URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

9. März 2017 ( *1 )*

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Mehrwertsteuer — Richtlinie 2006/112/EG — Art. 98 Abs. 2 — Anhang III Nrn. 3 und 4 — Grundsatz der steuerlichen Neutralität — Medizinische Sauerstoffbehandlung — Ermäßigter Mehrwertsteuersatz — Sauerstoffgasflaschen — Normaler Mehrwertsteuersatz — Sauerstoffkonzentratoren“

In der Rechtssache C-573/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 28. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2015, in dem Verfahren

État belge

gegen

Oxycure Belgium SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. September 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Oxycure Belgium SA, vertreten durch F. Fosseur, avocat,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte im Beistand von D. Carmen, Sachverständiger,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Anhang III Nrn. 3 und 4 dieser Richtlinie im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat und der Oxycure Belgium SA (im Folgenden: Oxycure) über die mehrwertsteuerliche Behandlung der Tätigkeit des Verkaufs und/oder der Vermietung von Sauerstoffkonzentratoren und Zubehör für die medizinische Sauerstoffbehandlung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der vierte Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen, ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um so weit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.“

4

Art. 96 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

5

Art. 98 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2)   Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.

…“

6

In Nr. 3 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie sind „Arzneimittel, die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden, einschließlich Erzeugnissen für Zwecke der Empfängnisverhütung und der Monatshygiene“ aufgeführt.

7

In Nr. 4 dieses Anhangs sind „medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind, einschließlich der Instandsetzung solcher Gegenstände, sowie Kindersitze für Kraftfahrzeuge“ aufgeführt.

Belgisches Recht

8

Der Arrêté royal no 20, du 20 juillet 1970, fixant les taux de la taxe sur la valeur ajoutée et déterminant la répartition des biens et des services selon ces taux (Königlicher Erlass Nr. 20 vom 20. Juli 1970 zur Festlegung der Mehrwertsteuersätze und zur Einteilung der Güter und Dienstleistungen nach diesen Sätzen, im Folgenden: Königlicher Erlass Nr. 20) sieht vor, dass die Mehrwertsteuer für die in seiner Tabelle A aufgeführten Gegenstände und Dienstleistungen zu einem ermäßigten Steuersatz von 6 % erhoben wird.

9

In Rubrik XXIII von Tabelle A sind u. a. „Orthopädische Apparate (einschließlich medizinisch-chirurgischer Gürtel); Schienen und andere Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen; künstliche Körperteile und Organe (Zähne, Augen und andere); Schwerhörigengeräte und andere Vorrichtungen zum Tragen in der Hand oder zum Implantieren in den oder zum Tragen am Körper, zum Beheben von Funktionsschäden oder Gebrechen; individuelles Material, speziell entworfen, um von Stomapatienten und Personen, die an Inkontinenz leiden, getragen zu werden, ausgenommen Damenbinden, Slipeinlagen und Windeln für Kinder unter sechs Jahren; individuelles Zubehör, das Teil einer künstlichen Niere ist, verwendete Beutel einbegriffen“, „Aerosolgeräte und Zubehör; individuelles Material für die Verabreichung von Mucomyst“ sowie „Pumpen für Analgetika-Infusionen“ aufgeführt.

10

Rubrik XXXIV von Tabelle A betrifft die Vermietung dieser Gegenstände.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11

Oxycure ist eine Gesellschaft, deren Haupttätigkeit die Vermietung und der Verkauf von Sauerstoffkonzentratoren ist. Derartige Apparate bestehen aus einem zur Konzentration von Sauerstoff, der in der Umgebungsluft enthalten ist, dienenden Teil sowie einer Nasenkanüle oder einer Sauerstoffmaske und einem Rohr für die Zuleitung von Sauerstoff als integralem Bestandteil des Apparats. Die Sauerstoffkonzentratoren ermöglichen die häusliche Sauerstofftherapie für Patienten, die an einer Atmungsinsuffizienz oder einer anderen eine Sauerstoffbehandlung erfordernden schweren Beeinträchtigung leiden und deren Zustand sich mit Medikamenten wie Aerosolen und Broncholytika nicht mehr verbessern lässt.

12

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die belgische Steuerverwaltung bei der Erstellung eines Protokolls am 26. November 2010 feststellte, dass Oxycure in der Zeit vom 1. Oktober 2007 bis zum 31. März 2010 auf die Vermietung und den Verkauf von Sauerstoffkonzentratoren und deren Zubehör den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 6 % angewandt hatte, obwohl diese Umsätze nach dem Königlichen Erlass Nr. 20 dem normalen Steuersatz von 21 % hätten unterworfen werden müssen. Auf der Grundlage dieses Protokolls erging ein Betreibungsbescheid über fällige Steuern in Höhe von 1291621,17 Euro und über eine Geldbuße in Höhe von 129160 Euro.

13

Am 28. Dezember 2011 erhob Oxycure gegen diesen Beitreibungsbescheid Klage beim Tribunal de première instance de Namur (Gericht erster Instanz Namur, Belgien), das den Bescheid mit Urteil vom 25. April 2013 aufhob.

14

Am 27. Juni 2013 legte der belgische Staat gegen dieses Urteil bei der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) Berufung ein.

15

Dieses Gericht führt aus, dass Sauerstoffkonzentratoren mit Gasflaschen mit Sauerstoff für medizinische Zwecke und dem System für flüssigen Sauerstoff für medizinische Zwecke eine der drei auf dem Markt verfügbaren Sauerstoffquellen darstellten und dass diese Quellen untereinander austauschbar seien und/oder einander ergänzten. Zum einen sei nämlich nach einem Bericht des Centre fédéral d’expertise des soins de santé (Föderales Fachzentrum für Gesundheitspflege, Belgien) jede Quelle als große stationäre Ausführung und als kleine tragbare Ausführung verfügbar. Aus diesem Bericht gehe ferner hervor, dass aus Sicht der klinischen Wirksamkeit alle Sauerstoffbehandlungen gleichwertig seien. Es spiele nämlich keine Rolle, mittels welcher der drei verfügbaren Gerätearten der Sauerstoff zur Verfügung gestellt werde und ob das Gerät stationär oder tragbar sei, da sich die Unterschiede zwischen den Gerätearten lediglich auf Fragen der Bequemlichkeit (Lärm, Gebrauch außer Haus, verfügbares Volumen, Wiederbefüllung des tragbaren Modells durch den Patienten) und auf die Kosten für die Allgemeinheit bezögen. Zum anderen werde in der belgischen Regelung über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung die völlige Austauschbarkeit dieser Sauerstoffquellen anerkannt, da eine Sauerstoffgasflasche für den Fall einer Störung in den erstattungsfähigen Kosten eines Sauerstoffkonzentrators enthalten sei.

16

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass nach Rubrik XVII von Tabelle A des Königlichen Erlasses Nr. 20 auf Sauerstoffgasflaschen der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 6 % anzuwenden ist.

17

In Anbetracht dieser Erwägungen wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob diese Tabelle, auch wenn Sauerstoffkonzentratoren in keiner ihrer Rubriken ausdrücklich aufgeführt sind, in Anbetracht der Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass sie Sauerstoffkonzentratoren zumindest implizit ebenso wie die übrigen Sauerstoffquellen erfasst.

18

Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 98 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Anhang III Nrn. 3 und 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Neutralität einer nationalen Bestimmung entgegen, die einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Sauerstoffbehandlung mittels Sauerstoffgasflaschen vorsieht, während die Sauerstoffbehandlung mittels eines Sauerstoffkonzentrators dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegt?

Zur Vorlagefrage

19

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie und deren Anhang III Nrn. 3 und 4 im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die vorsieht, dass auf die Lieferung oder die Vermietung von Sauerstoffkonzentratoren der normale Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, während für die Lieferung von Sauerstoffgasflaschen ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt.

20

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Lieferungen von Gegenständen und auf Dienstleistungen der gleiche Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, und zwar der von jedem Mitgliedstaat festzusetzende Mehrwertsteuernormalsatz (Urteil vom 4. Juni 2015, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑161/14,nicht veröffentlicht, EU:C:2015:355, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Abweichend von diesem Grundsatz können nach Art. 98 dieser Richtlinie ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden. Anhang III der Richtlinie enthält ein abschließendes Verzeichnis der Kategorien der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze gemäß Art. 98 angewandt werden können.

22

Der Zweck dieses Anhangs besteht darin, die Kosten für bestimmte, als unentbehrlich erachtete Gegenstände zu senken und somit dem Endverbraucher, der die Mehrwertsteuer letztlich entrichten muss, den Zugang zu ihnen zu erleichtern (Urteil vom 17. Januar 2013, Kommission/Spanien, C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 48).

23

Zum konkreten Inhalt von Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie hat der Gerichtshof entschieden, dass dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen zuzugestehen ist, da er beim Erlass einer steuerlichen Maßnahme Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art treffen und divergierende Interessen in eine Rangfolge bringen oder komplexe Beurteilungen vornehmen muss (Urteil vom 7. März 2017, RPO, C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 54).

24

Durch den Erlass von Anhang III Nrn. 3 und 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden, für die Lieferungen verschiedener Kategorien von Gegenständen die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes anstelle des normalen Satzes zu gestatten.

25

Wie aus dem Wortlaut von Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgeht, ist die Anwendung eines oder zweier ermäßigter Sätze nicht verpflichtend. Es handelt sich um eine den Mitgliedstaaten zugestandene Möglichkeit, abweichend von dem Grundsatz, dass der normale Steuersatz anzuwenden ist. Nach ständiger Rechtsprechung sind aber Bestimmungen, die Ausnahmen von einem Grundsatz darstellen, eng auszulegen (Urteil vom 17. Juni 2010, Kommission/Frankreich, C‑492/08, EU:C:2010:348, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Daher können sich die Mitgliedstaaten grundsätzlich dafür entscheiden, auf die in Anhang III Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Arzneimittel einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, während sie auf die in Nr. 4 dieses Anhangs aufgeführten medizinischen Geräte den normalen Steuersatz anwenden. Sie können sich auch dafür entscheiden, auf einige der in den Nrn. 3 und 4 aufgeführten Arzneimittel oder medizinischen Geräte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden und auf andere dieser Arzneimittel oder Geräte den normalen Steuersatz. Sie sind jedenfalls verpflichtet, auf Produkte, die nicht in diesem Anhang aufgeführt sind, den normalen Steuersatz anzuwenden.

27

Daraus folgt, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die keinen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Sauerstoffkonzentratoren vorsehen, grundsätzlich mit Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar sind.

28

Wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv auf bestimmte in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführte Gegenstände oder Dienstleistungen anzuwenden, muss er jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. April 2008, Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien, C‑442/05, EU:C:2008:184, Rn. 41 und 43, vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 30, und vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz, C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 45).

29

Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beeinträchtigen.

30

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz es nicht zulässt, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 11. September 2014, K, C‑219/13, EU:C:2014:2207, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Nach ständiger Rechtsprechung erlaubt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität jedoch nicht, den Geltungsbereich eines ermäßigten Steuersatzes ohne eindeutige Bestimmung auszuweiten (vgl. u. a. Urteile vom 5. März 2015, Kommission/Luxemburg, C‑502/13, EU:C:2015:143, Rn. 51, und vom 2. Juli 2015, De Fruytier, C‑334/14, EU:C:2015:437, Rn. 37).

32

Dieser Grundsatz ist nämlich keine Regel des Primärrechts, die für den Umfang eines ermäßigten Steuersatzes maßgebend sein kann, sondern ein Auslegungsgrundsatz, der neben dem Grundsatz der engen Auslegung ermäßigter Steuersätze anzuwenden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Deutsche Bank, C‑44/11, EU:C:2012:484, Rn. 45).

33

Im vorliegenden Fall ist zwischen den Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, unstreitig, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sauerstoffkonzentratoren im Unterschied zu Sauerstoffgasflaschen nicht unter Nr. 3 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, der bestimmte Arzneimittel betrifft, und zwar solche, die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst der Begriff „Arzneimittel“, auch wenn er nicht auf Medikamente beschränkt ist, nämlich nicht alle Produkte, Geräte, Vorrichtungen oder Stoffe für die medizinische Verwendung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, Kommission/Spanien, C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 61 bis 65).

34

Diese Auslegung wird durch Nr. 4 des Anhangs III bestätigt, der sich gerade auf medizinische Produkte für eine spezifische Verwendung bezieht (Urteil vom 17. Januar 2013, Kommission/Spanien, C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 64). Diese Bestimmung erfasst nämlich medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden, sofern sie ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind.

35

Da aber wohl nicht feststeht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sauerstoffkonzentratoren „ausschließlich [dem] persönlichen Gebrauch von Behinderten“ vorbehalten sind, können sie auch nicht in den Anwendungsbereich von Anhang III Nr. 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen; dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.

36

Unter diesen Umständen kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Anbetracht der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung einen Mitgliedstaat, der wie im Ausgangsverfahren von seiner Möglichkeit, auf bestimmte in Anhang III Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführte Produkte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, Gebrauch gemacht hat, nicht verpflichten, den ermäßigten Satz auf Sauerstoffkonzentratoren zu erstrecken, auch wenn diese nach der Wahrnehmung des Verbrauchers den unter den ermäßigten Steuersatz fallenden Produkten ähneln.

37

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie und deren Anhang III Nrn. 3 und 4 im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die vorsieht, dass auf die Lieferung oder die Vermietung von Sauerstoffkonzentratoren der normale Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, während für die Lieferung von Sauerstoffgasflaschen ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt.

Kosten

38

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und deren Anhang III Nrn. 3 und 4 stehen im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, die vorsieht, dass auf die Lieferung oder die Vermietung von Sauerstoffkonzentratoren der normale Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, während für die Lieferung von Sauerstoffgasflaschen ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.