Rechtssache C‑691/15 P
Europäische Kommission
gegen
Bilbaína de Alquitranes SA u. a.
„Rechtsmittel – Umwelt – Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 – Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung bestimmter Stoffe und Gemische – Verordnung (EU) Nr. 944/2013 – Einstufung von Pech, Kohlenteer, Hochtemperatur – Toxizitätskategorien Aquatisch Akut 1 (H400) und Aquatisch Chronisch 1 (H410) – Sorgfaltspflicht – Offensichtlicher Beurteilungsfehler“
Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 22. November 2017
Rechtsangleichung–Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen–Verordnung Nr. 1272/2008–Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt–Einstufung von Pech, Kohlenteer, Hochtemperatur als gewässergefährdende Stoffe–Ermessen der Unionsbehörden–Umfang–Gerichtliche Nachprüfung–Grenzen
(Verordnung Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 944/2013 geänderten Fassung)
Rechtsangleichung–Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen–Verordnung Nr. 1272/2008–Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt–Methodischer Ansatz für die Ermittlung der Einstufung der Gewässergefährdung–Berücksichtigung relevanter Faktoren, die in der Verordnung nicht ausdrücklich genannt sind–Zulässigkeit
(Verordnung Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 944/2013 geänderten Fassung, Anhang I Nr. 4.1.3.5.5)
Rechtsangleichung–Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen–Verordnung Nr. 1272/2008–Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt–Einstufung von Pech, Kohlenteer, Hochtemperatur als gewässergefährdende Stoffe–Einstufung auf der Grundlage der Bestandteile–Zulässigkeit–Voraussetzung–Berücksichtigung des Anteils der Bestandteile und ihrer chemischen Wirkungen–Grenzen–Berücksichtigung des hypothetischen Löslichkeitsgrads der Bestandteile
(Verordnung Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 944/2013 geänderten Fassung, Anhang I Nr. 4.1.3.5.5)
Siehe Text der Entscheidung.
(vgl. Rn. 34, 35)
Die Einstufung eines Stoffes mit unbekannter oder variabler Zusammensetzung, komplexen Reaktionsprodukten oder biologischen Materialien (UVCB) im Hinblick auf seine Gewässergefährdung hat nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen zu erfolgen. Anhang I dieser Verordnung bestimmt, dass diese Einstufung ein mehrstufiger Prozess und von der Art der Information abhängig ist, die zu dem Gemisch selbst und seinen Bestandteilen verfügbar ist. Das Stufenkonzept beinhaltet folgende Elemente: die Einstufung auf der Grundlage von Prüfergebnissen des Gemisches, die Einstufung auf der Grundlage von Übertragungsgrundsätzen, die „Summierung eingestufter Bestandteile“ und/oder die Verwendung einer „Additivitätsformel“.
Anhang I Abschnitt 4.1.3.5.5 der Verordnung Nr. 1272/2008 sieht keinen Rückgriff auf andere Kriterien als die in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten vor. Es gibt aber auch keine Bestimmung, die es ausdrücklich verböte, andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für die Einstufung eines UVCB-Stoffes relevant sein können.
Der angegebene methodische Ansatz ist insbesondere deswegen schwierig, weil der Begriff des Stoffes ein breites Spektrum von Chemikalien umfasst, von denen viele nur mit großen Schwierigkeiten anhand eines auf starren Kriterien beruhenden Systems eingestuft werden können. So wird in diesem Dokument auf die sogar für Experten komplexen Auslegungsprobleme hingewiesen, die die Einstufung insbesondere „komplexer oder Mehr-Komponenten-Stoffe“ aufwirft, deren Bioabbaubarkeit, Bioakkumulation, Verteilungskoeffizient und Wasserlöslichkeit jeweils Auslegungsprobleme darstellen, da sich jeder Bestandteil des Gemischs möglicherweise anders verhält.
Der Unionsgesetzgeber hat die Bestimmungen des Global Harmonisierten Systems zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS) in Anhang I der Verordnung Nr. 1272/2008 übernommen, ohne die Absicht erkennen zu lassen, von diesem Ansatz abzuweichen. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Unionsgesetzgeber mit der Übernahme des GHS in die Verordnung Nr. 1272/2008 diese methodischen Grenzen ignoriert hat.
Die strenge und automatische Anwendung der Summierungsmethode unter allen Umständen kann dazu führen, die Toxizität eines UVCB-Stoffes mit wenigen bekannten Bestandteilen für die aquatische Umwelt unterzubewerten. Ein solches Ergebnis kann nicht als mit dem Zweck der Verordnung Nr. 1272/2008, nämlich dem Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit, vereinbar angesehen werden.
Daher ist die Kommission, wenn sie zur Ermittlung, ob ein UVCB-Stoff unter die Kategorien Aquatisch Akut 1 und Aquatisch Chronisch 1 fällt, die Summierungsmethode anwendet, nicht verpflichtet, ihre Beurteilung unter Ausschluss aller anderen Faktoren allein auf die in Anhang I Abschnitt 4.1.3.5.5 der Verordnung Nr. 1272/2008 ausdrücklich genannten Faktoren zu beschränken. Aufgrund ihrer Sorgfaltspflicht hat die Kommission sorgfältig und unparteiisch andere Faktoren zu prüfen, die zwar in den betreffenden Bestimmungen nicht ausdrücklich genannt, aber dennoch relevant sind.
(vgl. Rn. 36, 39, 43, 45-47)
Die Einstufungsmethode in Anhang I Abschnitt 4.1.3.5.5 der Verordnung Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen beruht auf der Annahme, dass die berücksichtigten Bestandteile zu 100 % löslich sind. Auf der Grundlage dieser Annahme impliziert die Summierungsmethode, dass es ein Konzentrationsniveau der Bestandteile gibt, unter dem die Schwelle von 25 % nicht erreicht werden kann, und besteht daher darin, die Konzentrationen der Bestandteile der Toxizitätskategorien Akut oder Chronisch zu summieren, wobei jede entsprechend ihres Toxizitätsprofils um den Faktor M gewichtet wird.
Dieser Methode ist jedoch immanent, dass sie in Konstellationen an Zuverlässigkeit verliert, in denen die gewichtete Summe der Bestandteile das den Schwellenwert von 25 % entsprechende Konzentrationsniveau in einem Verhältnis übersteigt, das niedriger ist als das Verhältnis zwischen dem festgestellten Löslichkeitsgrad des betreffenden Stoffes als Ganzem und dem hypothetischen Löslichkeitsgrad von 100 %. In solchen Konstellationen kann die Summierungsmethode nämlich in bestimmten Fällen zu einem Ergebnis führen, das, je nachdem, ob der hypothetische Löslichkeitsgrad der Bestandteile oder der Löslichkeitsgrad des Stoffes als Ganzem berücksichtigt wird, über oder unter dem regulatorischen Schwellenwert von 25 % liegt.
(vgl. Rn. 51, 52)