SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 20. Dezember 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑258/16

Finnair Oyj

gegen

Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia

(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein oikeus [Oberster Gerichtshof, Finnland])

„Beförderung im internationalen Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 31 – Haftung des Luftfrachtführers für Schäden an aufgegebenem Reisegepäck – Anforderungen an die Form und den Inhalt einer schriftlich gegenüber dem Luftfrachtführer erstatteten Anzeige – Beleg einer Fluggesellschaft über einen Schaden am Reisegepäck eines Fluggastes, der auf Verlangen des Fluggastes zur Geltendmachung eines Anspruch gegen die Versicherungsgesellschaft des Fluggastes verwendet wird“

1.

Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, unterzeichnet in Montreal am 28. Mai 1999 (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), und insbesondere dessen Art. 31, wonach Anzeigen betreffend aufgegebenes Reisegepäck „schriftlich“ zu erklären sind und binnen sieben Tagen nach der Annahme des Reisegepäcks zu erfolgen haben.

2.

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen einer Versicherungsgesellschaft (Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia, im Folgenden: Fennia) und einer Fluggesellschaft (Finnair) und betrifft einen Schaden, der aufgrund des Verlusts von Gegenständen aus aufgegebenem Reisegepäck entstanden ist, das Frau Mäkelä-Dermedesiotis gehörte, einer Reisenden auf einem Flug dieser Gesellschaft. Frau Mäkelä-Dermedesiotis hatte bei Fennia eine Versicherung gegen solche Schäden abgeschlossen, und nachdem diese ihr den Schaden ersetzt hatte und sie ihren Anspruch an Fennia abgetreten hatte, hat Fennia Klage gegen Finnair erhoben, um einen Regressanspruch gegen sie geltend zu machen.

Verordnung Nr. 2027/97

3.

Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates ( 2 ) legt fest:

„Diese Verordnung setzt die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr um und trifft zusätzliche Bestimmungen. …“

4.

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 lautet:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der [Union] für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

Übereinkommen von Montreal

5.

Das Übereinkommen von Montreal wurde im Namen der damaligen Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates genehmigt ( 3 ).

6.

Gemäß dem dritten Erwägungsgrund des Übereinkommens von Montreal erkennen die Parteien des Übereinkommens die „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadensersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [an]“.

7.

In diesem Zusammenhang heißt es im fünften Erwägungsgrund, dass „gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften … durch ein neues Übereinkommen das beste Mittel ist, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

8.

Nach Art. 1 („Anwendungsbereich“) gilt das Übereinkommen von Montreal „für jede internationale Beförderung von Personen, Reisegepäck oder Gütern, die durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt erfolgt“.

9.

Art. 17 trägt die Überschrift „Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“. Abs. 2 dieser Bestimmung sieht im Wesentlichen eine verschuldensunabhängige Haftung des Luftfrachtführers für die Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck vor.

10.

Art. 22 legt die finanzielle Haftungsgrenze für Luftfrachtführer u. a. für beschädigtes Reisegepäck fest.

11.

Nach Art. 29 („Grundsätze für Ansprüche“) kann „ein Anspruch auf Schadensersatz“ nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in dem Übereinkommen vorgesehen sind.

12.

Art. 31 („Fristgerechte Schadensanzeige“) des Übereinkommens von Montreal lautet:

„(1)   Nimmt der Empfänger aufgegebenes Reisegepäck … vorbehaltlos an, so begründet dies die widerlegbare Vermutung, dass sie unbeschädigt und entsprechend dem Beförderungsschein oder den anderen Aufzeichnungen im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 und Artikels 4 Absatz 2[ ( 4 )] abgeliefert worden sind.

(2)   Im Fall einer Beschädigung muss der Empfänger unverzüglich nach Entdeckung des Schadens, bei aufgegebenem Reisegepäck jedenfalls binnen sieben … Tagen nach der Annahme, dem Luftfrachtführer Anzeige erstatten. Im Fall einer Verspätung muss die Anzeige binnen einundzwanzig Tagen, nachdem das Reisegepäck … dem Empfänger zur Verfügung gestellt worden [ist], erfolgen.

(3)   Jede Beanstandung muss schriftlich erklärt und innerhalb der dafür vorgesehenen Frist übergeben oder abgesandt werden.

(4)   Wird die Anzeigefrist versäumt, so ist jede Klage gegen den Luftfrachtführer ausgeschlossen, es sei denn, dass dieser arglistig gehandelt hat.“

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

13.

Frau Mäkelä-Dermedesiotis reiste mit einem Flug von Finnair von Malaga (Spanien) nach Helsinki (Finnland). Nach ihrer Ankunft in Helsinki am 1. November 2010 stellte sie fest, dass Gegenstände aus dem Reisekoffer fehlten, den sie aufgegeben hatte.

14.

Noch am selben Tag benachrichtigte Frau Mäkelä-Dermedesiotis einen Vertreter des Kundendienstes von Finnair. Sie benannte die fehlenden Gegenstände und teilte dem Vertreter deren Wert mit. Der Vertreter nahm die von Frau Mäkelä-Dermedesiotis gegebenen Informationen in das elektronische Schadensinformationssystem von Finnair auf. Am 3. November 2010 rief Frau Mäkelä-Dermedesiotis erneut den Kundendienst von Finnair an und bat um einen Beleg über den Vorgang für ihren Versicherungsanspruch aus der bei Fennia abgeschlossenen Versicherung. Finnair sandte ihr diesen Beleg ordnungsgemäß zu.

15.

Daraufhin ersetzte Fennia Frau Mäkelä-Dermedesiotis den entstandenen Schaden und erhob – nachdem ihr Frau Mäkelä-Dermedesiotis den ursprünglichen Anspruch abgetreten hatte – am 2. September 2011 Klage vor dem Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki, Finnland), mit der sie gegen Finnair einen Regressanspruch geltend macht.

16.

Finnair ist der Klage im Wesentlichen mit dem Vorbringen entgegengetreten, dass der Regressanspruch ausgeschlossen sei, da Frau Mäkelä-Dermedesiotis den Anspruch nicht schriftlich innerhalb der in Art. 31 des Übereinkommens von Montreal festgelegten Frist geltend gemacht habe. Das angerufene Gericht entschied im Sinne von Finnair und wies die Klage mit Urteil vom 4. September 2012 ab.

17.

Fennia legte beim Helsingin hovioikeus (Rechtsmittelgericht Helsinki, Finnland) ein Rechtsmittel ein. Dieses Gericht prüfte u. a. die Hinweise auf den Internetseiten von Finnair, die unterschiedliche Anleitungen für die Erstattung einer Schadensanzeige und einer schriftlichen Beanstandung enthielten. Eine Schadensanzeige könne telefonisch erstattet werden, während eine schriftliche Anzeige auf einem gesonderten Formular binnen sieben Tagen nach Annahme des Gepäcks erfolgen müsse. Das Gericht hielt die den Internetseiten von Finnair zu entnehmende Anleitung „für einen Fluggast als Verbraucher nicht für hinreichend klar und eindeutig“. Da in der Anleitung nicht gesondert erwähnt sei, für welchen Zweck die Schadensanzeige zu erstatten sei, habe bei dem Fluggast als Verbraucher der Eindruck entstehen können, dass auch eine telefonisch bei Finnair erstattete Anzeige, die der Sachbearbeiter registriere, das Erfordernis der schriftlichen Beanstandung erfüllen könne. Der Fluggast habe den genau bezeichneten Schaden bei Finnair angezeigt und einen schriftlichen Beleg erhalten, dem zu entnehmen sei, dass die Anzeige fristgerecht im System des Unternehmens registriert worden sei. Finnair habe den Fluggast nach Entgegennahme der Anzeige nicht gesondert darüber informiert, dass die Anzeige zur Wahrung der Haftung nicht ausreichend gewesen sei und dass eine weitere schriftliche Anzeige hätte eingereicht werden müssen.

18.

Das Rechtsmittelgericht entschied auf der Grundlage dieses Sachverhalts, dass der Fluggast fristgerecht eine wirksame Beanstandung gegenüber dem Luftfrachtführer erklärt habe. Mit Urteil vom 28. Februar 2014 hob dieses Gericht das angefochtene Urteil auf und verurteilte Finnair, an Fennia Ersatz zu leisten.

19.

Finnair hat beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) Beschwerde eingelegt und beantragt, das Urteil des Helsingin hovioikeus (Rechtsmittelgericht Helsinki) aufzuheben und das Urteil des Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki) zu bestätigen.

20.

Das Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1.

Ist Art. 31 Abs. 4 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass die Erhaltung des Klagerechts neben der fristgerechten Erklärung der Beanstandung voraussetzt, dass die Beanstandung innerhalb der Anzeigefrist schriftlich im Sinne von Art. 31 Abs. 3 erklärt wird?

2.

Falls die Erhaltung des Klagerechts voraussetzt, dass die fristgerechte Beanstandung schriftlich erklärt wird, ist dann Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass das Schriftformerfordernis durch elektronische Verfahren und auch durch Registrierung des angezeigten Schadens im Informationssystem des Luftfrachtführers gewahrt werden kann?

3.

Steht das Übereinkommen von Montreal einer Auslegung entgegen, wonach das Schriftformerfordernis als erfüllt anzusehen ist, wenn ein Vertreter des Luftfrachtführers die Schadensanzeige/Beanstandung mit Wissen des Fluggastes schriftlich entweder auf Papier oder elektronisch in das System des Luftfrachtführers aufnimmt?

4.

Stellt Art. 31 des Übereinkommens von Montreal an die Beanstandung weitere inhaltliche Anforderungen als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer zur Kenntnis zu bringen ist?

21.

Finnair, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

22.

In der Sitzung vom 23. März 2017 haben Finnair, Fennia und die Europäische Kommission mündlich verhandelt.

Würdigung

Allgemeine Bemerkungen

23.

Die Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal bilden seit dem 28. Juni 2004 einen integralen Bestandteil der Unionsrechtsordnung, und der Gerichtshof ist daher dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über ihre Auslegung zu entscheiden ( 5 ).

24.

Das Übereinkommen von Montreal enthält keine Definition der Begriffe „schriftlich erklärt“ oder „schriftlich“. Daher sind „diese Begriffe angesichts des Gegenstands dieses Übereinkommens, der in der Vereinheitlichung der Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr besteht, ungeachtet der unterschiedlichen Bedeutungen dieser Begriffe in den internen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten des Übereinkommens einheitlich und autonom auszulegen“, und sie sind „nach den Auslegungsregeln des allgemeinen Völkerrechts auszulegen, an die die Union gebunden ist“ ( 6 ).

25.

In dieser Hinsicht bestimmt Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ( 7 ) (im Folgenden: WÜRV) – das Regeln des allgemeinen Völkerrechts kodifiziert –, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist ( 8 ).

26.

Was Letzteres betrifft, sprechen der dritte und der fünfte Erwägungsgrund des Übereinkommens von Montreal von der „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadensersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ und davon, dass gemeinsames Handeln der Staaten durch ein neues Übereinkommen das „beste Mittel ist, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

Zur ersten Frage

27.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine Schadensersatzklage gegen den Luftfrachtführer wegen eines Schadens an aufgegebenem Reisegepäck nach Art. 31 Abs. 4 des Übereinkommens von Montreal ausgeschlossen ist, wenn eine Beanstandung innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 festgelegten Frist erklärt worden ist, diese jedoch nicht die Voraussetzung erfüllt, „schriftlich“ erklärt worden zu sein im Sinne von Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens.

Vorbemerkungen: „Verlust“ oder „Beschädigung“ von Reisegepäck?

28.

Wie dargelegt, betraf die ursprüngliche Anzeige von Frau Mäkelä-Dermedesiotis Gegenstände, die in ihrem aufgegebenen Reisegepäck eingepackt waren und fehlten, als das Gepäck in Helsinki abgeliefert wurde. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, wirft dies die Frage auf, ob der Schaden, der entsteht, wenn Gegenstände verloren gehen, die in aufgegebenem Reisegepäck eingepackt waren, als „Beschädigung“ oder als „Verlust“ von Reisegepäck einzustufen ist.

29.

Nach Art. 17 Abs. 2 des Übereinkommens „[hat der] Luftfrachtführer [unter bestimmten Voraussetzungen] den Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht“. Art. 31 Abs. 2 sieht vor, dass im Fall einer Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck binnen sieben Tagen nach der Annahme dem Luftfrachtführer Anzeige zu erstatten ist. Art. 31 legt jedoch keine konkrete Frist für Anzeigen wegen Verlusts von Reisegepäck fest ( 9 ).

30.

Meines Erachtens ist der Verlust von Gegenständen aus aufgegebenem Reisegepäck besser als „Beschädigung von Reisegepäck“ einzustufen. In dieser Hinsicht ist danach zu unterscheiden, ob der Reisende das aufgegebene Gepäck erhalten hat (wenn auch nicht in einwandfreiem Zustand) – wie im vorliegenden Fall – oder ob er es überhaupt nicht erhalten hat.

31.

Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal legt fest, dass die vorbehaltlose Annahme von aufgegebenem Reisegepäck durch den Empfänger die widerlegbare Vermutung begründet, dass es unbeschädigt abgeliefert worden ist. Nachdem der Fluggast das Reisegepäck angenommen hat, ist er in der Lage, festzustellen, ob sich das Reisegepäck in gutem Zustand befindet oder nicht, wozu auch gehört, ob es unversehrt ist. Ist ein Schaden entstanden, hat der Reisende innerhalb der vorgeschriebenen Frist und Form Anzeige zu erstatten, um seine Ansprüche zu erhalten. Nachdem der Luftfrachtführer das aufgegebene Reisegepäck übergeben hat, hat er keine Kontrolle mehr darüber und nur begrenzte Möglichkeiten, festzustellen, ob ein später geltend gemachter Schaden entstanden ist, während sich das Reisegepäck in seinem Gewahrsam befand, oder ob das Reisegepäck erst nach der Ablieferung beschädigt wurde. Diese Bedenken gelten erst recht, wenn behauptet wird, im aufgegebenen Reisegepäck fehlten Gegenstände. Daher ist es angemessen, den Reisenden zu verpflichten, etwaige Schäden am Reisegepäck innerhalb kurzer Zeit nach der Ablieferung anzuzeigen. Dementsprechend dürfte die Anzeige eines Schadens an aufgegebenem Reisegepäck bzw. seinem Inhalt komplexer sein als die bloße Angabe „mein Gepäck ist verloren gegangen“. Daher ist es im Interesse einer effizienten und reibungslosen Sachbearbeitung angemessen, eine schriftliche Aufzeichnung der Anzeige zu verlangen.

32.

Solche Bedenken bestehen nicht, wenn das aufgegebene Reisegepäck verloren gegangen ist. Der Luftfrachtführer hat das aufgegebene Gepäck in seinen Gewahrsam genommen. Das Reisegepäck ist verloren gegangen, während es sich in der Obhut des Luftfrachtführers befand. Daher besteht nicht der gleiche Bedarf, förmliche Anforderungen in Bezug auf Anzeigefristen festzulegen oder die Form der zu erstattenden Anzeige vorzuschreiben. Ich weise zudem darauf hin, dass, da es nicht zur „Annahme“ – im Sinne von Art. 31 Abs. 1 – von verloren gegangenem Reisegepäck durch den Fluggast kommt (gerade das ist dessen Problem!), meiner Ansicht nach kein Teil von Art. 31 anwendbar ist, wenn das aufgegebene Reisegepäck verloren gegangen und dem Fluggast nie ausgehändigt worden ist.

33.

Die Annahme von aufgegebenem Reisegepäck, in dem Gegenstände fehlen, ist daher als Annahme von „beschädigtem“ Reisegepäck einzustufen und nicht als „Verlust von Reisegepäck“. Dementsprechend gelten die Voraussetzungen von Art. 31.

Muss die Anzeige schriftlich innerhalb der Frist von sieben Tagen erfolgen, um wirksam zu sein?

34.

Art. 31 Abs. 4, nach dem jede Klage gegen den Luftfrachtführer ausgeschlossen ist, wenn die Anzeigefrist versäumt wird, sieht nicht ausdrücklich vor, dass die Anzeige „schriftlich erklärt“ werden muss. Dieses Erfordernis wird ausdrücklich nur in Art. 31 Abs. 3 erwähnt. Das wirft die Frage auf, welche Folgen eine Anzeige hat, die zwar fristgerecht erstattet wurde, jedoch das Schriftformerfordernis nicht erfüllt.

35.

Man könnte argumentieren, dass der Luftfrachtführer in Kenntnis gesetzt ist, wenn eine mündliche Anzeige erfolgt ist, und dass das Schriftformerfordernis lediglich eine Frage der Beweisführung ist. Diese Auslegung läuft jedoch meiner Ansicht nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 31 zuwider. Nach Art. 31 Abs. 3 „[muss j]ede Beanstandung … schriftlich erklärt“ und innerhalb der dafür vorgesehenen Frist übergeben oder abgesandt werden. Dieser allgemeinen Regel ist zu entnehmen, dass eine nicht schriftliche Anzeige für die Zwecke des Übereinkommens von Montreal nicht ausreicht. Die logische Konsequenz wäre, dass die Anzeige – um das Klagerecht zu erhalten – nicht nur innerhalb der gesetzten Frist zu erfolgen hat, sondern auch (innerhalb dieser Frist) „schriftlich“.

36.

Ich schlage daher vor, die erste Vorlagefrage wie folgt zu beantworten: Eine Klage gegen den Luftfrachtführer auf Ersatz des Schadens an aufgegebenem Reisegepäck ist nach dem Übereinkommen von Montreal ausgeschlossen, wenn eine Anzeige zwar innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgesehenen Frist erstattet worden ist, jedoch nicht die Voraussetzung erfüllt, „schriftlich“ erklärt worden zu sein im Sinne von Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens.

Zur zweiten Frage

37.

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass ein elektronisches Verfahren – wie etwa die Registrierung der Anzeige im Informationssystem des Luftfrachtführers – dem Schriftformerfordernis genügt.

38.

Auch wenn diese Frage vordergründig dahin geht, ob das Beschreiben elektronischer Trägermedien unter den Begriff „schriftlich“ fallen kann, fragt das vorlegende Gericht hier im Kern, ob das Übereinkommen von Montreal dahin auszulegen ist, dass nur Dokumente in Papierform (das konventionelle Medium der schriftlichen Kommunikation zur Zeit der Abfassung des Übereinkommens von Montreal) wirksame Anzeigen im Sinne von Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens darstellen. Falls das Übereinkommen nicht so eng auszulegen ist, auf welchen Trägermedien können Anzeigen nach ihrer Übermittlung erfasst werden, damit die Anzeige als „schriftlich“ gelten kann?

39.

Zunächst ist es sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, was „schriftlich“ bedeutet und welche Zwecke mit dem Erfordernis verfolgt werden, dass die Anzeige „schriftlich“ zu erstatten ist.

40.

Schreiben ist schon viel länger Teil der Geschichte der Menschheit als Fliegen. Schriftliche Texte wurden und werden auf einer Vielzahl verschiedener Trägermedien erstellt – angefangen bei Tontafeln über Pergament, Papier und Papyrus bis hin zu Runenstäben und Marmor- und Granitplatten – und seit Kurzem elektronischen Medien. All diese Texte würde man im gewöhnlichen Sprachgebrauch als „schriftlich“ bezeichnen.

41.

Der Begriff „schriftlich“ beschreibt in diesen Fällen den fertigen Text, so wie er für die Nachwelt formuliert und aufgezeichnet wird. Er stellt keine Aussage über den schöpferischen Hintergrund dieses Textes oder über die Urheberschaft daran dar. So ist es etwa äußerst unwahrscheinlich, dass der Autor des im ägyptischen Memphis im Jahr 196 v. Chr. im Namen von König Ptolemaios V. verfassten Dekrets die Person war, die tatsächlich die Buchstaben der drei Parallelversionen in eine Stele aus Granodiorit eingemeißelt hat – das ändert jedoch nichts an dem Schluss, dass der so entstandene Text des Rosettasteins „schriftlich“ verfasst ist.

42.

Bei der Überlegung, was eine schriftliche Nachricht von einer mündlich übermittelten unterscheidet, ist als wesentlicher Unterschied die Dauerhaftigkeit der Schriftform zu nennen und ihre Abrufbarkeit. Schriftliche Aussagen können im Allgemeinen archiviert und abgerufen werden, und sie können sogar auf verschiedene Weise beglaubigt werden, um u. a. den Nachweis ihrer Herkunft, ihres unveränderten Inhalts und des Zeitpunkts ihrer Übermittlung zu bekräftigen.

43.

Mündliche Aussagen sind als Beweis weit weniger geeignet, auch wenn die Parteien sie aus dem Gedächtnis wiederholen können; häufig gibt es Meinungsverschiedenheiten in der Frage, was genau gesagt oder festgestellt wurde und wann dies genau geschah.

44.

Ein Erfordernis, wonach nur solcher Text, der auf Papier niedergelegt wurde, als „schriftlich“ gelten kann, spiegelt die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs „schriftlich“ nicht wider. Soweit dies Formen der Kommunikation (wie etwa Fax und neuerdings E‑Mail) ausschließen würde, die täglich im Handel, in der Industrie und im Geschäftsverkehr verwendet werden, würde eine solche Auslegung wahrlich archaisch anmuten. Auch ergibt dies im Zusammenhang mit dem modernen Luftverkehr und der Art, wie Fluglinien mit ihren Kunden interagieren, keinen Sinn. Es ist allgemein bekannt, dass Fluggesellschaften elektronische Kommunikation beim Umgang mit ihren Kunden umfassend einsetzen – Verkauf von Online-Tickets, Online-Check-in, elektronische Bordkarten und im Internet erhältliche Informationen zum Verfahren bei Beanstandungen. Eine enge Auslegung des Begriffs „schriftlich“ steht zudem einem ausdrücklichen Zweck des Übereinkommens von Montreal entgegen, nämlich der Anerkennung der „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen“ (wie es im dritten Erwägungsgrund des Übereinkommens heißt). Im Ergebnis finde ich im Übereinkommen von Montreal kein ausdrückliches Erfordernis, wonach eine schriftliche Schadensanzeige auf Papier zu erfolgen hat, und sehe keinen überzeugenden Grund, warum Geschriebenes in elektronischen Trägermedien nicht als „schriftliche“ Schadensanzeige gelten sollte, solange das Geschriebene den Zweck des Erfordernisses erfüllt.

45.

Natürlich müssen ein zusätzliches Maß an praktischer Durchführbarkeit und ein allgemeines Erfordernis, dass die Parteien gutgläubig handeln, in die Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal betreffend die Schadensanzeige hineininterpretiert werden. Wenn Luftfrachtführer die Schadensanzeigen von Fluggästen zügig bearbeiten sollen, sind bestimmte Formen schriftlicher Anzeigen (wie etwa auf einer Steinplatte oder einer Tontafel) wohl weniger geeignet als andere Formen ( 10 ). Auf der anderen Seite sollte eine Anzeige, die in jeder praktischen Hinsicht den Zweck des Schriftformerfordernisses erfüllt, nicht abgetan werden, nur weil ein Stück Papier fehlt. Somit halte ich es für sachgerecht, bei der Auslegung des Begriffs „schriftlich“ den Zweck dieses Erfordernisses sowie praktische Überlegungen und den allgemeinen Sprachgebrauch zur Zeit des maßgeblichen Sachverhalts einzubeziehen. Die Auslegung kann nicht die Art und Weise ignorieren, wie der geschäftliche Umgang zwischen Unternehmen und Kunden normalerweise abläuft, ohne zu absurden Ergebnissen zu gelangen.

46.

Heutzutage ist es in vielen Wirtschaftssektoren übliche Praxis, Dokumente ausschließlich zu scannen und in elektronischer Form aufzubewahren und sie nur auf Papier auszudrucken, wenn dies konkret erforderlich ist.

47.

Finnair hat nicht behauptet, dass etwas auf der Festplatte ihres Informationssystems „Geschriebenes“ den Zweck der Dauerhaftigkeit und Abrufbarkeit nicht so angemessen erfülle wie etwas auf einem Stück Papier Geschriebenes. Was Vergänglichkeit angehe, sei eine Aufzeichnung auf Papier mit einem sachgemäß gesicherten Computersystem vergleichbar; sie könne indes wohl eher verlegt werden oder verloren gehen als eine elektronische Datei, die auf einem entsprechenden elektronischen Trägermedium gesucht werden könne. Es ist auch nicht vorgetragen worden, dass ein elektronisch geführter Vorgang einer papierbasierten Akte unterlegen sei, wenn es darum gehe, zu dokumentieren, wann dem Luftfrachtführer Informationen in Bezug auf Schäden an aufgegebenem Reisegepäck und etwaige nachträgliche Änderungen oder Zusätze übermittelt wurden.

48.

Wurden die erforderlichen Informationen über einen Schaden an aufgegebenem Reisegepäck auf einem dauerhaften Medium festgehalten, das sich im Besitz und unter der Kontrolle des Luftfrachtführers befindet, reicht dies meines Erachtens aus, um die Anzeige als „schriftlich“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal anzusehen. In dieser Hinsicht kann es keinen Unterschied machen, ob das Speichermedium für die Anzeige Papier ist und die Abrufmethode darin besteht, sich zu einem physischen Archiv zu begeben, eine Schublade herauszuziehen und die Kopie auf Papier hervorzuholen, oder ob das Medium die Festplatte eines Computers ist und die Abrufmethode darin besteht, die entsprechende Datei zu öffnen und sie auf einem Computerbildschirm zu lesen (oder sie auf Papier auszudrucken).

49.

In der vorliegenden Rechtssache stellte Finnair einen Papierbeleg über den Vorgang aus und übersandte ihn dem Fluggast, der den Beleg im Rahmen seines Erstattungsantrags an seine Versicherung verwendete. Nach meiner Auffassung ist es nicht erforderlich, das Dokument vorzulegen, damit die Anzeige als schriftlich erstattet gilt. Die Angaben, die Frau Mäkelä-Dermedesiotis telefonisch gegenüber dem Vertreter des Kundendienstes von Finnair machte, wurden in Geschriebenes umgewandelt, als der Vertreter sie in das Informationssystem von Finnair aufnahm. Die Tatsache, dass dieser oder ein anderer Kundendienstmitarbeiter von Finnair eine Bescheinigung in Papierform ausstellen könnte, indem er auf die Schaltfläche „Drucken“ klickt, die als Nachweis der Anzeige gegenüber der Versicherung des Fluggastes dienen könnte (und diente), unterstreicht den Umstand, dass Finnair alle für die Anzeige erforderlichen Informationen in schriftlicher Form vorlagen.

50.

Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass das Schriftformerfordernis in einem elektronischen Verfahren, einschließlich Registrierung der Anzeige im Informationssystem des Luftfrachtführers, gewahrt werden kann.

Zur dritten Frage

51.

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Voraussetzungen von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal erfüllt sind, wenn der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers die Anzeige für den Fluggast schriftlich aufnimmt, sei es auf Papier oder elektronisch im Informationssystem des Luftfrachtführers.

52.

Es ist unstreitig, dass der Vertreter des Kundendienstes von Finnair die von Frau Mäkelä-Dermedesiotis gemachten Angaben in das Informationssystem von Finnair aufnahm. Somit war der Fluggast sowohl die Quelle der Informationen als auch die Person, die die Schadensanzeige erstattet hat. Sodann stellte Finnair Frau Mäkelä-Dermedesiotis einen Beleg über den Vorgang aus, den sie ihr auch zusandte. Unklar ist, ob Finnair eine Papierkopie dieses Belegs für ihre Unterlagen aufbewahrt hat.

53.

Während es in der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts darum geht, was mit „schriftlich“ gemeint ist, betrifft die dritte Frage den Punkt, ob ein Fluggast die Anzeige selbst schriftlich niederlegen muss oder ob es ausreicht, dass die Anzeige auf seine Initiative hin und nach seiner Anweisung schriftlich niedergelegt wird.

54.

Der Wortlaut von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal sagt nicht ausdrücklich, dass die Beanstandung schriftlich vom Fluggast zu erklären ist. Vielmehr legt Art. 31 Abs. 2 fest, dass „[i]m Fall einer Beschädigung … der Empfänger [innerhalb bestimmter Fristen] dem Luftfrachtführer Anzeige erstatten [muss]“; Art. 31 Abs. 3 beschränkt sich auf die Anforderung, dass „[j]ede Beanstandung … schriftlich erklärt und innerhalb der dafür vorgesehenen Frist übergeben oder abgesandt werden [muss]“ ( 11 ). Ich räume ein, dass die französische Sprachfassung, indem sie den üblichen Regeln für die Formulierung von französischen Rechtstexten folgt (wonach eher Substantive als Verben verwendet werden) und sowohl in Art. 31 Abs. 2 als auch in Art. 31 Abs. 3 das Substantiv „protestation“ verwendet, eher impliziert, dass der Fluggast selbst die Beanstandung (die „protestation“) in schriftlicher Form erklären muss, welche dann dem Luftfrachtführer „remise ou expédiée“ (übergeben oder abgesandt) wird. Die englische Fassung ist jedoch aufgrund der Verwendung von Verben flexibler. Das Verb „must complain“ [deutsche Fassung: „muss … Anzeige erstatten“] in Art. 31 Abs. 2 weist lediglich darauf hin, dass die Beanstandung von „the person entitled to delivery“ [deutsche Fassung: „Empfänger“] (dem Subjekt dieses Verbs) ausgehen muss. Das Verb „be made“ [deutsche Fassung: „erklärt … werden“] in Art. 31 Abs. 3 hat „the complaint“ [deutsche Fassung: „Beanstandung“] des Reisenden als Subjekt. Das führt nicht automatisch zu dem Schluss, dass die Beanstandung schriftlich von dem Reisenden selbst erstellt worden sein muss. Vielmehr wird beschrieben, was am Ende des Anzeigeverfahrens vorhanden sein muss (nämlich eine schriftliche Anzeige), damit die Anzeige wirksam ist.

55.

Die verschiedenen Sprachfassungen des Übereinkommens von Montreal sind gleichermaßen verbindlich ( 12 ). Im Rahmen der Anwendung von Art. 31 WÜRV ist das Übereinkommen von Montreal „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen“. Dieser Wortlaut lässt Raum für die Untersuchung, ob eine Anzeige, die von dem Reisenden ausgeht, jedoch von jemand anderem in Schriftform gebracht wurde, als wirksame Anzeige betrachtet werden kann, wenn eine solche Lesart dem Ziel und dem Zweck des Übereinkommens von Montreal unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts besser gerecht wird.

56.

An dieser Stelle weise ich auch darauf hin, dass das Übereinkommen nicht vorschreibt, dass die Anzeige zu unterschreiben oder per Einschreiben (oder in einer anderen bestimmten Form) zu übermitteln ist, um die Urheberschaft an ihr nachzuweisen. Tatsächlich fordert das Übereinkommen nicht, dass die Anzeige per Post geschickt wird: Art. 31 Abs. 3 sieht lediglich vor, dass die Anzeige „übergeben oder abgesandt“ wird. Auch regelt das Übereinkommen nicht, wie der Inhalt und der Zeitpunkt der Anzeige nachzuweisen sind, falls es über diese Punkte im Nachhinein zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Parteien kommt (oder sie gar verschiedener Meinung über die Frage sind, ob überhaupt eine Anzeige erstattet wurde). All dies ist den Verfahrensregeln der Vertragsstaaten überlassen. Die Anzeige dient einfach dazu, den Luftfrachtführer über die Anzeige des Reisenden in Kenntnis zu setzen. Es ist nicht ersichtlich, dass sie darüber hinaus irgendeine andere Rechtswirkung hat.

57.

Somit enthält der Wortlaut des Übereinkommens von Montreal nichts Konkretes, was einen Reisenden daran hindert, die Hilfe einer anderen Person in Anspruch zu nehmen, um die Anzeige, die er erstatten möchte, in Schriftform zu bringen.

58.

Beginnen wir mit zwei einfachen Beispielen.

59.

Reisender A ist Geschäftsmann. Beim Auspacken seines aufgegebenen Reisegepäcks nach einer Geschäftsreise macht er die unerfreuliche Feststellung, dass das Gepäck unbefugt geöffnet wurde und mehrere Gegenstände fehlen. Am nächsten Tag ruft er in seinem Büro bei seiner Sekretärin an und diktiert ihr die erforderlichen Informationen für ein kurzes Schreiben. Sie tippt dies ab. Unten auf den Ausdruck setzt er seine (unleserlichen) Initialen und weist seine Sekretärin an, dies zu versenden. Sie scannt den Ausdruck ein und verschickt ihn per E‑Mail an die Fluggesellschaft.

60.

Reisender B fliegt zu einem abgelegenen Reiseziel, um dort einen zweiwöchigen Trekkingurlaub zu beginnen. Er kommt spät abends an und stellt beim Entgegennehmen seines Rucksacks, den er aufgegeben hatte, fest, dass dieser beschädigt ist. Der Schalter mit der Aufschrift „Information“ ist unbesetzt, und sein Anschlusstransportmittel ist bereit zur Abfahrt. Auf einem großen Schild in internationalem Englisch steht „Probleme mit dem Gepäck? Rufen Sie [Telefonnummer] an“. Er notiert sich die Nummer und ruft am nächsten Morgen (als er noch Empfang hat) von seinem Handy aus einen Mitarbeiter des Bodenpersonals an, um eine Anzeige zu erstatten. Der Kundendienstmitarbeiter gibt die Informationen in die computergestützte Datenbank der Fluggesellschaft ein und sendet eine SMS-Nachricht mit Anhang an das Handy des Reisenden B mit Kopie an dessen E‑Mail-Adresse.

61.

Die Anzeige des Reisenden A wurde elektronisch von einer Person bearbeitet, die ihm direkt untersteht, wurde ausgedruckt, dann erneut in elektronische Form umgewandelt und abgesandt. Wird hierdurch der Vorgang unwirksam? Macht es einen Unterschied, ob der Geschäftsmann seine Unterschrift auf dem Brief ausgeschrieben hat, statt nur seine Initialen darauf zu setzen (oder überhaupt nicht zu unterschreiben), oder ob die Sekretärin den Brief per Einschreiben geschickt hat?

62.

Der Reisende B befand sich in einer Lage, in der es ihm praktisch unmöglich war, seine Anzeige eigens schriftlich abzufassen und sie innerhalb von sieben Tagen nach Annahme seines beschädigten Rucksacks an die Fluggesellschaft zu senden. Fluggesellschaften setzen häufig Bodenpersonal ein, das sich mit Problemen im Zusammenhang mit dem Verlust von Reisegepäck an Flughäfen befasst, in denen sie nicht selbst präsent sind. Das Bodenpersonal war bei der Ankunft des Flugs des Reisenden B nicht anwesend, allerdings gab es eine Kontaktnummer. Reisender B hat ordnungsgemäß genau das getan, wozu er angehalten war, um seine Anzeige rechtzeitig beim Bodenpersonal zur Weiterleitung an die Luftfrachtgesellschaft zu erstatten.

63.

Bei beiden Beispielen geht die Anzeige eindeutig vom Reisenden aus. Es ist die Anzeige des Reisenden. Sie wurde lediglich von einer anderen Person in etwas Geschriebenes transformiert. Im Ergebnis liegt nun eine klare schriftliche Aufzeichnung des Inhalts der Anzeige vor. Nach meiner Ansicht erfüllt dies das Ziel und den Zweck des Übereinkommens von Montreal. Förmlicher ausgedrückt: Für die Zwecke von Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal genügt es, dass die Niederschrift für den Reisenden oder gemäß der Anweisung des Reisenden vorgenommen wird, so dass die der Anzeige zugrunde liegenden Informationen eindeutig von dem Reisenden stammen und die eingegebene Anzeige tatsächlich dem Vorbringen des Reisenden entspricht.

64.

Ich sehe keinen Grund, warum der Vertreter eines Luftfrachtführers nicht in der Lage sein sollte, die Anzeige für den Reisenden schriftlich niederzulegen. Unternehmen, einschließlich Fluggesellschaften, erbringen routinemäßig Dienstleistungen für ihre Kunden – gelegentlich gegen Zahlung für diese konkrete Dienstleistung, häufig jedoch auch in Verbindung mit der Erbringung anderer Dienstleistungen oder der Lieferung von Waren, für die der Kunde bezahlt. Nicht selten besteht diese Serviceleistung darin, Kunden im Fall von Beanstandungen zu unterstützen ( 13 ).

65.

Ein Fluggast kann berechtigterweise davon ausgehen, dass der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers nach Treu und Glauben handelt und die Anzeige in Schriftform in das für Beanstandungsfälle vorgesehene Informationssystem des Luftfrachtführers eingibt – und dies erst recht, wenn die Kundendienstabteilung des Luftfrachtführers einen Beleg zur Bestätigung des Eintrags in das computergestützte System ausstellt.

66.

Der vorliegende Sachverhalt ist nicht ungewöhnlich. Der Reisende ruft innerhalb der vorgeschriebenen Zeit beim Kundendienst eines Luftfrachtführers unter einer vom Luftfrachtführer zu diesem Zweck bereitgestellten Telefonnummer an, um einen Schaden am Reisegepäck anzuzeigen. Für den Flugreisenden notiert und bearbeitet der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers die vom Reisenden gemachten Angaben (heutzutage normalerweise in elektronischer Form). Es liegt alles vor, was der Luftfrachtführer zum Schutz seiner Interessen benötigt. Sein eigener Vertreter, der die vom Flugreisenden bereitgestellten Informationen aufnimmt, wird die Beanstandung wohl kaum zu dessen Gunsten übertreiben. Ein durchschnittlicher Reisender, der als Verbraucher unterwegs ist, wird nach meiner Meinung nicht von einer Verpflichtung seinerseits ausgehen, zusätzlich den (offensichtlich nutzlosen) Aufwand zu betreiben, genau dieselbe Information niederzuschreiben, die der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers gerade in das Informationssystem des Luftfrachtführers eingegeben hat, um sie dann persönlich an den Luftfrachtführer abzusenden.

67.

Auch wenn die Feststellung des Sachverhalts letztlich ausschließlich Sache des nationalen Gerichts ist, liegt unter solchen Umständen meines Erachtens eine wirksame Schadensanzeige nach Art. 31 des Übereinkommens von Montreal vor.

68.

Zuletzt stelle ich fest, dass eine zweckgerichtete Auslegung von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal mit dem im dritten Erwägungsgrund des Übereinkommens genannten Ziel des Verbraucherschutzes und mit dem vom Gerichtshof verfolgten verbraucherfreundlichen Ansatz bei der Auslegung von Ausgleichsansprüchen, die Fluggäste gegen Fluggesellschaften gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 ( 14 ) (Fluggastverordnung) haben, im Einklang steht.

69.

Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass die Voraussetzungen von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal erfüllt sind, wenn der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers die Anzeige schriftlich für den Kunden aufnimmt, sei es auf Papier oder elektronisch im Informationssystem des Luftfrachtführers.

Zur vierten Frage

70.

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 des Übereinkommens von Montreal an die Beanstandung weitere inhaltliche Anforderungen stellt als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer zur Kenntnis zu bringen ist.

71.

Es genügt der Hinweis, dass Art. 31 des Übereinkommens von Montreal (wie seinem Titel zu entnehmen ist) ausschließlich die Frage betrifft, was eine „fristgerechte Schadensanzeige“ darstellt. Er befasst sich somit nur mit den Voraussetzungen, die für eine Klage gegen den Luftfrachtführer erfüllt sein müssen (nämlich, dass die Beanstandung fristgerecht eingereicht und schriftlich erklärt werden muss). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist jede Klage ausgeschlossen, es sei denn, dass der Luftfrachtführer arglistig gehandelt hat (Art. 31 Abs. 4). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist eine Klage gegen den Luftfrachtführer zulässig. Bestreitet der Luftfrachtführer das Bestehen des Anspruchs, so hängt der Erfolg oder Nichterfolg der Klage davon ab, ob die anwendbaren Verfahrens- und Beweisregeln eingehalten wurden, sowie von dem Material, das dem angerufenen Gericht vorgelegt wird. Allerdings betrifft Art. 31 des Übereinkommens von Montreal keinen dieser Punkte.

72.

Daher bin ich der Auffassung, dass auf die vierte Vorlagefrage zu antworten ist, dass Art. 31 des Übereinkommens von Montreal an die Beanstandung keine anderen inhaltlichen Anforderungen stellt als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer innerhalb der in dieser Vorschrift festgelegten Frist und Form zur Kenntnis zu bringen ist.

Ergebnis

73.

Nach alledem bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof die vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) vorgelegten Fragen wie folgt beantworten sollte:

1.

Eine Klage gegen den Luftfrachtführer auf Ersatz des Schadens an aufgegebenem Reisegepäck ist nach dem Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, unterzeichnet in Montreal am 28. Mai 1999, ausgeschlossen, wenn eine Anzeige zwar innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgesehenen Frist erstattet worden ist, jedoch nicht die Voraussetzung erfüllt, „schriftlich“ erklärt worden zu sein im Sinne von Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens.

2.

Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal ist dahin auszulegen, dass das Schriftformerfordernis in einem elektronischen Verfahren, einschließlich Registrierung der Anzeige im Informationssystem des Luftfrachtführers, gewahrt werden kann.

3.

Die Voraussetzungen von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal sind erfüllt, wenn der Vertreter des Kundendienstes des Luftfrachtführers die Anzeige schriftlich für den Kunden aufnimmt, sei es auf Papier oder elektronisch im Informationssystem des Luftfrachtführers.

4.

Art. 31 des Übereinkommens von Montreal stellt an die Beanstandung keine anderen inhaltlichen Anforderungen als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer innerhalb der in dieser Vorschrift festgelegten Frist und Form zur Kenntnis zu bringen ist.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Verordnung vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen (ABl. 1997, L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 geänderten Fassung (ABl. 2002, L 140, S. 2).

( 3 ) Beschluss vom 5. April 2001 über den Abschluss des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal) durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. 2001, L 194, S. 38).

( 4 ) In Art. 3 Abs. 2 heißt es: „Jede andere Aufzeichnung, welche [bestimmte Informationen bezüglich Abgangs- und Bestimmungsort und gegebenenfalls Zwischenlandepunkte] enthält, kann anstelle des in jenem Absatz genannten Beförderungsscheins verwendet werden. Werden derartige andere Aufzeichnungen verwendet, so muss der Luftfrachtführer anbieten, dem Reisenden eine schriftliche Erklärung über die darin enthaltenen Angaben auszuhändigen.“

( 5 ) Vgl. Urteil vom 6. Mai 2010, Walz (C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2010, Walz (C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 21 und 22) (die zitierten Passagen befassen sich mit der Definition des Begriffs „Schaden“ in Art. 22 des Übereinkommens von Montreal).

( 7 ) Unterzeichnet in Wien am 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Band 1155, S. 331).

( 8 ) Vgl. Urteil vom 6. Mai 2010, Walz (C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Art. 17 Abs. 3 sieht vor, dass, sofern der Luftfrachtführer den Verlust des aufgegebenen Reisegepäcks anerkennt oder das aufgegebene Reisegepäck nach Ablauf von 21 Tagen seit dem Tag, an dem es hätte eintreffen sollen, nicht eingetroffen ist, der Reisende die Rechte aus dem Beförderungsvertrag gegen den Luftfrachtführer geltend machen kann, ohne dass eine zeitliche Vorgabe oder ein Formerfordernis für die Anzeige festgelegt wird, mit Ausnahme der in Art. 35 vorgesehenen Ausschlussfrist, nach der die Klage auf Schadensersatz nur binnen einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden kann.

( 10 ) Studenten des englischen Common Law ergötzen sich seit Langem an der (fiktiven) Geschichte des Albert Haddock, der seine Steuerschuld bei der Steuerbehörde HM Inland Revenue beglich, indem er einen Scheck über den fälligen Betrag auf das Hinterteil einer Kuh schrieb (Board of Inland Revenue v Haddock: the case of the negotiable cow). Zuerst im Satiremagazin Punch als Teil der Serie des Autors „Misleading Cases in the Common Law“ veröffentlicht, erlangte dieser Fall einen nahezu legendären Ruf als Teil einer Sammlung mit ähnlich scharfsinnigen Parodien: Herbert, A. P., Uncommon Law (Methuen, 1935) – oder, falls dies nicht zur Hand ist: https://en.wikipedia.org/wiki/Board_of_Inland_Revenue_v_Haddock.

( 11 ) In der französischen Sprachfassung heißt es: „En cas d’avarie, le destinataire doit adresser au transporteur une protestation immédiatement après la découverte de l’avarie …“ (Art. 31 Abs. 2) und „Toute protestation doit être faite par réserve écrite et remise ou expédiée dans le délai prévu pour cette protestation“ (Art. 31 Abs. 3). Da die grammatikalische Struktur des Spanischen in dieser Hinsicht dem Französischen ähnlich ist, überrascht es nicht, dass die spanische Sprachfassung dasselbe Substantiv („una protesta“) in Art. 31 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 3 verwendet (jeweils „… el destinatario deberá presentar … una protesta …“ und „Toda protesta deberá hacerce por escrito y darse o expedirse dentro de los plazos mencionados“).

( 12 ) Das Übereinkommen geschah „in arabischer, chinesischer, englischer, französischer, russischer und spanischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist“.

( 13 ) Vgl. etwa die Beschreibung im Handbuch des Bureau of Labor Statistics, U.S. Department of Labor, Occupational Outlook Handbook, Customer Service Representatives, zugänglich im Internet unter https://www.bls.gov/ooh/office-and-administrative-support/customer-service-representatives.htm (aufgerufen am 30. Oktober 2017). Unter der Überschrift „What Customer Representatives Do“ heißt es in dem Handbuch: „Kundendienstmitarbeiter interagieren mit den Kunden, um Beanstandungen entgegenzunehmen, Aufträge zu bearbeiten und Informationen über die Produkte und Dienstleistungen einer Organisation bereitzustellen“ (Hervorhebung nur hier).

( 14 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1). Vgl. insbesondere Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716), und vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a. (C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657).