URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST
DER EUROPÄISCHEN UNION (Dritte Kammer)
25. Mai 2016
GW
gegen
Europäische Kommission
„Öffentlicher Dienst — Beamte — Soziale Sicherheit — Übernahme von Krankheitskosten — Konkrete und eingehende Prüfung“
Gegenstand:
Klage nach Art. 270 AEUV, der gemäß Art. 106a EA auch für den EAG-Vertrag gilt, auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission, mit der sie es abgelehnt hat, die in den Abrechnungen Nr. 67 und Nr. 68 vom 7. Februar 2014 und Nr. 72 vom 12. März 2014 zusammengestellten Kosten für gegenüber der Ehefrau von GW (im Folgenden: Frau T.) erbrachte medizinische Behandlungen als erstattungsfähig einzustufen
Entscheidung:
Die Entscheidung der Europäischen Kommission, mit der diese es abgelehnt hat, die Kosten, die in den Abrechnungen Nr. 67 und Nr. 68 vom 7. Februar 2014 und Nr. 72 vom 12. März 2014 für gegenüber Frau T. erbrachte medizinische Behandlungen aufgeführt sind, als erstattungsfähig einzustufen, wird aufgehoben. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und wird verurteilt, die Kosten von GW zu tragen.
Leitsätze
Beamtenklage – Klage gegen die Zurückweisung der Beschwerde – Wirkung – Befassung des Gerichts mit der angefochtenen Maßnahme – Voraussetzung – Begründung der Zurückweisungsentscheidung, die mit der angefochtenen Maßnahme übereinstimmen muss
(Beamtenstatut, Art. 90 und 91)
Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Krankheitskosten – Erstattung – Ablehnung – Behandlungen, die als nicht sachdienlich oder nicht notwendig gelten – Auf eine Stellungnahme des Vertrauensarztes gestützte Ablehnung – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen
(Beamtenstatut, Art. 72 Abs. 1)
Beamte – Soziale Sicherheit – Krankenversicherung – Krankheitskosten – Erstattung – Verpflichtungen der Organe – Beachtung des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Fürsorgepflicht bei Kosten einer stationären Behandlung – Ablehnung der Übernahme wegen der Möglichkeit einer ambulanten Behandlung für medizinische Leistungen, die früher eine stationäre Behandlung erforderten – Beweislast des angeschlossenen Mitglieds für die Erforderlichkeit einer stationären Behandlung
(Beamtenstatut, Art. 72; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Art. 43, 49 und 52; Verordnung Nr. 966/2012 des Parlaments und des Rates, Art. 30)
Im Hinblick auf seinen eigentlichen Zweck, der Verwaltung zu ermöglichen, ihre Entscheidung zu überdenken, ist das Vorverfahren ausbaufähig, so dass sich die Verwaltung nach dem Rechtsbehelfssystem der Art. 90 und 91 des Statuts dazu veranlasst sehen kann, die Gründe, auf die sie die angefochtene Handlung gestützt hat, in Anbetracht der Beschwerde zu ändern, obwohl sie diese zurückweist. Gleichwohl wird die Rechtmäßigkeit des beschwerenden ursprünglichen Rechtsakts geprüft, und zwar im Hinblick auf die Gründe in der Entscheidung, mit der die Beschwerde zurückgewiesen wurde. Daraus ergibt sich, dass es der Verwaltung, wenn eine Abrechnungsstelle die Übernahme bestimmter Krankheitskosten auf der Grundlage einer ablehnenden und knappen Begründung ihres Vertrauensarztes ablehnt und der Betroffene eine Beschwerde einlegt, frei steht, im Verlauf des Vorverfahrens ausführlichere Gründe zur Beantwortung dieser Beschwerde darzulegen. Bei einer solchen einzelfallspezifischen Begründung, die vor Klageerhebung mitgeteilt wird, ist davon auszugehen, dass sie auch für die ablehnende Entscheidung gilt und deshalb als eine für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung relevante Information anzusehen ist.
(vgl. Rn. 36)
Verweisung auf:
Gericht der Europäischen Union: Urteil vom 9. Dezember 2009, Kommission/Birkhoff, T‑377/08 P, EU:T:2009:485, Rn. 56
Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteil vom 26. März 2014, CP/Parlament, F‑8/13, EU:F:2014:44, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung
Im Rahmen der Krankenversicherung hat das dem gemeinsamen Krankenfürsorgesystem (GKFS) angeschlossene Mitglied zwar Grund zu der Annahme, dass seine Krankheitskosten grundsätzlich bis zu der in Art. 72 Abs. 1 des Statuts vorgesehenen Höhe erstattet werden, doch kann die Abrechnungsstelle die Erstattung bestimmter Kosten gleichwohl ablehnen, wenn sie nach Stellungnahme des Vertrauensarztes und gegebenenfalls nach Stellungnahme des Ärztebeirats der Ansicht ist, dass sich diese Kosten auf eine Behandlung oder Leistungen beziehen, deren wissenschaftliche Validität nicht erwiesen ist. Es ist nämlich völlig gerechtfertigt, dass die Kosten von Behandlungen oder Leistungen, deren therapeutischer Nutzen oder deren Zuverlässigkeit als diagnostische Mittel wissenschaftlich umstritten ist, vom GKFS, das von den angeschlossenen Mitgliedern und den Unionsorganen finanziert wird, nicht übernommen werden. Gerade um endlose oder unlösbare Sachverständigendebatten zu vermeiden, wurden mit den in diesem Rahmen zu treffenden Beurteilungen die ärztlichen Instanzen des GKFS, d. h. die Vertrauensärzte und der Ärztebeirat, betraut, die auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur und, falls erforderlich, nach Stellungnahmen von Fachärzten oder medizinischen Kapazitäten auf dem betreffenden Gebiet zu befinden haben.
Auch wenn sich die Kontrolle des Gerichts nicht auf ärztliche Beurteilungen im eigentlichen Sinne erstreckt, hat es sich jedoch zu vergewissern, dass der Vertrauensarzt oder der Ärztebeirat eine konkrete und ausführliche Prüfung des ihnen vorgelegten Falles durchgeführt haben. Dies gilt umso mehr, als das Verfahren nicht das gleiche Garantieniveau in Bezug auf die Ausgewogenheit zwischen den Beteiligten bietet wie die Verfahren nach den Art. 73 und 78 des Statuts. Der Nachweis, dass eine solche Prüfung vorgenommen wurde, obliegt im Übrigen der Verwaltung. Im Rahmen ihrer konkreten und ausführlichen Prüfung haben die Vertrauensärzte, der Ärztebeirat und die Verwaltung auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur und im Bedarfsfall nach Stellungnahmen von Fachärzten zu entscheiden; da es sich bei der Prüfung der Sachdienlichkeit einer Behandlung oder einer stationären Einweisung um eine medizinische Frage handelt, können sie aber den tatsächlichen und vollständigen Gesundheitszustand der betroffenen Person nicht unberücksichtigt lassen. Diese Verpflichtung zur Berücksichtigung der persönlichen Situation des dem GKFS angeschlossenen Mitglieds folgt im Übrigen zwingend aus der Fürsorgepflicht, die weitgehend die Verpflichtung einschließt, eine konkrete und ausführliche Prüfung vorzunehmen. Insoweit verfügt der Ärztebeirat nur über eine Beratungszuständigkeit, wie sich aus Art. 41 der Gemeinsamen Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Union ergibt. Eine Empfehlung des Ärztebeirats stellt als solche keine Vorschrift dar, die von der Verwaltung anzuwenden wäre oder den Beamten und Bediensteten der Union entgegengehalten werden könnte. Unter diesen Umständen kann die Stellungnahme des Ärztebeirats einen Vertrauensarzt nicht in einer Weise binden, die ihn an der Prüfung hindern würde, ob eine bestimmte Behandlung im betreffenden Fall „sachdienlich“ war oder nicht.
(vgl. Rn. 38 bis 40, 49 und 50)
Verweisung auf:
Gericht der Europäischen Union: Urteil vom 9. Dezember 2009, Kommission/Birkhoff, T‑377/08 P, EU:T:2009:485, Rn. 32, 61 und 88
Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteile vom 18. September 2007, Botos/Kommission, F‑10/07, EU:F:2007:161, Rn. 63 und 64, vom 8. Juli 2008, Birkhoff/Kommission, F‑76/07, EU:F:2008:95, Rn. 62, und vom 28. September 2011, Allen/Kommission, F‑23/10, EU:F:2011:162, Rn. 76
Art. 49 der Gemeinsamen Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge der Beamten der Europäischen Union (Regelung zur Sicherstellung), der auf der Grundlage von Art. 72 des Statuts erlassen wurde, bestimmt, dass es „[d]as finanzielle Ziel [des gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystems (GKFS)] ist …, für ein Gleichgewicht zwischen den Ausgaben und Einnahmen … zu sorgen“. Ferner hat Art. 43 der Regelung zur Sicherstellung die Verordnung Nr. 966/2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union auf die Verwaltung des GKFS für entsprechend anwendbar erklärt. Nach Art. 30 dieser Verordnung hat die Kommission, die das GKFS nach Befugnisübertragung durch die anderen Organe verwaltet, sicherzustellen, dass die Ausgaben und die Einnahmen nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung gemäß den Grundsätzen der Sparsamkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Wirksamkeit erfolgen. In diesem Zusammenhang hat Art. 52 der Regelung zur Sicherstellung der Kommission mit der Aufgabe betraut, Vorschriften für die Erstattung der Krankheitskosten mit dem Ziel festzulegen, das finanzielle Gleichgewicht des GKFS zwischen Ausgaben und Einnahmen zu erhalten. Nach dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung haben die Kommission und als Folge davon die Abrechnungsstellen daher darauf zu achten, die Mittel des GKFS nicht unbedacht zu verwenden.
So gesehen erlauben die Fortschritte der Medizin und die moderne Technik nunmehr die ambulante Behandlung bei medizinischen Leistungen, die früher eine stationäre Behandlung erforderten. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache und des rechtlichen Kontextes obliegt es dem angeschlossenen Mitglied, diese Entwicklung aufmerksam zu beobachten und die Erforderlichkeit einer stationären Behandlung zu rechtfertigen, wenn diese bestritten wird. Insoweit weisen die von einem Organ angehörenden Vertrauensärzten im Rahmen von Art. 72 des Statuts einseitig abgegebenen Stellungnahmen in Bezug auf die Ausgewogenheit zwischen den Beteiligten nicht dasselbe Garantieniveau auf wie die Stellungnahmen des Ärztebeirats oder des Invaliditätsausschusses auf der Grundlage von Art. 73 dieser Regelung. Im Nachhinein vorgelegten medizinischen Gutachten die Beweiskraft abzusprechen, liefe unter diesen Umständen darauf hinaus, den Mitgliedern des GKFS ein grundlegendes Verteidigungsmittel vorzuenthalten, das die Verwaltung dazu anhalten kann, ihre Position zu überdenken.
(vgl. Rn. 53, 54 und 60)
Verweisung auf:
Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteile vom 28. September 2011, Allen/Kommission, F‑23/10, EU:F:2011:162, Rn. 69, und vom 16. Mai 2013, de Pretis Cagnodo und Trampuz de Pretis Cagnodo/Kommission, F‑104/10, EU:F:2013:64, Rn. 111 und 112