URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

26. Mai 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsamer Zolltarif — Tarifierung — Kombinierte Nomenklatur — Position 2711 — Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe — Stoff, der den wesentlichen Charakter verleiht — Flüssiggas“

In der Rechtssache C‑286/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) mit Entscheidung vom 5. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juni 2015, in dem Verfahren

Valsts ieņēmumu dienests

gegen

SIA „Latvijas propāna gāze“

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader, des Richters A. Rosas (Berichterstatter) und der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und A. Bogdanova als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros und I. Rubene als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur (im Folgenden: KN) in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) in seinen nacheinander durch die Verordnung (EG) Nr. 1031/2008 der Kommission vom 19. September 2008 (ABl. 2008, L 291, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr. 948/2009 der Kommission vom 30. September 2009 (ABl. 2009, L 287, S. 1) geänderten Fassungen, insbesondere der Position 2711 dieses Anhangs, sowie von Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1993, L 253, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Valsts Ieņēmumu dienests (Steuerverwaltung, Lettland) und der SIA „Latvijas propāna gāze“ wegen Abgaben aufgrund der Einfuhr von Flüssiggas (LPG) aus Russland nach Lettland.

Unionsrecht

3

Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die KN auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in ihren in den Jahren 2008 und 2009 geltenden Fassungen, die sich aus den Verordnungen Nrn. 1031/2008 und 948/2009 ergeben, anwendbar ist. Die im Ausgangsverfahren anwendbaren Bestimmungen der KN sind jedoch von der einen zur anderen Fassung gleich geblieben.

4

Teil I („Einführende Vorschriften“) der KN umfasst einen Titel I („Allgemeine Vorschriften“), dessen Abschnitt A („Allgemeine Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur“) insbesondere bestimmt:

„Für die Einreihung von Waren in die [KN] gelten folgende Grundsätze:

1.

Die Überschriften der Abschnitte, Kapitel und Teilkapitel sind nur Hinweise. Maßgebend für die Einreihung sind der Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln und – soweit in den Positionen oder in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln nichts anderes bestimmt ist – die nachstehenden Allgemeinen Vorschriften.

2.

b)

Jede Anführung eines Stoffes in einer Position gilt für diesen Stoff sowohl in reinem Zustand als auch gemischt oder in Verbindung mit anderen Stoffen. Jede Anführung von Waren aus einem bestimmten Stoff gilt für Waren, die ganz oder teilweise aus diesem Stoff bestehen. Solche Mischungen oder aus mehr als einem Stoff bestehende Waren werden nach den Grundsätzen der Allgemeinen Vorschrift 3 eingereiht.

3.

Kommen für die Einreihung von Waren bei Anwendung der Allgemeinen Vorschrift 2 b oder in irgendeinem anderen Fall zwei oder mehr Positionen in Betracht, so wird wie folgt verfahren:

b)

Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann.

c)

Ist die Einreihung nach den Allgemeinen Vorschriften 3 a und 3 b nicht möglich, wird die Ware der von den gleichermaßen in Betracht kommenden Positionen in dieser Nomenklatur zuletzt genannten Position zugewiesen.

6.

Maßgebend für die Einreihung von Waren in die Unterpositionen einer Position sind der Wortlaut dieser Unterpositionen, die Anmerkungen zu den Unterpositionen und – sinngemäß – die vorstehenden Allgemeinen Vorschriften. Einander vergleichbar sind dabei nur Unterpositionen der gleichen Gliederungsstufe. Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten bei Anwendung dieser Allgemeinen Vorschrift auch die Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln.“

5

Teil II („Zolltarif“) der KN umfasst einen Abschnitt V („Mineralische Stoffe“), der insbesondere Kapitel 27 („Mineralische Brennstoffe, Mineralöle und Erzeugnisse ihrer Destillation; bituminöse Stoffe; Mineralwachse“) der KN enthält.

6

Die Position 2711 dieses Kapitels hat folgenden Wortlaut und folgende Gliederung:

2711

Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe:

 

– verflüssigt:

2711 12

– – Propan:

 

– – – anderes:

 

– – – – zu anderer Verwendung:

 

2711 12 97

– – – – – andere

2711 13

– – Butane:

 

– – – zu anderer Verwendung:

2711 13 97

– – – – andere

2711 19 00

– – andere

7

Art. 62 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) bestimmt:

„Den [Zolla]nmeldungen sind alle Unterlagen beizufügen, deren Vorlage zur Anwendung der Vorschriften über das Zollverfahren, zu dem die Waren angemeldet werden, erforderlich ist.“

8

In Art. 218 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 heißt es:

„Der Zollanmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr sind folgende Unterlagen beizufügen:

d)

alle sonstigen Unterlagen, die nach den Vorschriften über die Überführung der angemeldeten Waren in den zollrechtlich freien Verkehr erforderlich sind.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass Latvijas propāna gāze das Flüssiggas, das sie in der Zeit vom 20. März 2009 bis zum 15. Januar 2010 aus Russland nach Lettland einführte, in die Unterposition 2711 19 00 einreihte und darauf dementsprechend einen Einfuhrabgabensatz von 0 % seines Zollwerts anwandte. Die Steuerverwaltung war jedoch auf der Grundlage der in den Unterlagen dieser Gesellschaft enthaltenen Informationen der Auffassung, dass die in diesem Flüssiggas vorherrschenden Stoffe Propan und Butan – überwiegend Butan – seien, und reihte es in die Unterposition 2711 12 97 ein.

10

Wie das vorlegende Gericht ausführt, enthält das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas Methan, Ethan, Ethylen, Propan, Propylen, Butan und Butylen. Die vom Erzeuger, also der AAS „Gazprom“ mit Sitz in Orenburg (Russland), ausgestellte Qualitätsbescheinigung für dieses Flüssiggas (im Folgenden: Qualitätsbescheinigung) weist jedoch den Anteil in Volumenmasse für jeden dieser Stoffe nicht gesondert aus und erwähnt lediglich die Summe von Methan, Ethan und Ethylen (0,32 % der Volumenmasse dieses Flüssiggases), die Summe von Propan und Propylen (58,32 %) sowie die Summe von Butan und Butylen (höchstens 39,99 %).

11

Das vorlegende Gericht legt dar, dass die Technische Universität Riga (Lettland) im Rahmen des Ausgangsverfahrens eine Stellungnahme abgegeben habe, der zufolge es nicht möglich sei, anhand der Qualitätsbescheinigung festzustellen, dass einer der Stoffe, aus denen sich das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas zusammensetze, für sich allein dem Gas seinen wesentlichen Charakter als Energiequelle, also seine Wärmekapazität und seinen Überdruck, verleihe. Nach dieser Stellungnahme verschafften das Propan und das Propylen dem Flüssiggas den Überdruck, die Wärmekapazität werde aber durch alle seine Bestandteile zusammen bestimmt.

12

Die Steuerverwaltung war der Auffassung, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas in Anwendung der Vorschrift 2 b, der Vorschrift 3 b sowie der Vorschrift 6 der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN nach dem Bestandteil, der ihm den wesentlichen Charakter verleihe, eingereiht werden müsse.

13

Sie meinte, dass der Stoff, der der Ware ihren wesentlichen Charakter verleihe, unter den Umständen des vorliegenden Falles derjenige sei, dessen Anteil an der Volumenmasse der Ware am größten sei. Nach einem Hinweis darauf, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas nach der Qualitätsbescheinigung einem Flüssiggas des Typs CΠБT (SPBT) entspreche und dass nach der nationalen russischen Norm ΓOCT 20448-90 (GOST 20448-90) als Flüssiggase des Typs CΠБT (SPBT) solche angesehen werden könnten, deren Hauptbestandteile Propan und Butan seien, kam diese Verwaltung dementsprechend zu dem Ergebnis, dass diese beiden Stoffe diesem Flüssiggas seinen wesentlichen Charakter verliehen, ohne dass die anderen Bestandteile, also Methan, Ethan, Ethylen, Propylen und Butylen, diesen wesentlichen Charakter ändern könnten.

14

Latvijas propāna gāze erhob bei der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht, Lettland) Klage gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung.

15

In seinem Urteil vom 10. April 2014 verwies dieses Gericht zunächst auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach zur Tarifierung einer Ware die Feststellung erforderlich ist, welcher der Stoffe, aus denen sie besteht, ihr ihren wesentlichen Charakter verleiht; hierzu ist zu prüfen, ob die Ware auch ohne den einen oder anderen ihrer Bestandteile ihre charakteristischen Eigenschaften behalten würde. Das Merkmal, das den Charakter der Ware bestimmt, kann sich je nach Art der Ware z. B. aus der Art und Beschaffenheit des Stoffes oder der Bestandteile, aus seinem Umfang, seiner Menge, seinem Gewicht, seinem Wert oder aus der Bedeutung des Stoffes in Bezug auf die Verwendung der Ware ergeben (Urteil vom 18. Juni 2009, Kloosterboer Services, C‑173/08, EU:C:2009:382, Rn. 31 und 32).

16

Dann wandte die Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) diese Erwägungen auf den Ausgangsrechtsstreit an und stellte fest, dass die Steuerverwaltung weder nachgewiesen habe, was den wesentlichen Charakter des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flüssiggases ausmache, noch, dass Propan oder Butan als der Stoff anzusehen sei, der ihm einen solchen Charakter verleihe. In diesem Zusammenhang bezog sich dieses Gericht nach einem Hinweis darauf, dass der Anteil an Propan oder Butan in der Zusammensetzung des Flüssiggases in der Qualitätsbescheinigung nicht getrennt ausgewiesen worden sei, auf die Stellungnahme der Technischen Universität Riga, der zufolge nicht festgestellt werden könne, dass einer der Stoffe, aus denen sich das Flüssiggas zusammensetze, für sich allein diesem seinen wesentlichen Charakter verleihen könne. Schließlich wies dieses Gericht im Zusammenhang mit der Prüfung von Qualitätsbescheinigungen, die Latvijas propāna gāze in Bezug auf bei anderer Gelegenheit in Litauen erworbenes Flüssiggas vorgelegt hatte, darauf hin, dass der Propylenanteil an der Zusammensetzung des Flüssiggases in bestimmten Fällen höher sein könne als der Propananteil.

17

Wie das vorlegende Gericht, bei dem die Steuerverwaltung Kassationsbeschwerde eingelegt hat, ausführt, ergibt sich aus den Umständen des Ausgangsrechtsstreits, dass die verschiedenen Stoffe, aus denen sich das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas zusammensetzt, ihm zusammen – selbst wenn das Propan in Volumenmasse der darin vorherrschende Stoff ist – seine Wärmekapazität als Energiequelle liefern. Dieses Gericht äußert daher Zweifel an der Stichhaltigkeit des Vorbringens der lettischen Steuerverwaltung, wonach der Stoff, dessen Anteil vorherrschend sei, dem betreffenden Flüssiggas seinen wesentlichen Charakter verleihe, und fügt hinzu, dass im Fall der Zurückweisung des entsprechenden Vorbringens Flüssiggase, in deren Zusammensetzung Propan oder Butan vorherrschten, immer in Unterposition 2711 19 00 einzureihen seien, für die eine Einfuhrabgabe zu einem Zollsatz von 0 % des Zollwerts gelte.

18

Im Übrigen ergebe sich aus Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 2454/93, dass eine Person, die Flüssiggas einführen und es in eine Position einreihen wolle, der ein für sie günstiger Zollsatz entspreche, den betreffenden Zollbehörden bei der Einfuhr Nachweise vorlegen müsse, die geeignet seien, jeden Zweifel hinsichtlich der Begründetheit dieser Einreihung zu zerstreuen. Im vorliegenden Fall sei zu klären, ob sich aus den genannten Bestimmungen ergebe, dass ein Einführer von Flüssiggas wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende verpflichtet sei, den prozentualen Anteil des vorherrschenden Stoffes an der Zusammensetzung des entsprechenden Flüssiggases genau anzugeben.

19

Das vorlegende Gericht stellt schließlich fest, dass es nicht mehr möglich sei, Proben des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flüssiggases zu nehmen und damit im Zolllabor der lettischen Steuerverwaltung eine Analyse dieses Flüssiggases durchzuführen, um dessen Zusammensetzung festzustellen. Folglich sei es für die Feststellung der zutreffenden Position erforderlich, die tatsächlichen Umstände, die im Ausgangsverfahren bereits geklärt worden seien, zu berücksichtigen.

20

Angesichts der vorstehenden Erwägungen hat der Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Allgemeinen Vorschriften 2 b und 3 b für die Auslegung der KN dahin auszulegen, dass dann, wenn der wesentliche Charakter der Ware (Flüssiggas) durch sämtliche Bestandteile der Gasmischung insgesamt bestimmt wird und keiner von ihnen getrennt als Merkmal identifiziert werden kann, das dem Gas seinen wesentlichen Charakter verleiht, davon auszugehen ist, dass das Merkmal, das der Ware im Sinne dieser Allgemeinen Vorschrift 3 b ihren wesentlichen Charakter verleiht, der Stoff ist, der den größten Anteil an der Mischung aufweist?

2.

Ergibt sich aus Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 2454/93 eine Verpflichtung des Anmelders der Ware (Flüssiggas), die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an der Mischung genau anzugeben?

3.

Ist ein Gas, das sich zu 0,32 % aus der Summe von Methan, Ethan und Ethylen, zu 58,32 % aus der Summe von Propan und Propylen und zu höchstens 39,99 % aus der Summe von Butan und Butylen zusammensetzt, in die vom Anmelder der Ware in der vorliegenden Rechtssache angewandte Position 2711 19 00 der Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Union oder in die vom Valsts ieņēmumu dienests (lettische Steuerverwaltung) angewandte Position 2711 12 97 einzureihen, wenn der Anmelder der Ware die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an der Mischung nicht genau angegeben hat?

Zu den Vorlagefragen

21

Zunächst ist auf die erste Frage zu antworten, dann auf die dritte Frage und schließlich auf die zweite Frage.

Zur ersten Frage: Bestimmung des Stoffes, der der Ware ihren wesentlichen Charakter verleiht

22

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschrift 2 b und die Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN dahin auszulegen sind, dass dann, wenn der wesentliche Charakter eines Flüssiggases durch dessen Bestandteile insgesamt bestimmt wird und keiner von ihnen als derjenige identifiziert werden kann, der für sich allein dem Gas seinen wesentlichen Charakter verleiht, davon auszugehen ist, dass der Bestandteil, der diesem Flüssiggas im Sinne der Vorschrift 3 b seinen wesentlichen Charakter verleiht, derjenige ist, der den größten Anteil an der Volumenmasse des Flüssiggases aufweist.

23

Es ist daran zu erinnern, dass nach Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN „Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, … nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht [werden], der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann“.

24

Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flüssiggas Methan, Ethan, Ethylen, Propan, Propylen, Butan und Butylen enthalte. Nach der Stellungnahme der Technischen Universität Riga, auf die das vorlegende Gericht in dem Vorabentscheidungsersuchen Bezug nimmt, sei es nicht möglich, festzustellen, dass einer dieser Stoffe für sich allein dieser Ware ihren wesentlichen Charakter, also ihre Wärmekapazität und ihren Überdruck, verleihe. Vielmehr ergebe sich aus dieser Stellungnahme, dass die Wärmekapazität dieser Ware durch sämtliche Bestandteile der Gasmischung zusammen bestimmt werde und nicht durch einen einzelnen Bestandteil.

25

Sofern diese wissenschaftliche Stellungnahme berücksichtigt werden kann, was von dem vorlegenden Gericht zu beurteilen ist, müsste daraus geschlossen werden, dass es gemäß der Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN nicht möglich ist, festzustellen, welcher in dem Flüssiggas vorhandene Stoff der Mischung ihre physikalisch-chemischen Merkmale und insbesondere ihre Wärmekapazität verleiht.

26

Jedenfalls geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es nicht möglich ist, die genaue Menge jedes einzelnen Bestandteils des in Rede stehenden Flüssiggases festzustellen, da in der Qualitätsbescheinigung der Ware der Anteil der in dem Flüssiggas vorhandenen Gase nach Gasgruppen angeführt wird, wobei die erste Gruppe aus Methan, Ethan und Ethylen, die zweite aus Propan und Propylen und die dritte aus Butan und Butylen besteht.

27

Angesichts der von dem vorlegenden Gericht beschriebenen Beweise, die den Erwerb von Flüssiggas anderer Herkunft betreffen, zeigt sich zudem, dass in der aus Propan und Propylen bestehenden Gruppe die Menge an Propylen größer sein kann als die an Propan. Es kann daher nicht unterstellt werden, dass dann, wenn die aus Propan und Propylen bestehende Gasgruppe die wichtigste ist, Propan als der vorherrschende Bestandteil der Mischung anzusehen ist.

28

Schließlich enthalten die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN eine Vorschrift 3 c, die in den Fällen anwendbar ist, in denen die Einreihung der betreffenden Ware weder nach der Vorschrift 3 a noch nach der Vorschrift 3 b möglich ist, und der zufolge die Ware der von den gleichermaßen in Betracht kommenden Positionen in dieser Nomenklatur zuletzt genannten Position zugewiesen werden muss.

29

Daraus folgt, dass es nicht erforderlich ist, auf eine Vermutung zu dem Zweck, den Stoff zu bestimmen, der der Mischung ihren wesentlichen Charakter verleiht, zurückzugreifen.

30

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Vorschrift 2 b und die Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN dahin auszulegen sind, dass dann, wenn sämtliche Bestandteile einer Gasmischung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flüssiggases ihr insgesamt ihren wesentlichen Charakter verleihen, so dass es nicht möglich ist, den Bestandteil festzustellen, der ihr ihren wesentlichen Charakter verleiht, und es jedenfalls nicht möglich ist, die genaue Menge jedes einzelnen Bestandteils des in Rede stehenden Flüssiggases festzustellen, nicht auf eine Vermutung dahin gehend abzustellen ist, dass der Stoff, der der Ware im Sinne der Vorschrift 3 b dieser Allgemeinen Vorschriften ihren wesentlichen Charakter verleiht, der ist, der den größten Anteil an der Mischung aufweist.

Zur dritten Frage: Einreihung einer Flüssiggasmischung

31

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die KN dahin auszulegen ist, dass ein Flüssiggas wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das sich zu 0,32 % aus Methan, Ethan und Ethylen, zu 58,32 % aus Propan und Propylen und zu höchstens 39,99 % aus Butan und Butylen zusammensetzt, in die Unterposition 2711 19 00 als „Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe, verflüssigt, andere“ oder in die Unterposition 2711 12 97 als „Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe, verflüssigt, Propan, anderes, zu anderer Verwendung, andere“ einzureihen ist, wenn der Zollanmelder die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an dem Flüssiggas nicht genau angegeben hat.

32

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zur Gewährleistung der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der KN-Position und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (Urteile vom 1. Juli 1982, Wünsche, 145/81, EU:C:1982:254, Rn. 12, vom 20. November 1997, Wiener SI, C‑338/95,EU:C:1997:552, Rn. 10, vom 15. September 2005, Intermodal Transports, C‑495/03, EU:C:2005:552, Rn. 47, vom 20. November 2008, Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading, C‑375/07, EU:C:2008:645, Rn. 43, und vom 10. Dezember 2015, TSI, C‑183/15, EU:C:2015:808, Rn. 24).

33

Diese objektiven Merkmale und Eigenschaften der Waren müssen zum Zeitpunkt der Zollabfertigung nachprüfbar sein (Urteile vom 12. Dezember 1996, Foods Import, C‑38/95, EU:C:1996:488, Rn. 17, vom 27. September 2007, Medion und Canon Deutschland, C‑208/06 und C‑209/06, EU:C:2007:553, Rn. 36, und vom 23. April 2015, ALKA, C‑635/13, EU:C:2015:268, Rn. 37).

34

Im vorliegenden Fall bezieht sich die Unterposition 2711 12 der KN auf Propan. Wie aus der Antwort auf die erste Frage hervorgeht, kann indessen, selbst wenn Propan das Gas mit dem größten Anteil an einem Flüssiggas wie dem von dem vorlegenden Gericht beschriebenen wäre, nicht vermutet werden, dass es diesem seinen wesentlichen Charakter verleiht.

35

Gleiches gilt für die anderen Gase, aus denen sich dieses Flüssiggas zusammensetzt, so dass dieses auch nicht in die Unterposition 2711 13 („Butane“) oder 2711 14 00 („Ethylen, Propylen, Butylen und Butadien“) eingereiht werden kann.

36

Da die Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN die Einreihung einer Gasmischung, wie sie das von dem nationalen Gericht beschriebene Flüssiggas darstellt, nicht ermöglicht, ist die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte Vorschrift 3 c dieser Vorschriften anzuwenden, der zufolge die Ware der von den gleichermaßen in Betracht kommenden Positionen in dieser Nomenklatur zuletzt genannten Position zugewiesen werden muss, im vorliegenden Fall also, wie die Kommission vorschlägt, der Unterposition 2711 19 00 der KN als „anderes verflüssigtes Erdgas“.

37

Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die KN dahin auszulegen ist, dass ein Flüssiggas wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das sich zu 0,32 % aus Methan, Ethan und Ethylen, zu 58,32 % aus Propan und Propylen und zu höchstens 39,99 % aus Butan und Butylen zusammensetzt und bei dem es nicht möglich ist, denjenigen seiner Bestandteile festzustellen, der ihm seinen wesentlichen Charakter verleiht, in die Unterposition 2711 19 00 als „Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe, verflüssigt, andere“ einzureihen ist.

Zur zweiten Frage

38

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 2454/93 dahin auszulegen ist, dass sich daraus ergibt, dass ein Anmelder von Flüssiggas wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende verpflichtet ist, die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an diesem Flüssiggas genau anzugeben.

39

Wie aus der Antwort auf die erste Frage hervorgeht, kann nicht vermutet werden, dass in dem Fall, dass ein Flüssiggas wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aus mehreren Stoffen zusammengesetzt ist, derjenige dieser Stoffe, der den größten Anteil aufweist, dem Flüssiggas seinen wesentlichen Charakter verleiht.

40

Wie sich aus der Antwort auf die dritte Frage ergibt – und wie die Kommission ausführt –, ist das Fehlen einer genauen Angabe des Anteils der Stoffe, aus denen ein Flüssiggas wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende zusammengesetzt ist, im Übrigen kein Hindernis für die Anwendung der Vorschriften über die zolltarifliche Einreihung.

41

Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 2454/93 dahin auszulegen ist, dass sich daraus nicht ergibt, dass ein Anmelder von Flüssiggas wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende verpflichtet ist, die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an diesem Flüssiggas genau anzugeben.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Vorschrift 2 b und die Vorschrift 3 b der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in seinen nacheinander durch die Verordnung (EG) Nr. 1031/2008 der Kommission vom 19. September 2008 und die Verordnung (EG) Nr. 948/2009 der Kommission vom 30. September 2009 geänderten Fassungen sind dahin auszulegen, dass dann, wenn sämtliche Bestandteile einer Gasmischung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flüssiggases ihr insgesamt ihren wesentlichen Charakter verleihen, so dass es nicht möglich ist, den Bestandteil festzustellen, der ihr ihren wesentlichen Charakter verleiht, und es jedenfalls nicht möglich ist, die genaue Menge jedes einzelnen Bestandteils des in Rede stehenden Flüssiggases festzustellen, nicht auf eine Vermutung dahin gehend abzustellen ist, dass der Stoff, der der Ware im Sinne der Vorschrift 3 b dieser Allgemeinen Vorschriften ihren wesentlichen Charakter verleiht, der ist, der den größten Anteil an der Mischung aufweist.

 

2.

Diese Kombinierte Nomenklatur ist dahin auszulegen, dass ein Flüssiggas wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das sich zu 0,32 % aus Methan, Ethan und Ethylen, zu 58,32 % aus Propan und Propylen und zu höchstens 39,99 % aus Butan und Butylen zusammensetzt und bei dem es nicht möglich ist, denjenigen seiner Bestandteile festzustellen, der ihm seinen wesentlichen Charakter verleiht, in die Unterposition 2711 19 00 als „Erdgas und andere gasförmige Kohlenwasserstoffe, verflüssigt, andere“ einzureihen ist.

 

3.

Art. 218 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ist dahin auszulegen, dass sich daraus nicht ergibt, dass ein Anmelder von Flüssiggas wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende verpflichtet ist, die prozentuale Menge der Stoffe mit dem größten Anteil an diesem Flüssiggas genau anzugeben.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.