung, dass in anderen Mitgliedstaaten als Dänemark ansässige Gesellschaften, die von dänischen Gesellschaften Zinsen bzw. Dividenden erhalten hätten, nicht tatsächlich deren Nutzungsberechtigte seien. Sie verpflichtete die dänischen Gesellschaften, die die Zinsen bzw. Dividenden zahlten, daher zur Einbehaltung der Quellensteuer. In den Rechtsstreitigkeiten über diese Besteuerungen waren verschiedene Fragen zu klären: der Begriff des „Nutzungsberechtigten“, die Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage für die Verwehrung der Steuerbefreiung wegen Rechtsmissbrauchs und, sofern es eine solche Rechtsgrundlage gibt, die Tatbestandsmerkmale und der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs.
Zum Ausdruck „Nutzungsberechtigter“, der in der Richtlinie 2003/49 verwendet wird, hat der Gerichtshof festgestellt, dass damit nicht ein formal bestimmter Empfänger gemeint ist, sondern derjenige, dem die Zinsen, die er erhält, wirtschaftlich zustehen und der daher frei über deren Verwendung bestimmen kann. Der Gerichtshof hat dabei auf das Ziel der Richtlinie abgestellt und den Kommentar zum OECD-Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen herangezogen. Auch wenn in der Richtlinie 90/435 nicht ausdrücklich auf den Begriff des Nutzungsberechtigten abgestellt wird, ist nach Auffassung des Gerichtshofs auch die in dieser Richtlinie vorgesehene Befreiung von der Quellensteuer den in einem Mitgliedstaat der Union ansässigen Nutzungsberechtigten von Dividenden vorbehalten.
Was sodann die Frage angeht, unter welchen Voraussetzungen die betreffenden Steuerbefreiungen wegen der Feststellung eines Rechtsmissbrauchs verwehrt werden können, erinnert der Gerichtshof daran, dass im Unionsrecht der zwingende allgemeine Grundsatz gilt, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann. Deshalb muss ein Mitgliedstaat die Anwendung von Vorschriften des Unionsrechts verweigern, wenn diese nicht geltend gemacht werden, um die Ziele der Vorschriften zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines im Unionsrecht vorgesehenen Vorteils zu gelangen, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen lediglich formal erfüllt sind. Die Anwendung der Vorschriften würde in einem solchen Fall nicht mit deren Zweck in Einklang stehen.
Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Transaktionen, die nach Ansicht der dänischen Steuerverwaltung einen Rechtsmissbrauch darstellen und daher mit den Zielen der Richtlinien 2003/49 bzw. 90/435 unvereinbar sein könnten, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und dass es nicht mit den Zielen dieser Richtlinien vereinbar wäre, Steuergestaltungen zuzulassen, deren einziger Zweck oder Hauptzweck darin besteht, in den Genuss der Steuervorteile gemäß den Richtlinien zu gelangen. Der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots steht auch nicht das Recht entgegen, von dem Wettbewerb zu profitieren, der mangels einer Harmonisierung der Einkommensteuer zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet. Dass der Steuerpflichtige bestrebt ist, das Steuersystem zu finden, das für ihn am vorteilhaftesten ist, kann nicht bereits generell die Vermutung eines Betrugs oder Missbrauchs begründen. Sofern die betreffende Transaktion wirtschaftlich betrachtet jedoch eine rein künstliche Gestaltung darstellt und darauf ausgerichtet ist, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen, hat der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf das Recht oder den Vorteil aus dem Unionsrecht. Demnach haben die nationalen Behörden und Gerichte die Rechte aus den betreffenden Richtlinien zu verwehren, wenn diese betrügerisch oder missbräuchlich geltend gemacht werden. Das Fehlen von einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen zur Verhinderung von Betrug ändert nichts an dieser Verpflichtung.
Der Gerichtshof ist daher zu dem Schluss gelangt, dass die nationalen Behörden und Gerichte einem Steuerpflichtigen die Befreiung von der Quellensteuer, die in den Richtlinien 2003/49 und 90/435 für von einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft gezahlte Zinsen bzw. Dividenden vorgesehen ist, in Fällen von Betrug oder Missbrauch nach dem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf die Vorschriften des Unionsrechts berufen kann, auch dann zu verwehren haben, wenn dies nicht in einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist.
Der Gerichtshof ist weiter der Frage nachgegangen, was die Tatbestandsmerkmale eines Rechtsmissbrauchs sind und wie diese nachzuweisen sind. Unter Verweis auf seine gefestigte Rechtsprechung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Feststellung eines Missbrauchs zum einen eine Reihe objektiver Umstände und zum anderen ein subjektives Element voraussetzt, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Danach kann ein Konzern, der nicht aus Gründen geschaffen wird, die durch die wirtschaftliche Realität bedingt sind, der eine Pro-forma-Struktur hat und dessen Hauptzweck oder einer seiner Hauptzwecke die Erlangung eines Steuervorteils ist, der dem Ziel oder Zweck der anwendbaren Steuervorschriften zuwiderläuft, als künstliches Gebilde angesehen werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn bei Zinsen bzw. Dividenden die Zahlung von Steuern dadurch vermieden wird, dass im Konzern zwischen die Gesellschaft, die die Zinsen bzw. Dividenden zahlt, und die Einheit, die Nutzungsberechtigte der Zinsen bzw. Dividenden ist, eine Durchleitungseinheit geschaltet wird. Dass Zinsen bzw. Dividenden kurz nach ihrem Erhalt von der Gesellschaft, die sie erhält, in vollem oder nahezu vollem Umfang an Einheiten weitergeleitet werden, die die Voraussetzungen der Richtlinie 2003/49 bzw. der Richtlinie 90/435 nicht erfüllen, ist ein Indiz für eine künstliche Gestaltung, mit der die Befreiung gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 bzw. Art. 5 der Richtlinie 90/435 zu Unrecht erlangt werden soll.
Schließlich hat sich das Gericht der Frage gewidmet, wer für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs die Beweislast trägt. Insoweit hat er in seinem Urteil zu der Richtlinie 2003/49 festgestellt, dass sich aus dieser Richtlinie ergibt, dass der Quellenmitgliedstaat verlangen kann, dass die Gesellschaft, die die Zinsen erhält, nachweist, dass sie Nutzungsberechtigte der Zinsen ist. Denn die zuständigen Steuerbehörden sind durch nichts daran gehindert, von den Steuerpflichtigen die Nachweise zu verlangen, die sie für die zutreffende Festsetzung der betreffenden Steuern und Abgaben als erforderlich ansehen, und die beantragte Steuerbefreiung bei Nichtvorlage dieser Nachweise gegebenenfalls zu verweigern. In seinem Urteil zu der Richtlinie 90/435 hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Frage, wer für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs die Beweislast trägt, in dieser Richtlinie nicht geregelt ist. Er hat entschieden, dass die Steuerbehörde des Quellenmitgliedstaats, wenn sie die Befreiung gemäß der Richtlinie 90/435 wegen Rechtsmissbrauchs verwehren will, nachzuweisen hat, dass die Tatbestandsmerkmale des Rechtsmissbrauchs erfüllt sind. Sie muss dabei nicht ermitteln, wer Nutzungsberechtigter der Zinsen ist. Sie hat nachzuweisen, dass es sich bei der Gesellschaft, die die Nutzungsberechtigte der Zinsen sein soll, lediglich um eine Durchleitungsgesellschaft handelt, über die ein Rechtsmissbrauch begangen worden ist.
( 1 ) Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 157, S. 49).
( 2 ) Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6).
( 3 ) Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 90/435/EWG über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 7, S. 41).