SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 21. Juni 2018 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C-391/16, C-77/17 und C-78/17

M

gegen

Ministerstvo vnitra

(Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší správní soud [Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik])

und

X (C-77/17)

X (C-78/17)

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil du contentieux des étrangers [Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Verweigerung der Zuerkennung bzw. Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat – Art. 14 Abs. 4 bis 6 – Auslegung und Gültigkeit – Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 78 Abs. 1 AEUV – Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“

I. Einleitung

1.

Die Vorabentscheidungsersuchen des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 betreffen die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95/EU ( 2 ) sowie die Gültigkeit dieser Bestimmung im Hinblick auf Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und auf Art. 78 Abs. 1 AEUV.

2.

In der Rechtssache C‑391/16 fragt der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) den Gerichtshof nach der Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2011/95 im Hinblick auf dieselben Artikel und auf Art. 6 Abs. 3 EUV.

3.

Diese Ersuchen ergehen in Rechtsstreitigkeiten über die Gültigkeit der Entscheidungen, mit denen die zuständigen nationalen Asylbehörden aufgrund der belgischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 Herrn X die Rechtsstellung als Flüchtling sowie den subsidiären Schutzstatus verweigert (Rechtssache C‑77/17) und aufgrund der nationalen (belgischen bzw. tschechischen) Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 14 Abs. 4 dieser Richtlinie Herrn X (Rechtssache C‑78/17) und Herrn M (Rechtssache C‑391/16) die zuvor zuerkannte Rechtsstellung als Flüchtling wieder entzogen haben.

4.

Nach Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 kann ein Mitgliedstaat im Wesentlichen die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung aberkennen und deren Zuerkennung verweigern, wenn der betreffende Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit oder für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt. In Art. 14 Abs. 6 sind die Mindestrechte aufgeführt, die diesem Flüchtling dennoch zustehen müssen, solange er sich in dem fraglichen Mitgliedstaat aufhält.

5.

Mit ihren Vorabentscheidungsfragen möchten die vorlegenden Gerichte im Kern wissen, ob diese Bestimmungen gegen das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 3 ) (im Folgenden: Genfer Abkommen) verstoßen und folglich im Hinblick auf Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV, wonach die gemeinsame Asylpolitik mit diesem Abkommen im Einklang stehen muss, ungültig sind.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

6.

In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des Genfer Abkommens wird als „Flüchtling“ jede Person definiert, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung ... außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose [Person] ... außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“ ( 4 ).

7.

Art. 1 Abschnitt C des Genfer Abkommens bestimmt:

„Eine Person, auf die die Bestimmungen des [Abschnitts] A zutreffen, fällt nicht mehr unter dieses Abkommen,

1.

wenn sie sich freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, unterstellt; oder

2.

wenn sie nach dem Verlust ihrer Staatsangehörigkeit diese freiwillig wiedererlangt hat; oder

3.

wenn sie eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie erworben hat, genießt; oder

4.

wenn sie freiwillig in das Land, das sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen sie sich befindet, zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat; oder

5.

wenn sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt ...

6.

wenn es sich um eine Person handelt, die keine Staatsangehörigkeit besitzt, falls sie nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz hat.

...“

8.

Art. 1 Abschnitt F des Genfer Abkommens lautet:

„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

a)

dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen haben, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen;

b)

dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

c)

dass sie sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.“

9.

Art. 33 des Genfer Abkommens sieht vor:

„1.   Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

2.   Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

10.

Nach Art. 42 Ziff. 1 des Genfer Abkommens kann jeder Staat „[i]m Zeitpunkt der Unterzeichnung, der Ratifikation oder des Beitritts ... zu den Artikeln des Abkommens, mit Ausnahme der Artikel 1, 3, 4, 16 (1), 33, 36 bis 46 einschließlich, Vorbehalte machen“.

B.   Unionsrecht

11.

Art. 2 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

...

d)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e)

‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

…“

12.

In Art. 11 („Erlöschen“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist nicht mehr Flüchtling, wenn er

a)

sich freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt oder

b)

nach dem Verlust seiner Staatsangehörigkeit diese freiwillig wiedererlangt hat oder

c)

eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, genießt oder

d)

freiwillig in das Land, das er aus Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder außerhalb dessen er aus Furcht vor Verfolgung geblieben ist, zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat oder

e)

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder

f)

als Staatenloser nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde, in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

13.

Art. 12 („Ausschluss“) Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

a)

ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

b)

eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; ...

c)

sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen.“

14.

Nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 erkennen „[d]ie Mitgliedstaaten ... einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu“.

15.

Art. 14 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(1)   Bei Anträgen auf internationalen Schutz, die nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG[ ( 5 )] gestellt wurden, erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, wenn er gemäß Artikel 11 nicht länger Flüchtling ist.

(3)   Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, falls der betreffende Mitgliedstaat nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft feststellt, dass

a)

die Person gemäß Artikel 12 von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist;

b)

eine falsche Darstellung oder das Verschweigen von Tatsachen seinerseits, einschließlich der Verwendung falscher oder gefälschter Dokumente, für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschlaggebend war.

(4)   Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)

es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(5)   In den in Absatz 4 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten entscheiden, einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist.

(6)   Personen, auf die die Absätze 4 oder 5 Anwendung finden, können die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte geltend machen, sofern sie sich in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.“

16.

Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, der in deren Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) steht, sieht vor, dass „[d]ie Bestimmungen dieses Kapitels ... nicht die in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Rechte [berühren]“.

17.

Art. 21 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.

(2)   Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

a)

es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder

b)

er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(3)   Die Mitgliedstaaten können den einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel widerrufen, beenden oder seine Verlängerung bzw. die Erteilung eines Aufenthaltstitels ablehnen, wenn Absatz 2 auf die betreffende Person Anwendung findet.“

C.   Nationale Rechtsvorschriften

1. Belgisches Recht

18.

Gemäß Art. 48/3 § 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern (im Folgenden: belgisches Ausländergesetz) ( 6 ) in seiner für die Sachverhalte der Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 maßgeblichen Fassung wird „[d]ie Rechtsstellung als Flüchtling ... einem Ausländer zuerkannt, der die Bedingungen erfüllt, die in Artikel 1 des [Genfer Abkommens] vorgesehen sind“.

19.

In Art. 48/4 § 1 des belgischen Ausländergesetzes sind die Voraussetzungen aufgeführt, unter denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird.

20.

Nach Art. 52/4 Abs. 2 des belgischen Ausländergesetzes kann „[d]er Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose [im Folgenden: GKFS] ... die Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling verweigern, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt. In diesem Fall gibt der [GKFS] eine Stellungnahme über die Vereinbarkeit einer Entfernungsmaßnahme mit den Artikeln 48/3 und 48/4 ab.“

21.

Art. 55/3/1 des belgischen Ausländergesetzes bestimmt:

„§ 1   Der [GKFS] kann die Rechtsstellung als Flüchtling entziehen, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.

§ 3   Wenn der [GKFS] die Rechtsstellung als Flüchtling in Anwendung von § 1 ... entzieht, gibt er im Rahmen seines Beschlusses eine Stellungnahme über die Vereinbarkeit einer Entfernungsmaßnahme mit den Artikeln 48/3 und 48/4 ab.“

22.

Die in Art. 55/3/1 § 1 des belgischen Ausländergesetzes genannten Gründe bedeuten nach Art. 55/4 § 2 dieses Gesetzes auch den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus.

2. Tschechisches Recht

23.

Nach § 2 Abs. 6 des Zákon č. 325/1999 Sb., o azylu (Gesetz Nr. 325/1999 über das Asyl, im Folgenden: tschechisches Asylgesetz) in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑391/16 geltenden Fassung gilt als Flüchtling im Sinne dieses Gesetzes („azylant“) „ein Ausländer, dem aufgrund dieses Gesetzes das Asylrecht verliehen wurde, und zwar für die Geltungsdauer der Entscheidung über die Gewährung des Asylrechts“.

24.

Nach § 12 Buchst. b des tschechischen Asylgesetzes wird das Asylrecht einem Ausländer gewährt, wenn er nachweislich eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines der in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des Genfer Abkommens aufgeführten Gründe hat.

25.

Gemäß § 17 Abs. 1 Buchst. i des tschechischen Asylgesetzes wird das Asylrecht entzogen, „wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Staates darstellt“. § 17 Abs. 1 Buchst. j dieses Gesetzes sieht den Entzug des Asylrechts vor, „wenn der Flüchtling wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde und deshalb eine Gefahr für die Sicherheit des Staates darstellt“. Diese Gründe haben nach § 15a des tschechischen Asylgesetzes zur Folge, dass kein subsidiärer Schutz zu gewähren ist.

26.

Nach den Angaben des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) kommen einem „azylant“ qualitativ größere Vergünstigungen zugute als einem „einfachen“ Flüchtling, der die Voraussetzungen von Art. 1 Abschnitt A des Genfer Abkommens erfüllt. Wer die Rechtsstellung als Flüchtling verliert, ist kein „azylant“ mehr und verliert somit auch diese Vergünstigungen.

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

A.   Rechtssache C-77/17

27.

Herr X ist nach eigenem Bekunden ivorischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Bété an. Er reiste im Juli 2003 als 12‑Jähriger nach Belgien ein. Herr X begleitete damals seinen Vater, der seinerzeit dem früheren Präsidenten Laurent Gbagbo nahestand und als Diplomat in der Botschaft der Elfenbeinküste in Brüssel tätig war.

28.

Im Jahr 2010 wurde Herr X vom Tribunal de première instance de Bruxelles (Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) wegen vorsätzlicher Körperverletzung, unberechtigten Besitzes einer Stichwaffe und Besitzes einer verbotenen Waffe zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt. Im Jahr 2011 verurteilte ihn die Cour d’appel de Bruxelles (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen über 14 und unter 16 Jahren zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.

29.

Im Jahr 2013 stellte Herr X einen ersten Asylantrag, den er später wieder zurückzog. Im Jahr 2015 reichte er einen zweiten Asylantrag ein, den er damit begründete, er befürchte, verfolgt zu werden, weil sein Vater und seine Familienangehörigen enge Beziehungen zum früheren ivorischen Regime und zu dem ehemaligen Präsidenten Laurent Gbagbo unterhalten hätten.

30.

Mit Entscheidung vom 19. August 2016 lehnte der GKFS es gemäß Art. 52/4 Abs. 2 des belgischen Ausländergesetzes ab, ihm die Rechtsstellung als Flüchtling zuzuerkennen. Der GKFS war der Ansicht, Herr X stelle wegen der von ihm wiederholt begangenen besonders schweren Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne dieser Bestimmung dar. Aus denselben Gründen schloss er Herrn X nach Art. 55/4 § 2 dieses Gesetzes vom subsidiären Schutz aus. Zudem gab der GKFS nach Art. 52/4 des Gesetzes eine Stellungnahme ab, wonach Herr X wegen seiner Furcht vor Verfolgung nicht nach der Elfenbeinküste abgeschoben werden könne, weil eine solche Maßnahme mit den Art. 48/3 und 48/4 des Gesetzes unvereinbar wäre.

31.

Gegen diese Entscheidung legte Herr X einen Rechtsbehelf bei dem vorlegenden Gericht ein. Diesem Gericht zufolge setzt Art. 52/4 Abs. 2 des belgischen Ausländergesetzes Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 in belgisches Recht um. Es fragt sich, ob diese Bestimmungen im Hinblick auf Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV gültig sind.

32.

Das vorlegende Gericht weist im Wesentlichen darauf hin, dass Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 die Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats als Grund dafür vorsehe, die Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling zu verweigern. Dieser Grund sei aber weder unter den in Art. 1 Abschnitt F des Genfer Abkommens abschließend aufgezählten Ausschlussgründen noch in einer anderen Bestimmung dieses Abkommens zu finden. Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie mache die in den Art. 32 und 33 dieses Abkommens beschriebenen Fälle zu Ausschlussgründen, obwohl diese Artikel nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, sondern die Ausweisung von Flüchtlingen regelten. Daher stelle sich die Frage, ob Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie nicht unter Missachtung des Genfer Abkommens eine neue Form des Ausschlusses von der Rechtsstellung als Flüchtling schaffe, die in diesem Abkommen nicht vorgesehen sei.

33.

Das vorlegende Gericht verweist darauf, dass der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (HCR oder UNHCR) eine besonders kritische Stellungnahme zu Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/83 ( 7 ) (der Vorgängerin der Richtlinie 2011/95) abgegeben habe. Die einschlägige Passage dieser Stellungnahme lautet ( 8 ):

„Artikel 14 (4) der Richtlinie [2004/83] birgt das Risiko wesentlicher Änderungen der Ausschlussgründe [des Genfer Abkommens] in sich, indem Artikel 33 (2) [dieses Abkommens] (Ausnahmen [vom Grundsatz der Nichtzurückweisung]) als Grundlage für den Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft hinzugefügt wird. Gemäß [dem Abkommen] dienen die Ausschlussgründe und die Ausnahme [vom Grundsatz der Nichtzurückweisung] unterschiedlichen Zwecken. Artikel 1 [Abschnitt] F enthält eine abschließende Aufzählung von Ausschlussgründen, die auf dem Verhalten des Antragstellers basieren, und die ihm zugrunde liegende Argumentation stützt sich auf zwei Überlegungen: Erstens sind gewisse Handlungen so schwerwiegend, dass die Täter keinen internationalen Schutz verdienen. Zweitens sollte der flüchtlingsrechtliche Rahmen einer Bestrafung von Schwerverbrechern nicht im Weg stehen. Dagegen befasst sich Artikel 33 (2) mit der Behandlung von Flüchtlingen und der Definition der Umstände, [unter] denen diese dennoch zurückgewiesen werden können. Der Zweck dieser Vorschrift besteht in der Gewährleistung der Sicherheit des Aufnahmelandes oder der Allgemeinheit. Die Bestimmung knüpft an die Bewertung an, dass der betreffende Flüchtling als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes oder als eine Gefahr für die Allgemeinheit anzusehen ist, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Artikel 33 (2) wurde jedoch nicht verfasst, um einen Grund für die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu schaffen ... Die Gleichsetzung der Ausnahmen [vom Grundsatz der Nichtzurückweisung] gemäß Artikel 33 (2) mit den Ausschlussgründen des Artikels 1 [Abschnitt] F wäre demnach mit [dem Genfer Abkommen] unvereinbar. Darüber hinaus würde dies zu einer falschen Auslegung der beiden [Vorschriften des Abkommens] führen.

Die Formulierung ‚einem Flüchtling ... zuerkannte Rechtsstellung‘ versteht sich daher als Bezugnahme auf das Asylrecht (‚Rechtsstellung‘), das vom Staat gewährt wird, und nicht auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 [Abschnitt A Ziff. 2 des Genfer Abkommens] ... Nichtsdestotrotz sind die Staaten verpflichtet, die Rechte aus [diesem Abkommen] zu gewähren, welche keinen rechtmäßigen Wohnsitz vorschreiben und keine Ausnahme vorsehen, solange sich der Flüchtling im Hoheitsgebiet des betroffenen Staats aufhält.“

34.

Unter diesen Umständen hat der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass damit eine neue Klausel für den Ausschluss von der in Art. 13 dieser Richtlinie vorgesehenen Anerkennung als Flüchtling und damit von Art. 1 Abschnitt A des Genfer Abkommens geschaffen wird?

2.

Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 14 Abs. 5 in dieser Auslegung mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss, wobei dessen in Art. 1 Abschnitt F vorgesehene Ausschlussklausel abschließend gefasst und eng auszulegen ist?

3.

Falls Frage 1 verneint wird: Ist Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er einen Grund für die Verweigerung der Anerkennung als Flüchtling einführt, der nicht im Genfer Abkommen vorgesehen ist, dessen Achtung in Art. 18 der Charta und in Art. 78 Abs. 1 AEUV vorgeschrieben ist?

4.

Falls Frage 3 bejaht wird: Ist Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95, wenn er denn ohne jede Prüfung einer Furcht vor Verfolgung, wie sie Art. 1 Abschnitt A des Genfer Abkommens verlangt, einen Grund für die Verweigerung der Anerkennung als Flüchtling einführt, mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss?

5.

Falls die Fragen 1 und 3 verneint werden: Wie ist Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV auszulegen, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss?

B.   Rechtssache C-78/17

35.

Herr X ist nach eigenem Bekunden Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo; sein Geburtsdatum liegt zwischen 1986 und 1990. Im Jahr 1997 wurde er seiner Mutter weggenommen, in das Militärcamp Kokolo (Kongo) gebracht und dann in Goma (Kongo) ausgebildet, wo er Rauschgift erhielt und misshandelt und bei Militäraktionen eingesetzt wurde. Im Jahr 2000 begab sich Herr X zu seinem Vater nach Belgien, wo er 2006 einen Asylantrag stellte. Mit Entscheidung vom 21. Februar 2007 erkannte ihm der GKFS die Flüchtlingseigenschaft zu.

36.

Im Jahr 2010 wurde Herr X von der Cour d’assises de Bruxelles (Assisenhof Brüssel, Belgien) wegen Diebstahls in Verbindung mit vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt. Herr X hatte außerdem in Belgien vor der Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft mehrere Diebstähle und Körperverletzungen begangen.

37.

Mit Entscheidung vom 4. Mai 2016 entzog der GKFS ihm in Anwendung von Art. 55/3/1 des belgischen Ausländergesetzes die Rechtsstellung als Flüchtling. Der GKFS war der Ansicht, Herr X stelle wegen der besonderen Schwere der von der Cour d’assises de Bruxelles (Assisenhof Brüssel) festgestellten Straftaten und wegen seiner Verbrechenslaufbahn eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne dieser Bestimmung – die Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 umsetze – dar. Zudem gab der GKFS eine Stellungnahme ab, wonach eine Entfernung von Herrn X mit den Art. 48/3 und 48/4 dieses Gesetzes vereinbar sei, weil die von ihm 2007 geltend gemachte Furcht vor Verfolgung wegen seiner Desertion aus der kongolesischen Armee nicht mehr aktuell sei.

38.

Gegen diese Entscheidung legte Herr X einen Rechtsbehelf bei dem vorlegenden Gericht ein. Dieses Gericht fragt sich aus denselben Gründen wie in der Rechtssache C‑77/17, ob Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 im Hinblick auf Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV gültig ist.

39.

Unter diesen Umständen hat der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass damit eine neue Klausel für den Ausschluss von der in Art. 13 dieser Richtlinie vorgesehenen Anerkennung als Flüchtling und damit von Art. 1 Abschnitt A des Genfer Abkommens geschaffen wird?

2.

Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 14 Abs. 4 in dieser Auslegung mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss, wobei dessen in Art. 1 Abschnitt F vorgesehene Ausschlussklausel abschließend gefasst und eng auszulegen ist?

3.

Falls Frage 1 verneint wird: Ist Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er einen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft einführt, der nicht im Genfer Abkommen vorgesehen ist, dessen Achtung in Art. 18 der Charta und in Art. 78 Abs. 1 AEUV vorgeschrieben ist?

4.

Falls Frage 3 bejaht wird: Ist Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95, wenn er denn einen Grund für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft einführt, der nicht nur im Genfer Abkommen fehlt, sondern darüber hinaus auch keine Stütze darin findet, mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss?

5.

Falls die Fragen 1 und 3 verneint werden: Wie ist Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV auszulegen, nach denen namentlich das europäische Sekundärrecht das Genfer Abkommen achten muss?

C.   Rechtssache C-391/16

40.

Herr M ist nach eigenem Bekunden in Grosny in Tschetschenien geboren und hat im ersten Tschetschenienkrieg auf der Seite des ehemaligen tschetschenischen Präsidenten gekämpft. Nach diesem Krieg habe er die Armee verlassen und im zweiten Tschetschenienkrieg nicht mehr gekämpft. Er fürchte sowohl die Russen als auch die Anhänger von Ramsan Kadyrow; Letztere hätten ihn zu töten versucht und in ein „Filtrationslager“ gesteckt, in dem er verstümmelt und geschlagen worden sei. Viele seiner Familienangehörigen seien getötet worden.

41.

Das Ministerstvo vnitra (Innenministerium, Tschechische Republik) hielt diese Befürchtungen für begründet und gewährte Herrn M mit Entscheidung vom 21. April 2006 Asyl.

42.

Im Jahr 2004 wurde Herr M mit Urteil des Městský soud v Brně (Stadtgericht Brünn, Tschechische Republik) wegen Raubes schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nachdem er bedingt aus der Haft entlassen worden war, beging er einen Raub und eine Erpressung, wofür er als besonders gefährlicher Wiederholungstäter behandelt wurde. Im Jahr 2007 verurteilte ihn dieses Gericht deswegen zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren, die in einem Hochsicherheitsgefängnis vollstreckt werden sollte.

43.

In Anbetracht dessen stellte das Innenministerium mit Entscheidung vom 29. April 2014 fest, dass Herr M wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei und eine Gefahr für die Sicherheit des Staates und seiner Bürger darstelle. Deshalb entzog diese Behörde Herrn M aufgrund von § 17 Abs. 1 Buchst. j des tschechischen Asylgesetzes das Asylrecht und entschied gemäß § 15a dieses Gesetzes, dass ihm auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei.

44.

Gegen diese Entscheidung erhob Herr M Klage vor dem Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik). In seiner Klageschrift machte er insbesondere geltend, mit § 17 Abs. 1 Buchst. i und j des tschechischen Asylgesetzes – durch den Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 umgesetzt werde – würden die internationalen Verpflichtungen der Tschechischen Republik verletzt, da mit dieser Bestimmung Gründe für die Aberkennung des internationalen Schutzes eingeführt würden, die in der abschließenden Liste dieser Gründe gemäß Art. 1 Abschnitt C des Genfer Abkommens nicht vorgesehen seien. Nach Art. 42 Ziff. 1 dieses Abkommens könne zu Art. 1 aber kein Vorbehalt gemacht werden.

45.

Gegen die Abweisung dieser Klage wandte sich Herr M mit einer Kassationsbeschwerde an das vorlegende Gericht.

46.

In diesem Zusammenhang fragt sich dieses Gericht insbesondere, ob die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2011/95 mit dem Genfer Abkommen vereinbar sind, wobei die Missachtung dieses Abkommens im Hinblick auf Art. 18 der Charta, auf Art. 78 Abs. 1 AEUV und auf die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV gewährleisteten allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts die Ungültigkeit dieser Bestimmungen zur Folge hätte.

47.

Der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) verweist insbesondere auf ein Dokument, in dem der UNHCR den Kommissionsvorschlag kommentiert hat, der zum Erlass der Richtlinie 2011/95 geführt hat ( 9 ). Darin hat der UNHCR vor allem die Bedenken wiederholt, die er hinsichtlich der Vereinbarkeit von Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2004/83 mit Art. 1 Abschnitt F des Genfer Abkommens geäußert hat ( 10 ). Dem vorlegenden Gericht zufolge werden diese Bedenken vom Europäischen Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE) ( 11 ), von der Internationalen Vereinigung der Asylrichter ( 12 ) und der Ombudsfrau der Tschechischen Republik geteilt.

48.

Dieses Gericht weist jedoch darauf hin, dass zur Frage der Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2011/95 auch gegenteilige Ansichten vertreten würden. Diese Ansichten beruhten auf der Überlegung, dass mit dieser Richtlinie das Ziel verfolgt werde, höhere Schutzstandards in Bezug auf die Gründe für die Gewährung internationalen Schutzes und dessen Umfang sicherzustellen, um die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens sowie die Achtung der durch die Charta und die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verbürgten Grundrechte zu gewährleisten. Art. 14 Abs. 4 und 6 dieser Richtlinie gewähre den von seinem Anwendungsbereich erfassten Personen einen höheren Schutz als das Genfer Abkommen. Diese Personen könnten gemäß Art. 33 Ziff. 2 dieses Abkommens in ein Land zurückgewiesen werden, in dem ihnen Verfolgung drohe. Nach dem Verlassen des Aufnahmelandes ständen ihnen nicht mehr die Vergünstigungen aus dem Genfer Abkommen zu. Hingegen dürften die betreffenden Personen nach Art. 14 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 weder zurückgewiesen werden noch die im Genfer Abkommen vorgesehenen Mindestrechte verlieren.

49.

Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2011/95 ungültig, weil sie gegen Art. 18 der Charta, gegen Art. 78 Abs. 1 AEUV sowie gegen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV verstoßen?

D.   Verfahren vor dem Gerichtshof

50.

Mit Entscheidung vom 17. März 2017 hat der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden.

51.

In diesen Rechtssachen haben die Rechtsbehelfsführer der Ausgangsverfahren, die belgische, die tschechische, die deutsche, die französische und die ungarische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

52.

In der Rechtssache C‑391/16 haben die tschechische, die belgische, die französische und die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie das Parlament, der Rat und die Kommission schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

53.

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. Januar 2018 sind die Rechtssachen C‑77/17, C‑78/17 und C‑391/16 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

54.

Herr X (in der Rechtssache C‑77/17), Herr X (in der Rechtssache C‑78/17), Herr M, die belgische und die tschechische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie das Parlament, der Rat und die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung vom 6. März 2018 teilgenommen.

IV. Würdigung

A.   Vorbemerkungen

55.

Von den in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Möglichkeiten, die Rechtsstellung als Flüchtling abzuerkennen bzw. es abzulehnen, diese Rechtsstellung zuzuerkennen, kann Gebrauch gemacht werden, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass ein Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

56.

Diese Umstände entsprechen denjenigen, in denen die Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung Anwendung findet, die in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vorgesehen ist ( 13 ), dessen Wortlaut im Kern den Wortlaut von Art. 33 Ziff. 2 des Genfer Abkommens aufgreift ( 14 ). Nach diesen Bestimmungen können die Mitgliedstaaten, wenn solche Umstände gegeben sind, von dem Grundsatz abweichen, wonach ein Flüchtling nicht in Gebiete abgeschoben werden darf, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht wäre.

57.

Nach Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dürfen die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit aber nur Gebrauch machen, „sofern dies nicht aufgrund [ihrer] völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist“. Die Entwicklungen, die seit der Annahme des Genfer Abkommens im Bereich des Schutzes der Menschenrechte stattgefunden haben, bringen es jedoch mit sich, dass die unions- und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten die Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung nunmehr weitgehend neutralisieren.

58.

In diesem Zusammenhang sieht Art. 19 Abs. 2 der Charta vor, dass „[n]iemand ... in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden [darf], in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht“. Diese Bestimmung lässt – ebenso wie Art. 4 der Charta, der die Folter sowie eine solche Strafe oder Behandlung verbietet ( 15 ) – keine Ausnahme zu.

59.

Wie nämlich aus den Erläuterungen zur Charta ( 16 ) hervorgeht, sollte mit der Aufnahme von Art. 19 Abs. 2 in die Charta die Rechtsprechung übernommen werden, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu dem absoluten Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung entwickelt hatte, das in Art. 3 EMRK verankert ist, dem Art. 4 der Charta entspricht ( 17 ). Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR läuft es Art. 3 EMRK ohne eine Ausnahmemöglichkeit zuwider, dass die Vertragsstaaten einen Ausländer abschieben, ausweisen oder ausliefern, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass für ihn die reale Gefahr besteht, im Bestimmungsland einer durch diese Bestimmung verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden ( 18 ).

60.

Dieses Verbot ergibt sich auch aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufgrund des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ( 19 ) und des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ( 20 ), die beide unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen verabschiedet wurden.

61.

Daraus folgt: Besteht für einen Flüchtling im Fall seiner Zurückweisung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe oder einer Behandlung, die nach Art. 4 der Charta, Art. 3 EMRK und den anderen in der vorstehenden Nummer genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen verboten ist, so stellt die in Art. 33 Ziff. 2 des Genfer Abkommens und in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Möglichkeit, vom Grundsatz der Nichtzurückweisung abzuweichen, für die Mitgliedstaaten nur noch eine theoretische Option dar, deren Realisierung nunmehr mit Rücksicht auf den Schutz der Grundrechte verboten ist ( 21 ).

62.

Wie die tschechische, die deutsche und die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie das Parlament, der Rat und die Kommission erklärt haben, soll Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 gerade die Situation der Flüchtlinge regeln, die zwar einer der von der Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung erfassten Fallgruppe angehören, jedoch insbesondere deshalb nicht zurückgewiesen werden, weil ihre Zurückweisung die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Charta, der EMRK und den anderen Instrumenten des Völkerrechts verletzen würde. Die Mitgliedstaaten müssen dann, wenn sie von den Möglichkeiten nach diesen Bestimmungen Gebrauch machen, gemäß Art. 14 Abs. 6 diesen Flüchtlingen gewährleisten, dass sie die in mehreren Bestimmungen des Genfer Abkommens verbürgten Rechte geltend machen können.

B.   Zur Stellung des Genfer Abkommens im Unionsrecht

63.

Art. 18 der Charta sieht vor, dass „[d]as Recht auf Asyl ... nach Maßgabe des Genfer Abkommens ... gewährleistet [wird]“. Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV muss die gemeinsame Politik im Bereich Asyl „mit dem Genfer Abkommen ... im Einklang stehen“.

64.

Diese primärrechtlichen Bestimmungen, mit denen die Verfasser der Verträge die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten – soweit diese das Recht der Union durchführen – zur uneingeschränkten Achtung des Genfer Abkommens verpflichten wollten, bringen die besondere Stellung zum Ausdruck, die dieses Abkommen im Unionsrecht einnimmt. Obwohl die Union im Gegensatz zu ihren Mitgliedstaaten durch dieses Abkommen gegenüber den Drittländern, die ihm beigetreten sind, nicht gebunden ist ( 22 ), haben die Unionsorgane es aufgrund des Unionsrechts zu beachten ( 23 ).

65.

Daher heißt es auch in den Erwägungsgründen 4, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95, dass das Genfer Abkommen einen „wesentlichen Bestandteil“ des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass diese Richtlinie erlassen wurde, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieses Abkommens auf der Grundlage gemeinsamer Normen und Kriterien zu leiten. Nach dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 wollte der Unionsgesetzgeber, gestützt auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, dafür sorgen, dass das Europäische Asylsystem, zu dessen Festlegung diese Richtlinie beiträgt, auf der uneingeschränkten und umfassenden Anwendung des Genfer Abkommens beruht. Zudem verweisen mehrere Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 auf Vorschriften dieses Abkommens ( 24 ) oder greifen deren Inhalt auf ( 25 ).

66.

Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Richtlinie 2011/95 im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks in Übereinstimmung mit dem Genfer Abkommen und anderen einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen ist. Bei dieser Auslegung sind zudem, wie dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie zu entnehmen ist, die in der Charta anerkannten Grundrechte zu achten ( 26 ).

67.

Im Übrigen ist ein Unionsrechtsakt nach ständiger Rechtsprechung so weit wie möglich in einer Weise, die seine Gültigkeit nicht in Frage stellt, und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht auszulegen ( 27 ). Aus der Anwendung dieses Auslegungsgrundsatzes in Verbindung mit dem in der vorstehenden Nummer erwähnten Auslegungsgrundsatz folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 so weit wie möglich dergestalt ausgelegt werden müssen, dass sie mit dem Genfer Abkommen übereinstimmen und somit im Einklang mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV stehen. Nur wenn sich eine solche abkommenskonforme Auslegung als unmöglich erweist, kann der Gerichtshof die Ungültigkeit einer Richtlinienbestimmung im Hinblick auf diese Bestimmungen des Primärrechts feststellen.

68.

Wenn der Gerichtshof eine Bestimmung des Sekundärrechts auszulegen oder auf ihre Gültigkeit im Hinblick auf Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV zu überprüfen hat, muss er, wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, feststellen, ob diese sekundärrechtliche Bestimmung den Flüchtlingen ein mindestens gleichwertiges Maß an Schutz bietet wie das Genfer Abkommen.

69.

In diesem Zusammenhang kommt der Gerichtshof in Wahrnehmung seiner Aufgaben gemäß Art. 267 AEUV nicht umhin, vorab den Inhalt der Anforderungen zu ermitteln, die aus der Beachtung dieses Abkommens folgen. Eine solche Ermittlung kann es erforderlich machen, dass er Beurteilungen vornimmt, die über eine bloße Wiedergabe des Wortlauts der Bestimmungen dieses Abkommens hinausgehen und daher auf dessen inzidente Auslegung hinauslaufen. Diese Feststellung ändert nichts daran, dass der Gerichtshof für eine unmittelbare Auslegung des Genfer Abkommens nicht zuständig ist ( 28 ).

70.

In diesem Sinne hat der Gerichtshof in den Urteilen Bolbol ( 29 ) und Abed El Karem El Kott u. a. ( 30 ) Art. 1 Abschnitt D des Genfer Abkommens – auf den Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 ausdrücklich verweist – ausgelegt, und zwar im Rahmen der Auslegung dieser sekundärrechtlichen Bestimmung gemäß Art. 267 AEUV. Angesichts dieser Verweisung konnte der Gerichtshof seiner Aufgabe nämlich nicht gerecht werden, ohne vorab die Anforderungen gemäß Art. 1 Abschnitt D dieses Abkommens zu klären.

71.

Es ist daher meines Erachtens folgerichtig, dass der Gerichtshof immer dann, wenn die Wahrnehmung seiner Befugnis zur Vorabentscheidung über die Auslegung oder die Gültigkeit einer sekundärrechtlichen Bestimmung die Klärung dessen verlangt, was das Genfer Abkommen vorschreibt bzw. nicht vorschreibt, dieses Abkommen gegebenenfalls auslegen kann, um diese Klärung vorzunehmen ( 31 ).

72.

Deshalb wird die Prüfung der Fragen der vorlegenden Gerichte, soweit erforderlich, mit solchen Auslegungen dieses Abkommens verbunden sein ( 32 ). Diese werden gemäß den Grundsätzen von Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ( 33 ) nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen Bedeutung, die den Bestimmungen des Genfer Abkommens in ihrem Zusammenhang zukommt, sowie im Licht des mit diesem Abkommen verfolgten Ziels und Zwecks erfolgen. Die Erklärungen des UNHCR werden hierbei eine spezielle Aufmerksamkeit erhalten. Obwohl sie für die Vertragsstaaten keine Bindungswirkung haben, stellen sie Auslegungskriterien mit besonderer „Überzeugungskraft“ dar ( 34 ).

73.

Im vorliegenden Fall bin ich aus den nachstehend dargelegten Gründen der Ansicht, dass die Bestimmungen des Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 eine Auslegung zulassen, aufgrund deren festgestellt werden kann, dass sie mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar sind.

C.   Auslegung von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95

1. Zur Unterscheidung zwischen der Aberkennung der einem Flüchtling zuerkannten Rechtsstellung bzw. der Weigerung, diese Rechtsstellung zuzuerkennen, und dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft bzw. dem Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling

74.

Mit den ersten beiden Fragen in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 sowie mit der Frage in der Rechtssache C‑391/16 möchten der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) und der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) im Kern wissen, ob die Bestimmungen des Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 gegen Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV verstoßen ( 35 ), weil sie Erlöschens- und Ausschlussgründe einführen, die in Art. 1 Abschnitte C und F des Genfer Abkommens – dessen Inhalt in den Art. 11 und 12 dieser Richtlinie aufgegriffen wird – nicht vorgesehen sind. Wie sich aus den Vorlageentscheidungen ergibt, gehen die von diesen Gerichten insoweit geäußerten Zweifel im Wesentlichen auf die Bedenken zurück, die der UNHCR hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem Genfer Abkommen dargelegt hat ( 36 ).

75.

Ich schlage vor, diese Fragen zu verneinen, da die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 durch einen Mitgliedstaat im Gegensatz zur Anwendung eines Erlöschens- und Ausschlussgrundes nicht dazu führt, dass der Betroffene die Flüchtlingseigenschaft verliert. Die Bedeutung dieses Unterschieds liegt darin, dass der Fortbestand dieser Eigenschaft zur Folge hat, dass der Betroffene nicht nur – wenn er den entsprechenden Mitgliedstaat verlässt – Anspruch auf den Schutz des UNHCR ( 37 ) und jedes anderen Staates hat, der dem Genfer Abkommen beigetreten ist, sondern auch – solange er sich in diesem Mitgliedstaat aufhält – die Rechte geltend machen kann, die dieses Abkommen jedem Flüchtling unabhängig von der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalt garantiert (darauf werde ich noch zurückkommen) ( 38 ).

76.

Was Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ergibt sich diese Schlussfolgerung bereits aus dessen Wortlaut. Wie die deutsche Regierung vorgetragen hat, zeigt der Gebrauch der Formulierung „einem Flüchtling die ihm ... zuerkannte Rechtsstellung aberkennen“ (Hervorhebung nur hier) nämlich, dass die Anwendung dieser Bestimmung die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen nicht in Frage stellt. Im Übrigen ist zwar in der französischen Fassung von Art. 14 Abs. 5 vom „statut de réfugié“ die Rede; in den meisten anderen Sprachfassungen wird jedoch eine Formulierung verwendet, die dem Ausdruck „einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen“ entspricht ( 39 ).

77.

Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört ( 40 ). Im vorliegenden Fall komme ich aufgrund einer systematischen und teleologischen Auslegung der Bestimmungen des Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 zu dem Schluss, dass die Anwendung dieser Bestimmungen nicht dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft oder dem Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gleichkommt.

78.

Erstens ergibt sich aus der allgemeinen Systematik dieser Richtlinie, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Flüchtlingseigenschaft einerseits und für die Zuerkennung bzw. den Entzug der Rechtsstellung eines Flüchtlings andererseits zwei unterschiedliche Konzepte darstellen.

79.

Wie der 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 zeigt, ergibt sich die Flüchtlingseigenschaft allein daraus, dass eine Person die Voraussetzungen erfüllt, um als Flüchtling qualifiziert zu werden, unabhängig von jeder Anerkennung durch einen Mitgliedstaat. Diese Voraussetzungen sind Gegenstand des Kapitels III („Anerkennung als Flüchtling“) dieser Richtlinie. Sie entsprechen den Voraussetzungen gemäß Art. 1 des Genfer Abkommens.

80.

Dieses Kapitel III enthält die Art. 11 und 12 der Richtlinie 2011/95, die das Erlöschen und den Ausschluss betreffen und inhaltlich mit Art. 1 Abschnitte C und F des Genfer Abkommens übereinstimmen. In diesen Bestimmungen sind die Fälle genannt, in denen ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht die Flüchtlingseigenschaft hat und folglich vom Geltungsbereich des internationalen Schutzes nach der Richtlinie und dem Abkommen ausgeschlossen ist ( 41 ).

81.

Diese Fallgruppen erfassen nicht die Situationen, in denen – wie in den Ausgangsverfahren – ein Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit des Aufnahmelandes darstellt, weil er in diesem Land eine besonders schwere nicht politische Straftat begangen hat ( 42 ). Die Ausschlussgründe wurden nämlich nicht zum Schutz der Sicherheit oder der Allgemeinheit des Aufnahmelandes vor der möglicherweise von einem Flüchtling ausgehenden gegenwärtigen Gefahr geschaffen, sondern vielmehr, um die Integrität des Systems des internationalen Schutzes der Flüchtlinge zu wahren und um zu verhindern, dass die Urheber bestimmter schwerwiegender Straftaten sich aufgrund dieses Schutzes ihrer strafrechtlichen Verantwortung entziehen können ( 43 ).

82.

Diese Situationen fallen dagegen unter die Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung sowie unter Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95. Diese Bestimmung gehört zu einem separaten Kapitel, nämlich dem Kapitel IV („Flüchtlingseigenschaft“), der Richtlinie.

83.

Die Unterscheidung zwischen der Flüchtlingseigenschaft und der einem Flüchtling zuerkannten Rechtsstellung kommt in den Abs. 1 und 3 dieses Artikels noch stärker zum Ausdruck. Danach ist die Flüchtlingseigenschaft einer Person abzuerkennen, die namentlich wegen eines der Erlöschensgründe gemäß Art. 11 der Richtlinie 2011/95 nicht oder nicht länger Flüchtling ist oder die nach Art. 12 dieser Richtlinie von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist oder hätte ausgeschlossen werden müssen. Das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling und die anschließende Aberkennung der Rechtsstellung eines Flüchtlings können daher nicht auf ein und dasselbe Konzept zurückgeführt werden.

84.

Zweitens setzt auch die Verwirklichung der mit Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 verfolgten Ziele voraus, dass eine Person, solange sie die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft behält, ohne dass diese Eigenschaft durch die Aberkennung der ihr zuerkannten Rechtsstellung oder durch die Verweigerung einer solchen Zuerkennung beeinträchtigt wird.

85.

Die Gründe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling sind nämlich in Art. 1 Abschnitte C bis F des Genfer Abkommens – hinsichtlich deren die Vertragsstaaten nach Art. 42 Abs. 1 dieses Abkommens keine Vorbehalte machen dürfen – abschließend aufgeführt ( 44 ). Daher hätte die Aufnahme zusätzlicher Erlöschens- oder Ausschlussgründe in die Richtlinie 2011/95 das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel beeinträchtigt, das darin besteht, eine uneingeschränkter Anwendung dieses Abkommens zu gewährleisten.

86.

Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass nach Art. 17 der Richtlinie 2011/95 ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser aus denselben Gründen, wie sie in Art. 14 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie aufgeführt sind, von der Gewährung subsidiären Schutzes „ausgeschlossen“ werden kann. Da der subsidiäre Schutz nicht in den Geltungsbereich des Genfer Abkommens fällt, konnte der Unionsgesetzgeber nämlich den Kreis der Nutznießer dieses Schutzes mittels autonomer Kriterien frei festlegen. Er hat sich jedoch in Bezug auf die Flüchtlinge für einen anderen Weg entschieden, um die Richtlinie mit dem genannten Abkommen in Übereinstimmung zu bringen ( 45 ).

87.

Wenn diese Überlegungen zeigen, dass die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 nicht mit Gründen für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft oder für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gleichzusetzen sind, lassen sie doch die Tragweite und die realen Auswirkungen dieser Bestimmungen nicht klar erkennen. Diese Problematik ist im Kern Gegenstand der Fragen 3 bis 5 in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17.

2. Zur Tragweite und zu den realen Auswirkungen von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95

88.

Mit seinen Fragen 3 bis 5 möchte der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) wissen, ob Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 für den Fall, dass der Gerichtshof die ersten Fragen in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 so beantworten sollte, wie ich es vorstehend vorgeschlagen habe, dahin auszulegen ist, dass er Gründe für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Verweigerung der Anerkennung als Flüchtling einführt, die im Genfer Abkommen nicht vorgesehen und deshalb ungültig sind (Fragen 3 und 4), oder ob dieser Artikel anders auszulegen ist, damit er im Einklang mit dem Primärrecht der Union steht (fünfte Fragen). Auch die Entscheidung über die Frage des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) macht eine Prüfung dieser Fragen erforderlich.

89.

Zur Beantwortung dieser Fragen ist meines Erachtens die Bedeutung der Ausdrücke „einem Flüchtling ... zuerkannte Rechtsstellung“ und „einem Flüchtling eine Rechtsstellung ... zuzuerkennen“ in Art. 14 Abs. 4 bzw. Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 näher zu untersuchen ( 46 ). Wenn die „Rechtsstellung“, die in Anwendung dieser Bestimmung aberkannt oder verweigert werden kann, nicht dasselbe ist wie die Flüchtlingseigenschaft, was bedeutet sie dann in Wirklichkeit?

90.

In Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95, dem keine Bestimmung des Genfer Abkommens entspricht, wird die „Flüchtlingseigenschaft“ als „die Anerkennung ... als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat“ definiert. Betrachtet man diesen Ausdruck im Licht des 21. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, so scheint er den deklaratorischen Akt zu bezeichnen, mit dem ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft eines Asylbewerbers anerkennt, wobei dieser Akt am Ende eines Verfahrens ergeht, mittels dessen überprüft werden soll, ob dieser Bewerber die Voraussetzungen erfüllt, um als Flüchtling eingestuft zu werden ( 47 ).

91.

Dieser Akt ist grundsätzlich mit der Gewährung aller Rechte verbunden, die in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 aufgeführt sind (vorbehaltlich der dort vorgesehenen Einschränkungen ( 48 )). Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, hängen die Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung dieser Rechte nämlich, sofern nicht Art. 14 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie eingreift, notwendigerweise miteinander zusammen. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie verpflichtet, den anerkannten Flüchtlingen alle diese Rechte zu gewähren, während sie einer Person nicht zustehen, deren Flüchtlingseigenschaft (noch) nicht anerkannt ist ( 49 ). Ebenso hat die Anwendung einer der in den Art. 11 und 12 der Richtlinie 2011/95 aufgeführten Erlöschens- oder Ausschlussgründe auf eine zuvor als Flüchtling anerkannte Person gemäß Art. 14 Abs. 1 und 3 der Richtlinie sowohl die Hinfälligkeit bzw. Unwirksamkeit dieser Anerkennung als auch den Verlust der damit verbundenen Rechte zur Folge.

92.

Dieser immanente Zusammenhang zwischen der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Zuerkennung dieser Rechte könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Definition der „Flüchtlingseigenschaft“ in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 nur auf die Anerkennung als Flüchtling verweist, ohne die anschließende Zuerkennung der damit verbundenen Rechte zu erwähnen.

93.

Dagegen führen die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 eine Trennung zwischen der Flüchtlingseigenschaft und der Zuerkennung dieser Rechte ein. Die Personen, für die diese Bestimmungen gelten, behalten zwar die Flüchtlingseigenschaft, jedoch stehen ihnen die Rechte aus Kapitel VII dieser Richtlinie nicht oder nicht mehr zu.

94.

Die in Abs. 4 bzw. Abs. 5 dieses Artikels verwendeten Ausdrücke „einem Flüchtling ... zuerkannte Rechtsstellung“ und „einem Flüchtling eine Rechtsstellung ... zuzuerkennen“ sind unter Berücksichtigung dieser Erwägungen auszulegen. Meines Erachtens ist die Bedeutung dieser Ausdrücke in diesem Zusammenhang enger als die Bedeutung des Begriffs „Flüchtlingseigenschaft“, die sich aus Art. 2 Buchst. e der Richtlinie ergibt ( 50 ). Sie beziehen sich nur auf die Gewährung der in Kapitel VII der Richtlinie erwähnten Rechte ( 51 ), ohne die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft der betroffenen Personen in Frage zu stellen.

95.

Allein mit dieser Auslegung lassen sich nach meinem Dafürhalten die innere Kohärenz der Richtlinie 2011/95 und die praktische Wirksamkeit ihrer Bestimmungen wahren.

96.

Erstens scheint mir eine Auslegung, wonach der Ausdruck „Rechtsstellung eines Flüchtlings“ auch die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft beinhaltet, mit dem Wortlaut und der Systematik von Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 unvereinbar zu sein. Diese Bestimmung gilt für Flüchtlinge, denen noch überhaupt kein Status zuerkannt worden ist. Gleichwohl bezieht sie sich auf die in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie definierten „Flüchtlinge“ und nicht auf die „Antragsteller“ im Sinne von Art. 2 Buchst. i der Richtlinie. Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 erfasst daher Personen, deren Flüchtlingseigenschaft vom Aufnahmemitgliedstaat geprüft und in der Folge anerkannt worden ist.

97.

Diese Bestimmung kann folglich, wie die belgische und die französische Regierung hervorgehoben haben, nicht dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten befugt wären, die Prüfung – unter Beachtung der Verfahrensgarantien nach der Richtlinie 2013/32 – eines ihnen vorgelegten Asylantrags und gegebenenfalls die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu verweigern. Hinzu kommt, dass nach Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie die Entscheidungen über Asylanträge gegenüber den Betroffenen schriftlich ergehen. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, muss es der Person, deren Rechtsstellung aberkannt ist, möglich sein, bei einer Verwaltungskontrolle ihre spezielle Lage darzutun, was die Ausstellung eines Dokuments erforderlich macht, das ihre Flüchtlingseigenschaft bescheinigt ( 52 ).

98.

Zweitens gilt Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 definitionsgemäß für Flüchtlinge, deren Flüchtlingseigenschaft bereits anerkannt worden ist. Die Anwendung dieser Bestimmung hat, wie ich vorstehend dargelegt habe, nicht den Verlust dieser Eigenschaft zur Folge. Unter diesen Umständen würde eine Auslegung jeder Logik entbehren, wonach unter der „einem Flüchtling ... zuerkannten Rechtsstellung“ im Sinne dieser Bestimmung sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch die Gewährung der damit verbundenen Rechte zu verstehen wäre. Ebenso wie der Rechtsbehelfsführer des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑77/17 vermag ich nämlich nicht zu erkennen, welchen Sinn es haben soll, diese Zuerkennung zu widerrufen, ihren Gegenstand – die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen – aber nicht in Frage zu stellen ( 53 ).

99.

Auf der gleichen Linie hat der UNHCR erklärt, zu den Gründen, aus denen die Anerkennung des Flüchtlingsstatus im Sinne des Genfer Abkommens aufgehoben werden könne, gehörten nicht die Gründe, die zum Verlust des Schutzes vor Zurückweisung gemäß Art. 33 Ziff. 2 dieses Abkommens führten – wobei diese den in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Gründen für die Aberkennung der Rechtsstellung eines Flüchtlings und für die Verweigerung der Zuerkennung dieser Rechtsstellung entsprechen ( 54 ).

100.

Drittens behalten die Flüchtlinge, auf die ein Mitgliedstaat Art. 14 Abs. 4 oder 5 dieser Richtlinie anwendet, wegen ihrer Flüchtlingseigenschaft die im Genfer Abkommen vorgesehenen Rechte, auf die Abs. 6 dieses Artikels verweist. Erkennt aber ein Mitgliedstaat an, dass eine Person über diese Rechte verfügt und sie geltend machen kann, so setzt dies die Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft voraus, ohne die der betreffenden Person die genannten Rechte nicht zuständen. Mit anderen Worten: Wenngleich die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mit der Zuerkennung sämtlicher Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie einhergeht, bedeutet jegliche Zuerkennung von Rechten, die mit der Flüchtlingseigenschaft verbunden sind, dass diese Eigenschaft anerkannt wird.

101.

Darüber hinaus kann mit der von mir vorgeschlagenen Auslegung den Bedenken, die der UNHCR geäußert hat, begegnet und im Übrigen eine Annäherung an die Auslegung vorgenommen werden, die der UNHCR selbst mehrfach angeregt hat. Um zu verhindern, dass die in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Möglichkeiten in den Mitgliedstaaten unter Verstoß gegen das Genfer Abkommen im Sinne einer Einführung neuer Erlöschens- und Ausschlussgründe ausgelegt werden, versteht sich nach Ansicht des UNHCR „[d]ie Formulierung ‚einem Flüchtling ... zuerkannte Rechtsstellung‘ ... daher als Bezugnahme auf das Asylrecht (‚Rechtsstellung‘), das vom Staat gewährt wird, und nicht auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 [Abschnitt A Ziff. 2 des Genfer Abkommens] ...“ ( 55 ).

102.

Daher bin ich der Auffassung, dass mit den Ausdrücken „einem Flüchtling ... zuerkannte Rechtsstellung“ und „einem Flüchtling eine Rechtsstellung ... zuzuerkennen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 nur die Rechte aus Kapitel VII dieser Richtlinie gemeint sind ( 56 ), allerdings unbeschadet der Rechte, die den betroffenen Flüchtlingen aufgrund des Genfer Abkommens zu gewähren sind ( 57 ).

103.

Ich wende mich nun der Frage zu, ob diese so ausgelegten und in Verbindung mit Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie verstandenen Bestimmungen gemessen an Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV gültig sind, wobei die Beantwortung dieser Frage zunächst die Auslegung dieses Art. 14 Abs. 6 erforderlich macht.

D.   Auslegung von Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 und Prüfung der Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 bis 6 dieser Richtlinie

104.

Wie die belgische Regierung und das Parlament vorgetragen haben, stellt die Richtlinie 2011/95 ein eigenständiges Instrument dar, das der Unionsrechtsordnung angehört und nicht dazu bestimmt ist, das Genfer Abkommen förmlich umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt ist in Kapitel VII der Richtlinie – unter Hinweis darauf, dass die Bestimmungen dieses Kapitels die im Genfer Abkommen verankerten Rechte nicht berühren ( 58 ) – eine Reihe von Rechten aufgeführt, von denen manche nicht durch dieses Abkommen gewährleistet werden, während andere solchen entsprechen, die auch das Abkommen enthält.

105.

So schreiben zum einen manche Bestimmungen in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs dargelegt hat, den Mitgliedstaaten vor, den Flüchtlingen Rechte einzuräumen, für die es im Genfer Abkommen keine Entsprechung gibt, wie etwa das Recht auf einen Aufenthaltstitel, auf die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, auf medizinische Versorgung und auf Zugang zu Integrationsmaßnahmen ( 59 ).

106.

Es besteht für mich kaum ein Zweifel daran, dass der Unionsgesetzgeber, soweit die Bestimmungen in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 gegenüber dem Genfer Abkommen eigenständige und separate Rechte garantieren, befugt war, mittels anderer eigenständiger Bestimmungen – ohne die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit diesem Abkommen zu missachten – auch die Umstände festzulegen, unter denen einem Flüchtling diese Rechte entzogen werden können.

107.

Zum anderen enthält Kapitel VII der Richtlinie 2011/95 Rechte, die auch im Genfer Abkommen aufgeführt sind. Es handelt sich insbesondere um das Recht auf Ausstellung von Reisedokumenten ( 60 ), auf Freizügigkeit ( 61 ), auf Zugang zur Beschäftigung ( 62 ) und zu Wohnraum ( 63 ) sowie auf Sozialhilfe ( 64 ).

108.

Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 verstößt meines Erachtens auch nicht deshalb gegen Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV, weil er es zulässt, dass einem Flüchtling die in der vorstehenden Nummer aufgeführten Rechte entzogen werden, wenn er eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats darstellt, obwohl diese Möglichkeit im Genfer Abkommen nicht ausdrücklich vorgesehen ist.

109.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Rechte nach dem Genfer Abkommen nur Flüchtlingen zu gewährleisten sind, die sich im Gebiet eines Vertragsstaats rechtmäßig aufhalten – im Unterschied zu anderen in diesem Abkommen vorgesehenen Rechten, die jedem Flüchtling gewährt werden müssen, der sich in diesem Gebiet befindet ( 65 ). Das Genfer Abkommen enthält keine Definition des Begriffs des rechtmäßigen Aufenthalts. Der UNHCR hat in einem Auslegungsvermerk die Ansicht geäußert, das Kriterium der Rechtmäßigkeit in diesem Begriff verweise normalerweise auf die Beachtung der nationalen Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten über die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen, deren Regelung nicht Gegenstand des Genfer Abkommens sei ( 66 ).

110.

Dabei hat die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 durch einen Mitgliedstaat insbesondere zur Folge, dass der betroffene Flüchtling den Aufenthaltstitel verliert, der ihm nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie normalerweise zusteht. Meines Erachtens kann der betreffende Mitgliedstaat, ohne seine Verpflichtungen aus dem Genfer Abkommen zu verletzen, davon ausgehen, dass dieser Flüchtling sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig in seinem Gebiet im Sinne des Abkommens aufhält, und ihm folglich die im Abkommen vorgesehenen Rechte, deren Inanspruchnahme von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts abhängt, entziehen ( 67 ).

111.

Entsprechend den Ausführungen der Regierungen und Organe, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, steht dieser Ansatz im Einklang mit der Systematik und den Zielen des Genfer Abkommens. Die Art. 32 und 33 des Abkommens erlauben nämlich unter bestimmten Voraussetzungen die Aus- und Zurückweisung eines Flüchtlings, der eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit des Aufnahmelandes bedeutet. Wenn die Verfasser des Abkommens auf diese Weise den Interessen der Vertragsstaaten an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit der Zulassung so drastischer Maßnahmen Rechnung tragen wollten, kann dieses Abkommen nicht dahin ausgelegt werden, dass es den Staaten gleichzeitig untersagt wäre, davon auszugehen, dass ein solcher Flüchtling sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhält und daher nicht oder nicht mehr die Rechte in Anspruch nehmen kann, die nach dem Abkommen den Flüchtlingen mit rechtmäßigem Aufenthalt vorbehalten sind.

112.

Dennoch müssen die Mitgliedstaaten, nachdem sie von den Möglichkeiten gemäß Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 Gebrauch gemacht haben, den betroffenen Flüchtlingen weiterhin die Rechte gewährleisten, die nach dem Genfer Abkommen jedem Flüchtling unabhängig von der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts zustehen. Diese Rechte betreffen das Verbot unterschiedlicher Behandlung (Art. 3), die Religionsfreiheit (Art. 4), den Schutz des beweglichen und unbeweglichen Eigentums (Art. 13), den Zugang zu den Gerichten (Art. 16), die Rationierung (Art. 20), den Zugang zur öffentlichen Erziehung (Art. 22), die Verwaltungshilfe (Art. 25), die Ausstellung von Personalausweisen (Art. 27), das steuerliche Diskriminierungsverbot (Art. 29), das Verbot von Strafen wegen unrechtmäßiger Einreise oder unrechtmäßigen Aufenthalts (Art. 31) sowie der Schutz vor Ausweisung (Art. 32) und Zurückweisung (Art. 33) ( 68 ).

113.

In diesem Zusammenhang hat der UNHCR erklärt, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, gleichwohl „verpflichtet [sind], die Rechte aus [dem Genfer Abkommen] zu gewähren, welche keinen rechtmäßigen Wohnsitz vorschreiben und keine Ausnahme vorsehen, solange sich der Flüchtling im Hoheitsgebiet des betroffenen Staats aufhält“ ( 69 ). Der UNHCR hat diese Auffassung unlängst in seinen Bemerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung zur Ablösung der Richtlinie 2011/95 im Kern noch einmal wiederholt ( 70 ).

114.

Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 ist im Licht dieser Erwägungen auszulegen. Nach dieser Bestimmung können Flüchtlinge, denen gemäß Abs. 4 dieses Artikels ihre Rechtsstellung aberkannt oder gemäß Abs. 5 dieses Artikels die Zuerkennung einer Rechtsstellung verweigert wurde, „die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte“ weiterhin geltend machen, solange sie sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.

115.

Die Rechtsbehelfsführer in den drei Ausgangsverfahren haben die Gültigkeit von Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie in Zweifel gezogen, weil in der Liste der in dieser Bestimmung aufgeführten Rechte die Rechte aus den Art. 13, 20, 25, 27 und 29 des Genfer Abkommens fehlten.

116.

Nach den in den Nrn. 66 und 67 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Grundsätzen ist zu prüfen, ob Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 unter Beachtung des Genfer Abkommens dergestalt ausgelegt werden kann, dass seine Gültigkeit im Hinblick auf das Primärrecht gewahrt und die Verwirklichung seines Ziels einer uneingeschränkten Anwendung dieses Abkommens sichergestellt ist.

117.

Nach diesen Grundsätzen müsste diese Bestimmung so ausgelegt werden, dass sie die Verpflichtung aufgrund des Genfer Abkommens unberührt ließe, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass ein Flüchtling sämtliche Rechte geltend machen kann, die nach diesem Abkommen jedem Flüchtling zustehen, der sich im Gebiet eines Mitgliedstaats – ob rechtmäßig oder nicht – aufhält.

118.

Der Schlüssel zu einer solchen abkommenskonformen Auslegung liegt meines Erachtens in dem in Art. 14 Abs. 6 verwendeten Ausdruck „oder vergleichbare Rechte“.

119.

Zur Tragweite und Bedeutung dieses Ausdrucks sind weder in der Richtlinie 2011/95 noch in den Materialien zu dieser Richtlinie oder zur Richtlinie 2004/83 nähere Angaben zu finden. Die Materialien enthalten auch keinen Hinweis auf die Gründe, aus denen der Gesetzgeber davon abgesehen hat, alle einschlägigen Rechte aus dem Genfer Abkommen in die Liste des Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 zu übernehmen.

120.

Wenn ich unter diesen Umständen den Wortlaut dieser Bestimmung prüfe und dabei, wie es die Rechtsprechung verlangt ( 71 ), ihren Zusammenhang und die Ziele berücksichtige, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört, so ist die Bestimmung meines Erachtens dahin auszulegen, dass mit dem Ausdruck „oder vergleichbare Rechte“ die im Genfer Abkommen vorgesehenen Rechte gemeint sind, hinsichtlich deren die Mitgliedstaaten den Flüchtlingen, auf die Art. 14 Abs. 4 oder 5 angewandt wurde, garantieren müssen, dass sie sie zusätzlich, nicht aber alternativ, zu den in Art. 14 Abs. 6 aufgeführten Rechten geltend machen können.

121.

Was den Wortlaut von Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 betrifft, so erinnere ich daran, dass die Konjunktion „oder“, wie der Gerichtshof schon in anderem Zusammenhang festgestellt hat, in sprachlicher Hinsicht sowohl alternative als auch kumulative Bedeutung haben kann. Sie muss deshalb in dem Kontext, in dem sie verwendet wird, und im Hinblick auf den mit dem betreffenden Rechtsakt verfolgten Zweck gesehen werden ( 72 ).

122.

Im vorliegenden Fall ist diese Konjunktion wegen des Kontexts der Richtlinie 2011/95 und des mit ihr verfolgten Zwecks nach meiner Meinung kumulativ zu verstehen. Wie bereits festgestellt, wollte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie nämlich eine uneingeschränkte Anwendung des Genfer Abkommens in den Mitgliedstaaten sicherstellen. Er hat daher gewiss nicht beabsichtigt, den von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 erfassten Flüchtlingen Rechte vorzuenthalten, die die Mitgliedstaaten ihnen aufgrund dieses Abkommens gewähren müssen. Diese Zweckrichtung haben das Parlament, der Rat und die Kommission in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen bestätigt ( 73 ).

123.

Mit einer solchen Zweckrichtung wäre es hingegen unvereinbar, wenn die Konjunktion „oder“ in Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 in alternativem Sinne verstanden würde, da die Mitgliedstaaten dann nach ihrem Belieben den betroffenen Flüchtlingen entweder die Rechte aus den Art. 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 des Genfer Abkommens oder andere Rechte mit ähnlicher Tragweite gewähren könnten. Dadurch würde dieses Abkommen offensichtlich missachtet, das verlangt, dass die in ihm vorgesehenen Rechte gewährleistet werden, wofür die Gewährung damit „vergleichbarer“ Rechte nicht ausreichen kann.

124.

Da mit der Richtlinie 2011/95 das Ziel verfolgt wird, eine uneingeschränkte Anwendung des Genfer Abkommens zu erreichen, verweist der Ausdruck „oder vergleichbare Rechte“ nach meinem Dafürhalten vielmehr auf die Rechte, die zu denjenigen hinzukommen, auf die sich Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie ausdrücklich bezieht, und hinsichtlich deren dieses Abkommen vorsieht, dass sie jedem Flüchtling zustehen, der sich im Gebiet eines Vertragsstaats befindet.

125.

Diese Auslegung wird dadurch gestützt, dass außer der Regierung des Vereinigten Königreichs keine der Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, auf die Notwendigkeit verwiesen hat, diesen Personen einige dieser Rechte zu verweigern. Die belgische und die tschechische Regierung haben in der mündlichen Verhandlung vielmehr geltend gemacht, Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 habe im Wesentlichen die Funktion, ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Mitgliedstaaten auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen hinzuweisen.

126.

In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass das in Art. 27 des Genfer Abkommens normierte Recht auf Ausstellung eines Personalausweises im Übrigen eine Grundvoraussetzung für die Ausübung der in diesem Abkommen vorgesehenen, in Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 ausdrücklich aufgelisteten Rechte darstellt ( 74 ). Eine solche Ausübung wäre beeinträchtigt, wenn dem betroffenen Flüchtling kein Personalausweis ausgestellt würde, den er im Übrigen auch dazu verwenden könnte, seine Flüchtlingseigenschaft zu beweisen ( 75 ).

127.

Mir scheint, dass die Unvollständigkeit der in Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Liste, in der die Art. 13, 20, 25, 27 und 29 des Genfer Abkommens fehlen, sich auch damit erklären lässt, dass zu diesen Artikeln, wie die belgische und die niederländische Regierung sowie das Parlament und der Rat geltend gemacht haben, Vorbehalte gemäß Art. 42 Ziff. 1 dieses Abkommens gemacht werden können. In der Tat erlaubt es diese Bestimmung den Vertragsstaaten, im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Genfer Abkommens, seiner Ratifikation oder des Beitritts zu diesem Abkommen Vorbehalte zu dessen Artikeln, „mit Ausnahme der Artikel 1, 3, 4, 16(1), 33, 36 bis 46 einschließlich“, zu machen.

128.

Der Unionsgesetzgeber hätte somit beabsichtigt, die Mitgliedstaaten an ihre einschlägigen Verpflichtungen aus dem Genfer Abkommen zu erinnern, die mit keinem Vorbehalt versehen werden können – nämlich die Art. 3, 4, 16 und 33 ( 76 ) –, und sie zugleich verpflichtet, den betroffenen Flüchtlingen auch die Rechte aus den Art. 22 und 31 des Abkommens zu gewähren, und zwar wegen der besonderen Bedeutung, die diesen Rechten in der Unionsrechtsordnung zukommt ( 77 ). Die Art. 13, 20, 25, 27 und 29 des Abkommens wären hingegen deshalb nicht ausdrücklich erwähnt worden, weil die Mitgliedstaaten dazu Vorbehalte machen konnten ( 78 ), wobei die Richtlinie 2011/95 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten unberührt lässt, die in diesen Artikeln vorgesehenen Rechte zu gewährleisten, wenn sie keine derartigen Vorbehalte gemacht haben.

129.

Diese Erklärung ist im Hinblick darauf zu verstehen, dass Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 ein Mindestmaß an Schutz vorschreibt. Da Art. 14 Abs. 4 und 5 bloße Möglichkeiten bereitstellt, bleibt es den Mitgliedstaaten auf jeden Fall unbenommen, den Flüchtlingen, denen gegenüber sie von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, Rechte einzuräumen, die über das in Art. 14 Abs. 6 vorgesehene Minimum hinausgehen. Nach Art. 3 in Verbindung mit dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten allgemein günstigere Normen namentlich über den Inhalt des internationalen Schutzes erlassen, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.

130.

Aufgrund dieser Erwägungen ist Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 meines Erachtens dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der von den in den Abs. 4 oder 5 dieses Artikels vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch macht, dem betroffenen Flüchtling außer den Rechten aus den Art. 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 des Genfer Abkommens die anderen Rechte gewähren muss, die nach diesem Abkommen jedem Flüchtling zustehen, der sich im Gebiet eines Vertragsstaats befindet, d. h. die Rechte aus den Art. 13, 20, 25, 27 und 29 des Abkommens, sofern dieser Mitgliedstaat zu Letzteren keine Vorbehalte gemäß Art. 42 Ziff. 1 des Abkommens gemacht hat.

131.

Ich meine deshalb, dass die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 in einer Gesamtschau und in der Auslegung, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagen habe, nicht gegen Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV verstoßen.

E.   Schlussbemerkungen

132.

Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass das vorstehende Ergebnis ausschließlich die im Hinblick auf Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV beurteilte Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 insoweit betrifft, als die Mitgliedstaaten dadurch die Möglichkeit erhalten, bestimmten Flüchtlingen die Rechte aus Kapitel VII dieser Richtlinie vorzuenthalten. Der Gerichtshof hat im Rahmen der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen nämlich nur die abstrakte Gültigkeit dieser Möglichkeit im Hinblick auf die genannten Vorschriften zu prüfen, und die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen haben sich nur auf diese Frage bezogen.

133.

Dieses Ergebnis lässt die einzelfallbezogene Beurteilung der Frage unberührt, inwieweit der Gebrauch, den ein Mitgliedstaat von den Möglichkeiten gemäß Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie macht, mit bestimmten durch die Charta garantierten Grundrechten zu vereinbaren ist.

134.

Dabei denke ich an drei Beispiele. Erstens könnte ein Mitgliedstaat, der in Wahrnehmung dieser Möglichkeiten einem Flüchtling den Zugang zu einer bestimmten ärztlichen Versorgung verwehrte, gegen Art. 35 der Charta (betreffend das Recht auf Gesundheitsversorgung) verstoßen und, sofern er das Leben dieses Flüchtlings gefährdete oder ihn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aussetzte, sogar Art. 2 Abs. 1 (betreffend das Recht auf Leben) oder Art. 4 der Charta verletzen ( 79 ). Zweitens müsste ein Mitgliedstaat, wenn er beschlösse, den betreffenden Flüchtling in ein sicheres Drittland auszuweisen, das bereit wäre, ihn aufzunehmen ( 80 ), die Vereinbarkeit einer solchen Maßnahme mit dem in Art. 7 der Charta verbürgten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens überprüfen ( 81 ). Drittens lässt sich – wenngleich die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten gemäß Art. 15 der Charta nur Staatsangehörigen dritter Länder zustehen, „die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen“ – nicht ausschließen, dass etwa die Weigerung, einem Flüchtling nach seiner Haftentlassung einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu gestatten, obwohl er nicht in ein Drittland abgeschoben werden kann und daher wohl auf unbestimmte Zeit im Aufnahmemitgliedstaat verbleiben wird, je nach den Umständen gegen Art. 7 der Charta verstoßen kann. Nach der Rechtsprechung des EGMR umfasst Art. 8 EMRK, dem Art. 7 der Charta entspricht, nämlich die soziale Identität sowie die persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind ( 82 ).

V. Ergebnis

135.

Nach alledem schlage ich vor, die Fragen des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) in den Rechtssachen C‑77/17 und C‑78/17 sowie des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) in der Rechtssache C‑391/16 wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung die Entscheidung widerrufen, aufheben oder nicht mehr verlängern können, mit der sie den unter diese Bestimmung fallenden Flüchtlingen die Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie zuerkannt haben, wobei eine solche Entscheidung weder deren Flüchtlingseigenschaft berührt noch die Ungültigkeit der Entscheidung zur Folge hat, durch die ihnen diese Eigenschaft zuerkannt worden ist.

2.

Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten sich nach dieser Bestimmung weigern können, den unter diese Bestimmung fallenden Flüchtlingen die Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie zuzuerkennen, wobei eine solche Weigerung weder deren Flüchtlingseigenschaft noch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten berührt, ihren Antrag auf internationalen Schutz unter Beachtung der Anforderungen aus der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes zu prüfen.

3.

Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, wenn er von den in den Abs. 4 und 5 dieses Artikels vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch macht, verpflichtet bleibt, den betroffenen Flüchtlingen, solange sie sich in seinem Hoheitsgebiet befinden, nicht nur die Rechte aus den Art. 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, sondern auch die Rechte aus den Art. 13, 20, 25, 27 und 29 dieses Abkommens zu gewährleisten, sofern er zu diesen Bestimmungen keine Vorbehalte gemäß Art. 42 Ziff. 1 dieses Abkommens gemacht hat.

4.

Die Prüfung von Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmungen in Frage stellen könnte.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

( 3 ) Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt.

( 4 ) Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des Genfer Abkommens müssen solche Befürchtungen auf Ereignissen beruhen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind. Nach Art. 1 des New Yorker Protokolls wenden die Vertragsstaaten dieses Abkommen jedoch an, ohne diesen Stichtag zu berücksichtigen.

( 5 ) Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12).

( 6 ) Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584, deutsche Übersetzung im Moniteur belge/Belgischen Staatsblatt vom 22. Dezember 1995.

( 7 ) Art. 14 Abs. 4 bis 6 dieser Richtlinie stimmt inhaltlich mit den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 überein.

( 8 ) Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83, 28. Januar 2005, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=48d2009b2, S. 26 und 27.

( 9 ) UNHCR comments on the European Commission’s proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on minimum standards for the qualification and status of third country nationals or stateless persons as beneficiaries of international protection and the content of the protection granted (KOM[2009] 551, vom 21. Oktober 2009), zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/4c503db52.html, S. 13 und 14.

( 10 ) Siehe Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge.

( 11 ) ECRE, European Legal Network on Asylum (ELENA), The Impact of the Qualification Directive on International Protection, Oktober 2008, S. 25, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/4908758d2.html.

( 12 ) International Association of Refugee Law Judges, A Manual for Refugee Law Judges relating to European Council Qualification Directive 2004/38/EC and European Council Procedures Directive 2005/85/EC, 2007, S. 30 und 31.

( 13 ) Ich weise darauf hin, dass die französische Fassung der Richtlinie 2011/95 bei Art. 14 Abs. 4 Buchst. a von „motifs raisonnables“ spricht, während in Art. 21 Abs. 2 Buchst. a von „raisons sérieuses“ die Rede ist. Die bulgarische und die tschechische Fassung machen ebenfalls eine solche Unterscheidung. In den anderen Sprachfassungen ist jedoch keine solche Unterscheidung erkennbar.

( 14 ) Aus dem Urteil vom 24. Juni 2015, H. T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 75), ergibt sich, dass Art. 21 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 einen weniger weiten Anwendungsbereich als Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie haben, der die Aufhebung nur des Aufenthaltstitels eines Flüchtlings aus „zwingenden Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung“ gestattet. Dem Gerichtshof zufolge haben solche „zwingenden Gründe“ eine weitere Bedeutung als die „stichhaltigen Gründe“ gemäß Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 – und folglich als die „stichhaltigen Gründe“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 und 5, deren Anwendungsbereich mit dem von Art. 21 Abs. 2 übereinstimmt.

( 15 ) Vgl. Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85), vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 56), und vom 24. April 2018, MP (Subsidiärer Schutz eines Opfers von Folterhandlungen) (C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 36).

( 16 ) ABl. 2007, C 303, S. 24.

( 17 ) Art. 52 Abs. 3 der Charta bestimmt: Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

( 18 ) Vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 7. Juli 1989, Soering/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1989:0707JUD001403888, Nrn. 90 und 91), vom 15. November 1996, Chahal/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1996:1115JUD002241493, Nrn. 74 und 80), und vom 17. Dezember 1996, Ahmed/Österreich (CE:ECHR:1996:1217JUD002596494, Nrn. 39 und 41).

( 19 ) Dieses Instrument, dessen Art. 7 die Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verbietet, wurde am 16. Dezember 1966 in New York verabschiedet und trat am 23. März 1976 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten sind ihm beigetreten. Vgl. Allgemeiner Kommentar Nr. 31 [80] des Menschenrechtsausschusses zur Art der den Vertragsstaaten auferlegten allgemeinen Rechtspflicht, 29. März 2004, Nr. 12, CCPR/C/21/Rev.1/Add.13.

( 20 ) Dieses Übereinkommen, dessen Art. 3 das betreffende Verbot enthält, wurde am 10. Dezember 1984 in New York verabschiedet und trat am 26. Juni 1987 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten sind ihm beigetreten.

( 21 ) In diesem restriktiven Sinne ist meines Erachtens Rn. 43 des Urteils vom 24. Juni 2015, H. T. (C‑373/13, EU:C:2015:413), zu verstehen, in der der Gerichtshof anerkannt hat, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Einhaltung ihrer in Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen und ihrer Verpflichtungen aus der Charta einen Flüchtling zurückweisen können, der die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie erfüllt.

( 22 ) Vgl. Urteil vom 17. Juli 2014, Qurbani (C‑481/13, EU:C:2014:2101, Rn. 23 bis 25). Der Gerichtshof hat darin entschieden, dass die Bestimmungen des Genfer Abkommens für die Union – da sie nicht sämtliche Zuständigkeiten übernommen hat, die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich dieses Abkommens ausgeübt wurden – keine Bindungswirkung im Sinne der Rechtsprechung entfalten, die in den Urteilen vom 12. Dezember 1972, International Fruit Company u. a. (21/72 bis 24/72, EU:C:1972:115, Rn. 18), vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 48), und vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland (C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 62), entwickelt worden ist.

( 23 ) Insoweit lässt sich eine gewisse Parallele zu der besonderen Bedeutung ziehen, die der EMRK in der Unionsrechtsordnung zukommt, obwohl die Union der EMRK nicht beigetreten ist. Wie sich aus Art. 6 Abs. 3 EUV ergibt, sind die „Grundrechte, wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, ... als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Der Gerichtshof hat, bevor die Charta als rechtsverbindliches Instrument verabschiedet wurde, die Gültigkeit von Bestimmungen des Sekundärrechts anhand dieses Artikels, wie er im Licht der EMRK zu verstehen ist, geprüft. Vgl. u. a. Urteile vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a. (C‑154/04 und C‑155/04, EU:C:2005:449, Rn. 130), und vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 26 und 29).

( 24 ) Vgl. Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a, Art. 14 Abs. 6 und Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95.

( 25 ) Vgl. u. a. Art. 2 Buchst. d, Art. 11, Art. 12 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95.

( 26 ) Vgl. u. a. Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 51 bis 54), vom 17. Juni 2010, Bolbol (C‑31/09, EU:C:2010:351, Rn. 36 bis 38), vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 76 bis 78), vom 5. September 2012, Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 47 und 48), vom 19. Dezember 2012, Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, EU:C:2012:826, Rn. 42 und 43), vom 1. März 2016, Alo und Osso (C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 28 bis 30), und vom 31. Januar 2017, Lounani (C‑573/14, EU:C:2017:71, Rn. 41 und 42).

( 27 ) Vgl. u. a. Urteile vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland (C‑61/94, EU:C:1996:313, Rn. 52), vom 16. September 2010, Chatzi (C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 43), und vom 31. Januar 2013, McDonagh (C‑12/11, EU:C:2013:43, Rn. 44).

( 28 ) Vgl. Urteil vom 17. Juli 2014, Qurbani (C‑481/13, EU:C:2014:2101, Rn. 24).

( 29 ) Urteil vom 17. Juni 2010 (C‑31/09, EU:C:2010:351, Rn. 42 bis 52). Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Bolbol (C‑31/09, EU:C:2010:119, Nrn. 36 bis 90).

( 30 ) Urteil vom 19. Dezember 2012 (C‑364/11, EU:C:2012:826, Rn. 46 bis 65). Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, EU:C:2012:569, Nrn. 22 bis 24).

( 31 ) Ich weise darauf hin, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) kraft der Gerichtsstandsklausel gemäß Art. 38 des Genfer Abkommens zwar für dessen Auslegung zuständig ist, jedoch nur im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Staaten angerufen werden kann, die diesem Abkommen beigetreten sind (vgl. auch Art. 34 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 2 Buchst. a des Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Juni 1945 [United Nations Treaty Series, Bd. 1, S. XVI]). Der IGH war noch nicht mit den im vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen zur Auslegung des Genfer Abkommens befasst. Unter diesen Umständen ist es unumgänglich, dem Gerichtshof im Rahmen seiner Aufgaben, Sekundärrechtsakte aus dem Bereich der gemeinsamen Asylpolitik anhand des Primärrechts der Union auszulegen und auf ihre Gültigkeit im Hinblick auf dieses Recht zu überprüfen, die Zuständigkeit für die inzidente Auslegung dieses Abkommens zuzuerkennen, damit er diesen Aufgaben uneingeschränkt nachkommen kann.

( 32 ) Siehe insbesondere Nrn. 109 bis 113 der vorliegenden Schlussanträge.

( 33 ) Abgeschlossen am 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331). Obwohl das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge weder die Union noch alle Mitgliedstaaten bindet, gibt eine Reihe seiner Bestimmungen die Regeln des Völkergewohnheitsrechts wieder, die als solche die Organe der Union binden und Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind (Urteil vom 25. Februar 2010, Brita, C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 42 und 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 24. November 2016, SECIL (C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 94).

( 34 ) Das Mandat des UNHCR erstreckt sich u. a. darauf, die Durchführung der Bestimmungen des Genfer Abkommens zu überwachen (vgl. Satzung des Amtes des UNHCR, erlassen am 14. Dezember 1950 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, A/RES/428, Nr. 8 Buchst. a, und Art. 35 des Genfer Abkommens). Im Übrigen heißt es im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95, dass „Konsultationen mit dem [UNHCR] ... den Mitgliedstaaten wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention bieten [können]“. Vgl. dazu Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Bolbol (C‑31/09, EU:C:2010:119, Nr. 16 und Fn. 20).

( 35 ) Der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) hat die primärrechtlichen Vorschriften, auf die er die Frage nach der Gültigkeit der in Rede stehenden Bestimmungen bezieht, um Art. 6 Abs. 3 EUV ergänzt. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass dieses Gericht mit dieser Ergänzung auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen hinweisen wollte, die sich aus dem Genfer Abkommen, dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind, ergeben. Da die Achtung dieses Abkommens auch in Art. 18 der Charta und in Art. 78 Abs. 1 AEUV vorgeschrieben ist, bedeutet die Prüfung der Gültigkeit von Art. 14 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2011/95 im Hinblick auf diese Vorschriften des Primärrechts, dass auch die Vereinbarkeit dieser Richtlinienbestimmung mit Art. 6 Abs. 3 EUV geprüft wird.

( 36 ) Siehe Nrn. 33 und 47 der vorliegenden Schlussanträge.

( 37 ) Vgl. Satzung des Amtes des UNHCR, erlassen am 14. Dezember 1950 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, A/RES/428, Nr. 6 B.

( 38 ) Siehe Nrn. 112 bis 130 der vorliegenden Schlussanträge.

( 39 ) Nämlich in der englischen Fassung, entsprechend der deutschen, die Formulierung „not to grant status to a refugee“. Vgl. auch die dänische, die griechische, die italienische, die lettische, die maltesische, die niederländische, die portugiesische, die slowakische, die slowenische und die schwedische Sprachfassung.

( 40 ) Vgl. u. a. Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso (C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 41 ) Wie der Wortlaut von Art. 11 der Richtlinie 2011/95 zeigt, ist die Person, die von den dort genannten Fallgruppen erfasst wird, „nicht mehr Flüchtling“. Zwar ist die französische Sprachfassung von Art. 12 dieser Richtlinie, wie auch einige andere Sprachfassungen, nicht so eindeutig, da sie sich auf den Ausschluss vom „statut de réfugié“ bezieht; die englische Sprachfassung enthält jedoch die Formulierung „excluded from being a refugee“. Andere Sprachfassungen wie die spanische, die portugiesische und die schwedische verwenden ähnliche Formulierungen. Im Übrigen hängt nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 die Flüchtlingseigenschaft ausdrücklich davon ab, dass kein Ausschlussgrund gemäß Art. 12 dieser Richtlinie Anwendung findet.

( 42 ) Hat der Betreffende dagegen eine solche Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen, bevor er dort als Flüchtling aufgenommen wurde, so ist er nach Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der Art. 1 Abschnitt F Buchst. b des Genfer Abkommens entspricht, von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen. Vgl. dazu auch Additional UNHCR Observations on Article 33(2) of the 1951 Convention in the Context of the Draft Qualification Directive, Dezember 2002, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/437c6e874.html, Nr. 6.

( 43 ) Vgl. Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83, 28. Januar 2005, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=48d2009b2, S. 26, zitiert in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 101 und 104).

( 44 ) Vgl. UNHCR, The Cessation Clauses: Guidelines on their Application, April 1999, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/pdfid/3c06138c4.pdf, Nr. 2; UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Anwendung der Ausschlussklauseln: Artikel 1 F des [Genfer Abkommens], 4. September 2003, HCR/GIP/03/05, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=51c98f714, Nr. 3, und UNHCR, Background Note on the Application of the Exclusion Clauses: Article 1F of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees, 4. September 2003, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=3f5857d24, Nr. 7.

( 45 ) In einem Dokument des UNHCR (Additional UNHCR Observations on Article 33[2] of the 1951 Convention in the Context of the Draft Qualification Directive, Dezember 2002, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/437c6e874.html, Nr. 1) heißt es, wie auch die französische Regierung dargelegt hat, der Gesetzgeber habe im Rahmen der vorbereitenden Arbeiten zur Richtlinie 2004/83 beabsichtigt, die in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie aufgeführten Gründe in die Gründe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und für den Ausschluss von der Anerkennung dieser Eigenschaft aufzunehmen. Diese Absicht ist aber vermutlich wegen der Erfordernisse des Genfer Abkommens nicht verwirklicht worden. Vgl. dazu auch Hailbronner, K., und Thym, D., EU Immigration and Asylum Law: A Commentary, 2. Aufl., C. H. Beck – Hart – Nomos, 2016, S. 1202 und 1203.

( 46 ) Zum Unterschied zwischen den Sprachfassungen von Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 siehe Nr. 76 der vorliegenden Schlussanträge.

( 47 ) Dieses Verfahren bestimmt sich nach Maßgabe der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

( 48 ) Vgl. Art. 23 Abs. 4, Art. 24 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95.

( 49 ) Nach der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), haben die Mitgliedstaaten den Personen, die internationalen Schutz beantragen, jedoch gewisse Mindestrechte zu gewährleisten.

( 50 ) Dazu heißt es im 32. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95, dass „[d]er Begriff ‚Rechtsstellung‘ im Sinne von Artikel 14 ... auch die Flüchtlingseigenschaft einschließen [kann]“. Obwohl sich diesem Erwägungsgrund schwerlich ein eindeutiger Sinn entnehmen lässt, zeigt er nach meiner Meinung doch, dass der Gesetzgeber den Begriff „Rechtsstellung“ in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie etwas anders verstanden wissen wollte als den Begriff „Flüchtlingseigenschaft“ in Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie.

( 51 ) Die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 hat insbesondere den Verlust des Rechts auf einen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie zur Folge. Gegen die betroffenen Flüchtlinge kann folglich eine Rückführungsentscheidung ergehen, und sie können gegebenenfalls in ein Drittland ausgewiesen werden, in dem ihnen nicht die Gefahr droht, verfolgt zu werden oder ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 – d. h. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts – zu erleiden (vgl. Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 43), falls ein solches Drittland bereit ist, sie aufzunehmen. Die Mitgliedstaaten müssen dann die in Art. 32 des Genfer Abkommens zu diesem Zweck vorgesehenen Garantien beachten (siehe Nrn. 112 ff. der vorliegenden Schlussanträge). Zudem verlieren die von Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 erfassten Flüchtlinge die übrigen Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie. Sie befinden sich insoweit in einer anderen Lage als Flüchtlinge, denen nur ein Aufenthaltstitel gemäß Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 entzogen wird. Letztere behalten alle anderen Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie (vgl. Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 95), wobei die zwingenden Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung, die den Entzug eines Aufenthaltstitels rechtfertigen können, auch eine Einschränkung der Leistungen im Zusammenhang mit der Wahrung des Familienverbands und der Ausstellung von Reiseausweisen zur Folge haben können (vgl. Art. 23 Abs. 4 und Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95).

( 52 ) Vgl. dazu UNHCR, Identity Documents for Refugees, EC/SCP/33, 20. Juli 1984, zugänglich über den Link http://www.unhcr.org/uk/excom/scip/3ae68cce4/identity-documents-refugees.htm. Dem HCR zufolge muss „der Flüchtling, um eine Behandlung entsprechend den international anerkannten Normen zu erfahren, den Vertretern staatlicher Stellen nicht nur seine Identität, sondern auch seinen Flüchtlingsstatus nachweisen können“.

( 53 ) Die von Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 erfasste Situation unterscheidet sich insoweit von der in Abs. 3 dieses Artikels geregelten Situation, die Gegenstand einer der beiden Rechtssachen war, in denen das Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 60), ergangen ist. Die letztgenannte Bestimmung gilt nämlich für Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft niemals hätte zuerkannt werden dürfen, so dass die Mitgliedstaaten sowohl diese Eigenschaft als auch die damit verbundenen Rechte aberkennen müssen.

( 54 ) UNHCR, Note on the Cancellation of Refugee Status, 22. November 2004, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/41a5dfd94.html, Nr. 2.

( 55 ) Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83, 28. Januar 2005, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=48d2009b2, S. 27, zitiert in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch UNHCR comments on the European Commission’s proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on minimum standards for the qualification and status of third country nationals or stateless persons as beneficiaries of international protection and the content of the protection granted (COM[2009] 551, vom 21. Oktober 2009), zugänglich über den Link http://www.unhcr.org/protection/operations/4c5037f99/unhcr-comments-european-commissions-proposal-directive-european-parliament.html, S. 14, sowie UNHCR, Asylum in the European Union. A Study of the Implementation of the Qualification Directive, November 2007, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/473050632.html, S. 94.

( 56 ) Das tschechische Asylgesetz, wie es das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑391/16 dargestellt hat (siehe Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge), scheint dieser Auslegung Rechnung zu tragen.

( 57 ) Siehe Nrn. 112 bis 130 der vorliegenden Schlussanträge.

( 58 ) Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95.

( 59 ) Vgl. Art. 24, 28, 30 und 34 der Richtlinie 2011/95.

( 60 ) Vgl. Art. 25 der Richtlinie 2011/95 und Art. 28 des Genfer Abkommens.

( 61 ) Vgl. Art. 33 der Richtlinie 2011/95 und Art. 26 des Genfer Abkommens.

( 62 ) Vgl. Art. 26 der Richtlinie 2011/95 und Art. 17 bis 19 sowie 24 des Genfer Abkommens.

( 63 ) Vgl. Art. 32 der Richtlinie 2011/95 und Art. 21 des Genfer Abkommens.

( 64 ) Vgl. Art. 29 der Richtlinie 2011/95 und Art. 23 des Genfer Abkommens. Zu den in Kapitel VII dieser Richtlinie vorgesehenen Rechten, die mit den in diesem Abkommen niedergelegten Rechten übereinstimmen, gehört außerdem das Recht auf Schutz vor Zurückweisung (Art. 21 der Richtlinie und Art. 33 des Abkommens). Nach Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie führt die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 oder 5 nicht zum Verlust dieses Rechts.

( 65 ) Siehe Nr. 112 der vorliegenden Schlussanträge.

( 66 ) UNHCR, „Lawfully Staying“ – A Note on Interpretation, 3. Mai 1988, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/42ad93304.html. Der UNHCR hat in den Nrn. 16 bis 22 dieses Vermerks gleichwohl die Meinung vertreten, ein Aufenthalt, der nach nationalem Recht nicht legalisiert sei, könne trotzdem je nach den Umständen als „rechtmäßig“ im Sinne des Genfer Abkommens angesehen werden. Vgl. auch Additional UNHCR Observations on Article 33(2) of the 1951 Convention in the Context of the Draft Qualification Directive, Dezember 2002, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/437c6e874.html, Fn. 1.

( 67 ) Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass ein Mitgliedstaat, der einem Flüchtling seinen einzigen Aufenthaltstitel in Anwendung von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 entzieht, unionsrechtlich verpflichtet bleibt, ihm alle übrigen Rechte aus Kapitel VII der Richtlinie zu gewähren (siehe Fn. 51 der vorliegenden Schlussanträge).

( 68 ) Ich halte den Hinweis für angebracht, dass ein Flüchtling, dessen Aufenthalt wegen der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 oder 5 der Richtlinie 2011/95 unrechtmäßig ist und gegen den eine Rückführungsentscheidung ergeht, die wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung oder der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Charta, der EMRK oder dem Völkerrecht nicht vollzogen werden kann, auch unter Art. 14 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) fällt. Nach dieser Bestimmung sorgen die Mitgliedstaaten in der Zeit, während deren die Vollstreckung einer Abschiebung aufgeschoben ist, so weit wie möglich dafür, dass den Betroffenen u. a. die Aufrechterhaltung der Familieneinheit sowie die Gewährung einer medizinischen Notfallversorgung und der unbedingt erforderlichen Behandlung von Krankheiten garantiert wird.

( 69 ) Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83, 28. Januar 2005, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-in/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=48d2009b2, S. 27, zitiert in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge.

( 70 ) Vgl. UNHCR Comments on the European Commission Proposal for a Qualification Regulation – COM (2016) 466, Februar 2018, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/docid/5a7835f24.html, S. 23. Der UNHCR hat darin empfohlen, die Situation eines Flüchtlings, der eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt, in einer Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 entsprechenden Bestimmung zu regeln und diese Bestimmung wie folgt zu ergänzen: „Persons to whom points (a) and (b) [apply] shall be entitled to rights set out in or similar to those set out in Articles 3, 4, 13, 16, 20, 22, 25, 27, 29, 31 and 32 of the Geneva Convention in so far as they are present in the Member State.“

( 71 ) Vgl. u. a. Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian (C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 72 ) Im Urteil vom 12. Juli 2005, Kommission/Frankreich (C‑304/02, EU:C:2005:444, Rn. 83), hat der Gerichtshof die Konjunktion „oder“ in Art. 260 Abs. 2 AEUV – wonach der Gerichtshof gegen einen Mitgliedstaat, der einem Urteil, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, nicht nachgekommen ist, die Zahlung „eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds“ verhängen kann – in kumulativem Sinne verstanden. Vgl. auch Urteil vom 10. März 2005, Tempelman und van Schaijk (C‑96/03 und C‑97/03, EU:C:2005:145, Rn. 43), sowie in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Georgakis (C‑391/04, EU:C:2006:669, Nr. 62).

( 73 ) Das Parlament und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung allerdings vorgetragen, der Wortlaut von Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 verweise deshalb nicht auf die Art. 13 und 27 des Genfer Abkommens, weil die von den Bestimmungen des Art. 14 Abs. 4 und 5 erfassten Flüchtlinge schlechter behandelt werden sollten als Flüchtlinge, die sich, ohne unter diese Bestimmungen zu fallen, nicht (oder noch nicht) rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhielten. Ich bezweifle, dass eine solche Auslegung mit Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV vereinbar ist, da die betreffenden Rechte nach dem Genfer Abkommen „jedem Flüchtling“ ohne jede Einschränkung zustehen, wie auch der UNHCR in seinen in Nr. 113 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Stellungnahmen erklärt hat.

( 74 ) Das Recht auf Ausstellung eines Personalausweises ergibt sich daher meiner Ansicht nach schon aus den anderen in Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 aufgeführten Rechten, da es für die tatsächliche Ausübung dieser Rechte notwendig ist. Mit einer ähnlichen Argumentation hat der Gerichtshof im Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 59 und 60), entschieden, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, im Rahmen des Möglichen die Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen zu befriedigen, dem er gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 eine medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten gewähren muss. Obwohl diese Richtlinie eine solche Verpflichtung nicht ausdrücklich vorsieht, würde der genannte Art. 14 Abs. 1 Buchst. b ohne die Befriedigung dieser Bedürfnisse nämlich seine praktische Wirksamkeit verlieren.

( 75 ) Vgl. UNHCR, Identity Documents for Refugees, EC/SCP/33, 20. Juli 1984, zugänglich über den Link http://www.unhcr.org/uk/excom/scip/3ae68cce4/identity-documents-refugees.html, Nr. 2, und Kommentar des UNHCR zur Richtlinie 2004/83, 28. Januar 2005, zugänglich über den Link http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=48d2009b2, S. 35. Siehe dazu Nr. 97 der vorliegenden Schlussanträge.

( 76 ) In Art. 1 des Genfer Abkommens wird der Begriff „Flüchtling“ definiert. Die Art. 36 bis 46 dieses Abkommens enthalten Durchführungs- und Übergangsvorschriften und betreffen somit nicht den Inhalt der Rechte von Flüchtlingen.

( 77 ) Die besondere Bedeutung des in Art. 22 Abs. 1 des Genfer Abkommens vorgesehenen Rechts auf Zugang zur öffentlichen Erziehung ergibt sich hinsichtlich des Grundschulunterrichts aus Art. 14 der Richtlinie 2013/33. Nach dieser Bestimmung müssen die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, sowie minderjährigen Antragstellern in ähnlicher Weise wie den eigenen Staatsangehörigen einen Zugang zum – zumindest öffentlichen – Bildungssystem gestatten (vgl. auch Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/115). Art. 8 der Richtlinie 2013/33, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten ... eine Person nicht allein deshalb in Haft [nehmen], weil sie [einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat]“, ist ein Beleg für die grundlegende Bedeutung des in Art. 31 dieses Abkommens (auf den der 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie speziell verweist) normierten Verbots, Flüchtlinge allein wegen ihrer unrechtmäßigen Einreise oder ihres unrechtmäßigen Aufenthalts zu bestrafen (vgl. auch 20. Erwägungsgrund und Art. 28 Abs. 1 der Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [ABl. 2013, L 180, S. 31]).

( 78 ) Mehrere Mitgliedstaaten, nämlich die Republik Estland, Irland, die Republik Österreich, das Königreich Schweden und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, haben gewisse Vorbehalte zu Art. 25 des Genfer Abkommens gemacht. Irland und die Französische Republik haben Vorbehalte zu Art. 29 dieses Abkommens gemacht. Vgl. United Nations Treaty Collection, zugänglich über den Link https://treaties.un.org/pages/ViewDetailsII.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=V-2&chapter=5&Temp=mtdsg2&clang=_en.

( 79 ) Vgl. zur Tragweite von Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 EMRK (die Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 4 der Charta entsprechen) Urteil des EGMR vom 10. April 2012, Panaitescu/Rumänien (CE:ECHR:2012:0410JUD003090906, Nrn. 27 bis 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ich erinnere daran, dass in der Charta enthaltene Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird, wobei die Möglichkeit besteht, durch das Unionsrecht einen weiter gehenden Schutz zu gewähren. Die Verweigerung des Zugangs zu einer bestimmten medizinischen Versorgung könnte unter Umständen auch gegen Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 verstoßen (siehe Fn. 68 der vorliegenden Schlussanträge).

( 80 ) Siehe Fn. 51 der vorliegenden Schlussanträge.

( 81 ) Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die EMRK nicht das Recht eines Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten; nach einem feststehenden völkerrechtlichen Grundsatz sind die Vertragsstaaten unbeschadet ihrer Verpflichtungen aus Verträgen (einschließlich der EMRK) befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Ausländern zu kontrollieren. Maßnahmen, die das Aufenthaltsrecht eines Ausländers einschränken, können jedoch in bestimmten Fällen gegen Art. 8 EMRK verstoßen, wenn sich daraus unverhältnismäßige Auswirkungen auf dessen Privat- und/oder Familienleben ergeben (vgl. u. a. Urteil vom 26. Juni 2012, Kurić u. a./Slowenien, CE:ECHR:2012:0626JUD002682806, Nr. 355 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zu den bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Abschiebemaßnahme zu berücksichtigenden Faktoren vgl. Urteile des EGMR vom 2. August 2001, Boultif/Schweiz (CE:ECHR:2001:0802JUD005427300, Nr. 48), und vom 18. Oktober 2006, Üner/Niederlande (CE:ECHR:2006:1018JUD004641099, Nrn. 57 und 58). Diese Grundsätze gelten auch, wenn es um die Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung geht, mit der die Ausstellung eines Aufenthaltstitels verweigert wird (vgl. u. a. Urteil des EGMR vom 1. März 2018, Ejimson/Deutschland, CE:ECHR:2018:0301JUD005868112, Nrn. 56 und 57).

( 82 ) Vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 9. Oktober 2003, Slivenko/Lettland (CE:ECHR:2003:1009JUD004832199, Nr. 96), und in diesem Sinne vom 18. Oktober 2006, Üner/Niederlande (CE:ECHR:2006:1018JUD004641099, Nr. 59).