SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 4. April 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑612/15

Strafverfahren

gegen

Nikolay Kolev,

Milko Hristov,

Stefan Kostadinov

(Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad [Sonderstrafgericht, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strafverfahren – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Akteneinsicht – Richtlinie 2013/48/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteter Betrug – Straftaten – Wirksame und abschreckende Sanktionen – Ausschlussfrist – Einstellung des Strafverfahrens ohne Sachprüfung der Anklagepunkte – Recht auf ein faires Verfahren – Verteidigungsrecht – Angemessene Verfahrensdauer“

1.

Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, sich zu grundlegenden Begriffen des Strafrechts zu äußern. Er ist vom Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht, Bulgarien) um Vorabentscheidung darüber ersucht worden, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die dem Richter vorschreibt, auf Antrag des Betroffenen das gegen diesen anhängige Strafverfahren einzustellen, wenn eine Frist von mehr als zwei Jahren seit dem Beginn des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verstrichen ist, unabhängig von der Schwere der Sache, und ohne dass es möglich ist, der absichtlichen Verfahrensbehinderung durch die beschuldigten Personen abzuhelfen. Der Gerichtshof ist aufgerufen, zu prüfen, welche Folgen unter diesen Umständen eine etwaige Unvereinbarkeit dieser nationalen Regelung mit dem Unionsrecht hätte.

2.

Außerdem stellt das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mehrere Fragen betreffend den Zeitpunkt, zu dem die beschuldigte Person über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu unterrichten ist, und den Zeitpunkt, zu dem sie oder ihr Rechtsbeistand Einsicht in die Verfahrensakte erhalten muss. Schließlich soll der Gerichtshof prüfen, ob eine nationale Bestimmung unionsrechtswidrig ist, die vorsieht, dass der Rechtsbeistand, der im Rahmen ein und derselben Rechtssache Beschuldigte mit widerstreitenden Interessen vertritt, auszuschließen und durch einen Pflichtverteidiger zu ersetzen ist.

I – Rechtlicher Rahmen

A –   Unionsrecht

1. Primärrecht

3.

Art. 325 AEUV bestimmt:

„(1)   Die [Europäische] Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.

(2)   Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.

(4)   Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten.

…“

2. Sekundärrecht

a) Verordnung (EG) Nr. 450/2008

4.

Nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft (Modernisierter Zollkodex) ( 2 ), „[sieht j]eder Mitgliedstaat … Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften der Gemeinschaft vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

b) SFI-Übereinkommen und erstes Protokoll zum SFI-Übereinkommen

5.

Nach der Präambel des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ( 3 ) sind die Hohen Vertragsparteien dieses Übereinkommens, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sowohl davon überzeugt, dass „der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften es erfordert, betrügerische Handlungen zum Nachteil dieser Interessen strafrechtlich zu verfolgen“ ( 4 ), als auch „von der Notwendigkeit, derartige Handlungen als Straftaten zu umschreiben und durch wirksame, angemessene und abschreckende strafrechtliche Sanktionen – unbeschadet der Verhängung andersartiger Sanktionen in geeigneten Fällen – ahnden zu können und zumindest in schweren Fällen mit Freiheitsstrafen zu bedrohen“ ( 5 ).

6.

Art. 1. Abs. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich und Abs. 2 des SFI-Übereinkommens sieht Folgendes vor:

„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b)

im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

(2)   [Jeder Mitgliedstaat] trifft … die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Absatz 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.“

7.

Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 [Euro] nicht überschreiten.“

8.

Art. 2 („Bestechlichkeit“) des Protokolls aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ( 6 ) hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Für die Zwecke dieses Protokolls ist der Tatbestand der Bestechlichkeit dann gegeben, wenn ein Beamter vorsätzlich unmittelbar oder über eine Mittelsperson für sich oder für einen Dritten Vorteile jedweder Art als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften geschädigt werden oder geschädigt werden können.

(2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Handlungen Straftaten sind.“

9.

Art. 3 („Bestechung“) des ersten Protokolls zum SFI-Übereinkommen lautet:

„(1)   Für die Zwecke dieses Protokolls ist der Tatbestand der Bestechung dann gegeben, wenn eine Person vorsätzlich einem Beamten unmittelbar oder über eine Mittelsperson einen Vorteil jedweder Art für ihn selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung dafür verspricht oder gewährt, dass der Beamte unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften geschädigt werden oder geschädigt werden können.

(2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Handlungen Straftaten sind.“

c) Richtlinie 2012/13/EU

10.

Gegenstand der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ( 7 ) ist es nach ihrem Art. 1, „Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf [festzulegen]“.

11.

Art. 6 der Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

12.

In Art. 7 der Richtlinie heißt es:

„(1)   Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsbeiständen zur Verfügung gestellt werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten.

(3)   Unbeschadet des Absatzes 1 wird Zugang zu den in Absatz 2 genannten Unterlagen so rechtzeitig gewährt, dass die Verteidigungsrechte wirksam wahrgenommen werden können, spätestens aber bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht. Gelangen weitere Beweismittel in den Besitz der zuständigen Behörden, so wird Zugang dazu so rechtzeitig gewährt, dass diese Beweismittel geprüft werden können.

…“

d) Richtlinie 2013/48/EU

13.

Art. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs ( 8 ) sieht Folgendes vor:

„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren und von Personen, die von einem Verfahren gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI … betroffen sind, auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.“

14.

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.“

B –   Bulgarisches Strafverfahren

15.

Im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens spielt der Staatsanwalt eine entscheidende Rolle. Er leitet nämlich die den Ermittlungsorganen übertragenen Ermittlungen und entscheidet allein über die Richtung, in die ein Verfahren gehen soll.

16.

Was die Ermittlungen anbelangt, verfügt der Staatsanwalt nach Art. 234 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) über zwei Monate, um Untersuchungen durchzuführen, wobei diese Frist durch den Staatsanwalt der dem betreffenden übergeordneten Staatsanwaltschaft einmal um vier Monate verlängert werden kann und in Ausnahmefällen durch den Generalstaatsanwalt auch unbegrenzt oft auf unbegrenzte Zeit verlängert werden kann. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass in komplizierten Sachen wie dem Ausgangsverfahren in erheblichem Maße auf die letztgenannte Verlängerung zurückgegriffen wird.

17.

Nach den Art. 219, 221 und 246 NPK wird, wenn hinreichende Beweise gegen die Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt wird, gesammelt wurden, ein schriftlicher Tatvorwurf verfasst und vom Ermittlungsorgan unterzeichnet. Dieser Rechtsakt ist ein Schriftstück, das genau festgelegte Voraussetzungen zu erfüllen hat. Es hat insbesondere eine Darstellung der Hauptpunkte des Tatbestands und ihre rechtliche Beurteilung zu enthalten. Zu diesem Zeitpunkt werden die Person, die der Begehung der Straftat verdächtigt wird, sowie ihr Rechtsbeistand über den Tatvorwurf durch die Vorlage dieses Rechtsakts unterrichtet. Sie haben sodann vom Inhalt des schriftlichen Tatvorwurfs Kenntnis zu nehmen und ihn zu unterzeichnen. Anschließend wird der Beschuldigte befragt, und er kann entweder aussagen oder die Aussage verweigern und, wie sein Rechtsbeistand, auch Anträge stellen.

18.

Die Offenlegung der Ermittlungsakte wird von den Art. 226 bis 230 NPK geregelt. Zu diesem Zweck haben die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand auf Antrag Zugang zu den Schriftstücken des Verfahrens. Werden Anträge gestellt, entscheidet der Staatsanwalt über diese Anträge.

19.

Wurde der Antrag auf Offenlegung der Ermittlungsakte gestellt, werden der Beschuldigte und sein Rechtsbeistand mindestens drei Tage vor dieser Offenlegung geladen. Wenn sie am Tag der Ladung ohne hinreichenden Grund nicht erscheinen, entfällt die Verpflichtung zur Offenlegung. Bei der Offenlegung gewährt die Person, die die Ermittlung führt, dem Beschuldigten und seinem Rechtsbeistand eine angemessene Frist, um von allen diese Ermittlung betreffenden Umständen Kenntnis nehmen zu können.

20.

Sobald die Offenlegung der Ermittlungsakte erfolgt ist und gegebenenfalls über die Anträge des Beschuldigten und seines Rechtsbeistands entschieden wurde, wird die Untersuchung abgeschlossen.

21.

Eine andere – die gerichtliche – Phase beginnt sodann mit der Einreichung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Die Anklageschrift – die nach dem vorlegenden Gericht „der endgültige konkretisierte Tatvorwurf“ ist – formuliert die Anklagepunkte hinsichtlich des Sachverhalts und seiner rechtlichen Beurteilung in vollem Umfang aus. Sie besteht nämlich aus zwei Teilen, einem Sachverhaltsteil, der die Tatsachen enthält, und einem Schlussteil, in dem ihre rechtliche Beurteilung erfolgt. Die Anklageschrift, von der anschließend eine Kopie an den Beschuldigten und seinen Rechtsbeistand übermittelt wird, wird bei Gericht eingereicht, das innerhalb von 15 Tagen zu prüfen hat, ob Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln vorliegen.

22.

Insoweit bestimmt Art. 348 Abs. 3 Nr. 1 NPK, dass ein Verstoß gegen Verfahrensregeln dann wesentlich ist, wenn er ein gesetzlich anerkanntes Verfahrensrecht erheblich verletzt. Nach diesem Artikel entfällt der „wesentliche“ Charakter des Verfahrensverstoßes nur dann, wenn die Verletzung behoben wurde.

23.

Der Inhalt der Anklageschrift unterliegt strengen Formvorschriften. So stellen Widersprüche zwischen der Anklageschrift und dem letzten dem Beschuldigten durch das Ermittlungsorgan zur Kenntnis gebrachten schriftlichen Tatvorwurf wesentliche Verstöße dar. Auch ein Widerspruch in der Anklageschrift selbst stellt einen wesentlichen Verstoß dar. So wurde im Ausgangsverfahren davon ausgegangen, dass es einen wesentlichen Verfahrensverstoß darstelle, dass der Staatsanwalt in der Begründung seiner Anklageschrift auf den Umstand verweise, dass zwei Beschuldigte des Ausgangsverfahrens ihre Unzufriedenheit über den geringen als Bestechungsgeld angebotenen Geldbetrag durch ein verzerrtes Gesicht zum Ausdruck gebracht hätten, während der Staatsanwalt im Schlussteil dieser Anklageschrift angebe, dass die Beschuldigten diese Unzufriedenheit mit Worten ausgedrückt hätten.

24.

Außerdem wird die fehlende Offenlegung dieses vom Ermittlungsorgan verfassten schriftlichen Tatvorwurfs als ein wesentlicher Verfahrensverstoß angesehen, wobei insoweit die Gründe für diese fehlende Offenlegung keine Bedeutung haben, selbst wenn sie sich z. B. aus einer Absicht der Beschuldigten ergibt, sie scheitern zu lassen. Ich erinnere daran, dass diese Offenlegung zwingend durch das Ermittlungsorgan unmittelbar an die beschuldigte Person selbst und an ihren Rechtsbeistand zu erfolgen hat.

25.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Verteidigung in absolut allen Strafsachen in Bulgarien vom Inhalt der Anklageschrift, und folglich von den Informationen über den Tatvorwurf, nach ihrer Einreichung bei Gericht, aber vor der den Tatvorwurf selbst betreffenden Prüfung Kenntnis nimmt.

26.

Parallel dazu sehen die Art. 368 und 369 NPK vor, dass, wenn das strafrechtliche Ermittlungsverfahren nicht innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen ist, der oder die beschuldigten Personen das Recht haben, zu beantragen, dass das Gericht dem Staatsanwalt aufgibt, das Vorverfahren innerhalb von drei Monaten abzuschließen und einzustellen oder bei Gericht anhängig zu machen. Der Staatsanwalt verfügt über 15 zusätzliche Tage, um die Anklageschrift zu erstellen. Schließt er das strafrechtliche Ermittlungsverfahren nicht fristgerecht ab, zieht das Gericht die Sache an sich und stellt das Strafverfahren ein.

27.

Wenn dagegen der Staatsanwalt eine Anklageschrift bei Gericht einreicht, prüft dieses sie und kontrolliert, ob das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Liegt ein Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln vor, verweist das Gericht die Rechtssache erneut an den Staatsanwalt, der über eine Frist von einem Monat verfügt, um diese Verstöße zu beheben. Macht der Staatsanwalt die Sache nicht innerhalb dieser Frist bei Gericht anhängig oder wird die Sache bei Gericht zwar anhängig gemacht, aber dieses stellt erneut einen Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln fest, wird das Strafverfahren eingestellt.

28.

Die Einstellung des Strafverfahrens ist ein endgültiger, nicht anfechtbarer Rechtsakt, und ihre Rechtmäßigkeit kann nur in Ausnahmefällen geprüft werden. Die Staatsanwaltschaft verliert somit jedes Recht, die Person, die der Begehung der Straftat verdächtigt wird, strafrechtlich zu verfolgen.

29.

Betreffend das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sehen Art. 91 Abs. 3 und Art. 92 NPK vor, dass der Richter den Rechtsbeistand eines Beschuldigten auszuschließen hat, der der Verteidiger eines anderen Beschuldigten ist oder war, wenn der Verteidigungsauftrag eines der Beschuldigten der Verteidigung des anderen widerspricht. Nach ständiger bulgarischer Rechtsprechung besteht ein Interessenwiderspruch, wenn die Aussage eines der Beschuldigten einen Beweis gegen einen anderen Beschuldigten darstellt, der seinerseits nicht ausgesagt hat. In diesem Fall können diese Personen keinen gemeinsamen Rechtsbeistand haben. Der Rechtsbeistand ist daher verpflichtet, selbst seinen Ausschluss zu erklären, und wenn er das nicht tut, haben ihn der Staatsanwalt oder das Gericht auszuschließen. Andernfalls begehen sie einen Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln, der zur Aufhebung des Rechtsakts der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts führt.

II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

30.

Herr Nikolay Kolev und Herr Stefan Kostadinov (im Folgenden: Beschuldigte des Ausgangsverfahrens) sind angeklagt, sich als Beamte der Zollbehörde Svilengrad (Bulgarien) an der Grenze zur Türkei im Zeitraum vom 1. April 2011 bis zum 2. Mai 2012 an einer kriminellen Vereinigung beteiligt zu haben. Sie sollen nämlich von den aus der Türkei die Grenze nach Bulgarien überquerenden Fahrern von Lkws und Pkws Bestechungsgelder dafür verlangt haben, dass sie Zollprüfungen unterließen und festgestellte Unregelmäßigkeiten nicht in den amtlichen Dokumenten festhielten. Die erhaltenen Geldsummen sollen die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens am Ende ihrer Schicht untereinander aufgeteilt haben.

31.

Alle an dieser kriminellen Vereinigung beteiligten Personen, einschließlich der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 2012 festgenommen. Unmittelbar nach der Durchsuchung bei der Festnahme wurde gegen diese Personen der Tatvorwurf der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung erhoben, und drei von ihnen, darunter einer der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, wurden des Verbergens der sowohl in den Amtsräumen als auch bei einer dieser Personen gefundenen Geldbeträge beschuldigt.

32.

Im Februar und März 2013 wurden die Tatvorwürfe gegen die acht an dieser kriminellen Vereinigung beteiligten Personen präzisiert und alle diese Personen wurden darüber unterrichtet. Die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens sowie ihre Vertreter wurden konkret am 21. März 2013 über diese Tatvorwürfe, die gesammelten Beweise und alle anderen Aktenstücke unterrichtet. Der schriftliche Tatvorwurf gegen Herrn Kolev wurde später erneut präzisiert, und er wurde am 17. Juli 2013 darüber unterrichtet.

33.

Vier der acht an der kriminellen Vereinigung beteiligten Personen schlossen eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft, um die Verfolgung hinsichtlich des Tatvorwurfs der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zur Einstellung zu bringen. Zweimal wurde diese Vereinbarung beim Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht) zur Bestätigung eingereicht und zweimal wies dieser den Antrag mit der Begründung zurück, dass die Tatvorwürfe nicht von der zuständigen Stelle verfasst worden seien und Verfahrensverstöße vorlägen. Das Gericht verwies daher die Sache zur Erhebung neuer Tatvorwürfe an den zuständigen Staatsanwalt zurück.

34.

Am 7. November 2013 wurde die Sache daher der Sonderstaatsanwaltschaft übertragen. Die Fristen für die Ermittlungen wurden wiederholt verlängert. Der Staatsanwalt nahm von Amts wegen Handlungen vor, wie die Zurückverweisung der Sache an die Ermittlungsbehörden mit Anweisungen oder Anträge auf Verlängerung der Fristen für die Untersuchung und Auskunftsverlangen.

35.

Da die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens der Ansicht waren, dass die Frist gemäß Art. 368 Abs. 1 des NPK abgelaufen sei, leiteten sie ein Verfahren nach Art. 369 des NPK ein. Das Gericht stellte fest, dass die Frist von zwei Jahren ab Beginn des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens tatsächlich abgelaufen sei und verwies die Sache daher an den Staatsanwalt mit der Verpflichtung zurück, sie nach Art. 369 des NPK innerhalb von drei Monaten abzuschließen, den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens die Tatvorwürfe offenzulegen und die Ermittlungsakte vorzulegen. Diese Frist begann am 29. Oktober 2014 zu laufen und lief am 29. Januar 2015 ab. Zu diesem Zeitpunkt hätten somit alle Untersuchungshandlungen, einschließlich der Erhebung der Tatvorwürfe und ihrer Mitteilung an die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, abgeschlossen sein sollen. Danach verfügte der Staatsanwalt über 15 Tage, um eine Anklageschrift zu erstellen und bei Gericht einzureichen.

36.

Es war nicht möglich, die neuen, infolge der Entscheidung des Gerichts erstellten Tatvorwürfe den Beschuldigten persönlich und ihren Rechtsbeiständen offenzulegen. Herr Kolev erhielt nämlich am 13. Januar 2015 eine Ladung für den 19. Januar 2015. Sein Rechtsbeistand wies am selben Tag per Fax darauf hin, dass dieser aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen könne. Herr Kolev wurde telefonisch erneut für den 22. Januar 2015 geladen. Allerdings erschienen weder er noch sein Rechtsbeistand, wobei Letzterer angab, dass sich sein Mandant im Krankenhaus befinde und er selbst aus beruflichen Gründen verhindert sei. Herr Kolev wurde nochmals erfolglos für den 27. und den 28. Januar 2015 geladen, wobei sein Rechtsbeistand jeweils darauf hinwies, dass dieser im Krankenhaus sei. Sie wurden für den 29. Januar 2015 neuerlich geladen, erschienen aber nicht, und der Rechtsbeistand von Herrn Kolev brachte vor, dass er in einer anderen Sache beruflich beschäftigt sei. Herr Kolev wurde daher nicht über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe unterrichtet.

37.

Schließlich wurde Herr Kostadinov unter der mitgeteilten Anschrift nicht angetroffen. Sein Rechtsbeistand gab an, dass er keinen Kontakt zu ihm habe. Es wurde daher entschieden, ihn zwangsweise vorführen zu lassen. Der Rechtsbeistand von Herrn Kostadinov legte jedoch ein ärztliches Zeugnis vor, wonach dieser in ein Krankenhaus eingewiesen worden sei. Er wurde daher ebenfalls nicht über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe unterrichtet.

38.

Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde somit innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist abgeschlossen und der Staatsanwalt verfasste eine Anklageschrift.

39.

Mit Beschluss vom 20. Februar 2015 befand dieses Gericht, dass während des Vorverfahrens Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln begangen worden seien. Ein Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln bestehe zum einen nämlich darin, dass den Beschuldigten und ihren Rechtsbeiständen die letzten schriftlichen Tatvorwürfe nicht offengelegt worden seien. Zum anderen zeige sich ein Widerspruch zwischen den schriftlichen Tatvorwürfen und der Anklageschrift, da der letzte schriftliche Tatvorwurf den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens nicht offengelegt worden sei und daher die Anklageschrift diesen letzten schriftlichen Tatvorwurf nicht habe übernehmen dürfen. In der Anklageschrift hätte nur der den Parteien offengelegte schriftliche Tatvorwurf angeführt werden dürfen.

40.

Außerdem entschied das Gericht, dass die der Offenlegung der neuen Tatvorwürfe an die Herren Kolev und Kostadinov entgegenstehenden Hindernisse die Verletzung ihrer Verfahrensrechte nicht rechtfertigten.

41.

Das Gericht setzte daher dem Staatsanwalt eine einmonatige Frist zur Behebung dieser Verstöße bei sonstiger Einstellung des Strafverfahrens gegen die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens. Die Sache wurde daher am 7. April 2015 an den Staatsanwalt zurückverwiesen, und diese Frist lief am 7. Mai 2015 ab.

42.

Es war dem Staatsanwalt jedoch nicht möglich, die neuen Tatvorwürfe und die Ermittlungsakte den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens und ihren Rechtsbeiständen offenzulegen, da diese insbesondere medizinische und berufliche Gründe geltend machten, um die Unterrichtung darüber zu verweigern.

43.

Mit Beschluss vom 22. Mai 2015 stellte der Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht) daher fest, dass der Staatsanwalt die Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln nicht behoben sowie neue begangen habe, und war der Ansicht, dass die Verfahrensrechte der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens verletzt und die Widersprüche in der Anklageschrift nicht beseitigt worden seien.

44.

Dieses Gericht vertrat zwar den Standpunkt, dass die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens sowie ihre Rechtsbeistände ihre Rechte missbräuchlich ausgeübt hätten, um den Ablauf der Fristen herbeizuführen, damit das gegen sie anhängige Strafverfahren eingestellt werde, es stellte aber dennoch fest, dass die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahren erfüllt seien. Es beschloss allerdings, das Strafverfahren nicht förmlich einzustellen, sondern das Verfahren zu beenden, ohne eine Maßnahme zu erlassen.

45.

Der Staatsanwalt vertrat die Auffassung, dass kein Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln begangen worden sei, und focht den Beschluss vom 22. Mai 2015 an.

46.

Mit Beschluss vom 12. Oktober 2015 verwies das Berufungsgericht die Sache an das vorlegende Gericht, nämlich den Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht), mit der Begründung zurück, dass dieser das Strafverfahren gegen die Beschuldigten des Ausgangsverfahrens nach den Art. 368 und 369 NPK hätte einstellen müssen.

47.

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof angerufen und ihm die in der nachfolgenden Nummer dargelegten Vorlagefragen gestellt.

III – Vorlagefragen

48.

Im Ausgangsverfahren hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist ein nationales Gesetz mit der Verpflichtung eines Mitgliedstaats, eine wirksame Strafverfolgung der Straftaten von Zollbeamten vorzusehen, vereinbar, wenn nach diesem Gesetz das Strafverfahren, das gegen Zollbeamte wegen der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Korruptionsstraftaten während der Ausübung ihres Dienstes (Entgegennahme von Bestechungsgeldern für die Unterlassung einer Zollprüfung) sowie wegen konkreter Bestechungen und wegen Verbergens entgegengenommener Bestechungsgelder geführt wird, unter den folgenden Voraussetzungen eingestellt wird, ohne dass das Gericht die erhobenen Tatvorwürfe in der Sache geprüft hat: a) nach Erhebung des Tatvorwurfs sind zwei Jahre verstrichen; b) die beschuldigte Person hat einen Antrag auf Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gestellt; c) dem Staatsanwalt ist durch das Gericht eine dreimonatige Frist für den Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gesetzt worden; d) der Staatsanwalt hat innerhalb dieser Frist „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ begangen (nämlich nicht ordnungsgemäße Offenlegung eines ergänzten schriftlichen Tatvorwurfs, keine Offenlegung der Ermittlungsakte und widersprüchliche Anklageschrift); e) dem Staatsanwalt ist durch das Gericht eine neuerliche einmonatige Frist gesetzt worden, um diese „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ zu beheben; f) der Staatsanwalt hat diese „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ innerhalb dieser Frist nicht behoben – wobei der Grund für die Begehung dieser Verstöße innerhalb der ersten dreimonatigen Frist und die nicht erfolgte Behebung innerhalb der letzten einmonatigen Frist sowohl auf den Staatsanwalt (nicht erfolgte Beseitigung der Widersprüche in der Anklageschrift; Nichtdurchführung tatsächlicher Handlungen während der überwiegenden Dauer der Fristen) als auch auf die Verteidigung zurückzuführen ist (Verletzung der Pflicht zur Mitwirkung bei der Mitteilung des Tatvorwurfs und der Offenlegung der Ermittlungsakte aufgrund eines Krankenhausaufenthalts der beschuldigten Personen und geltend gemachter anderweitiger beruflicher Verpflichtungen der Rechtsbeistände); g) es ist ein subjektives Recht der beschuldigten Person auf Einstellung des Strafverfahrens wegen nicht erfolgter Behebung der „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ innerhalb der dafür gesetzten Fristen entstanden?

2.

Falls diese Frage verneint wird, welchen Teil der oben genannten rechtlichen Regelung sollte das nationale Gericht unangewendet lassen, um die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten: a) die Einstellung des Strafverfahrens bei Ablauf der einmonatigen Frist oder b) die Einstufung der oben genannten Mängel als „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ oder c) den Schutz des nach g) entstandenen subjektiven Rechts – falls die Möglichkeit besteht, diesen Verstoß im Rahmen des Gerichtsverfahrens effektiv zu heilen?

a)

Ist die Entscheidung zur Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, die die Einstellung des Strafverfahrens vorsieht, daran zu knüpfen, dass

i)

dem Staatsanwalt eine zusätzliche Frist zur Behebung des „Verstoßes gegen wesentliche Verfahrensregeln“ gewährt wird, die genauso lang ist wie die Frist, während der er aufgrund seitens der Verteidigung zu verantwortender Hindernisse objektiv nicht imstande war dies zu tun;

ii)

das Gericht im Falle i) feststellt, dass diese Hindernisse infolge eines „Rechtsmissbrauchs“ entstanden sind;

iii)

falls Frage 2 Buchst. a Ziff. i verneint wird, das Gericht feststellt, dass das nationale Recht hinreichende Garantien für den Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist bietet?

b)

Ist die Entscheidung zur Nichtanwendung der vom nationalen Recht vorgesehenen Einstufung der oben genannten Mängel als „Verstöße gegen wesentliche Verfahrensregeln“ mit dem Unionsrecht vereinbar? Im Einzelnen:

i)

Wäre das Recht nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 auf Erteilung detaillierter Informationen über den Tatvorwurf an die Verteidigung hinreichend gewährleistet,

wenn diese Informationen nach der faktischen Einreichung der Anklageschrift bei Gericht, aber vor deren gerichtlichen Prüfung erteilt werden, und wenn zu einem früheren, vor Einreichung der Anklageschrift bei Gericht liegenden Zeitpunkt der Verteidigung vollständige Informationen über die wesentlichen Elemente des Tatvorwurfs erteilt wurden (trifft auf den Beschuldigten Milko Hristov zu);

falls Frage 2 Buchst. b Ziff. i erster Gedankenstrich bejaht wird – wenn diese Informationen nach der faktischen Einreichung der Anklageschrift bei Gericht erteilt werden, aber bevor das Gericht die Anklageschrift geprüft hat, und der Verteidigung Teilinformationen über die wesentlichen Elemente des Tatvorwurfs zu einem früheren, vor Einreichung der Anklageschrift bei Gericht liegenden Zeitpunkt erteilt wurden, wobei der Grund dafür, dass nur Teilinformationen erteilt wurden, auf Hindernissen seitens der Verteidigung beruht (trifft auf die Beschuldigten Kolev und Kostadinov zu);

wenn diese Informationen Widersprüche bezüglich der konkreten Äußerung der Bestechungsforderung aufweisen (einmal wird angegeben, dass ein anderer Beschuldigter das Bestechungsgeld ausdrücklich verlangt habe, während der Beschuldigte Hristov seine Unzufriedenheit durch ein verzerrtes Gesicht zum Ausdruck gebracht habe, als die der Zollprüfung unterworfene Person zu wenig Geld angeboten habe, dann wiederum heißt es, dass der Beschuldigte Hristov wörtlich und konkret Bestechungsgeld verlangt habe)?

ii)

Wäre das Recht nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 auf Zugang der Verteidigung zu den Unterlagen „spätestens bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht“ im Ausgangsverfahren hinreichend gewährleistet, wenn die Verteidigung zu einem früheren Zeitpunkt Zugang zu dem wesentlichen Teil der Unterlagen hatte und ihr die Möglichkeit gewährt wurde, Einsicht in die Unterlagen zu nehmen, sie jedoch aufgrund von Hindernissen (Erkrankung, beruflichen Verpflichtungen) und unter Berufung auf das nationale Recht, das eine Ladung zur Einsicht in die Unterlagen mindestens drei Tage zuvor erfordert, keinen Gebrauch davon gemacht hat? Muss nach Wegfall der Hindernisse und mit einer Ladungsfrist von mindestens drei Tagen eine zweite Gelegenheit gewährt werden? Muss geprüft werden, ob die genannten Hindernisse objektiv vorgelegen haben oder einen Rechtsmissbrauch darstellen?

iii)

Hat das gesetzliche Erfordernis in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 „spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird“ bzw. in deren Art. 7 Abs. 3 „spätestens bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht“ in beiden Vorschriften die gleiche Bedeutung? Welche Bedeutung hat diese Anforderung – vor der faktischen Einreichung der Anklageschrift bei Gericht oder spätestens bei ihrer Einreichung bei Gericht oder aber nach ihrer Einreichung bei Gericht, jedoch bevor das Gericht Maßnahmen zur Prüfung dieser Anklageschrift ergreift?

iv)

Hat das gesetzliche Erfordernis der Erteilung von Informationen über den Tatvorwurf und der Einsicht in die Verfahrensakte in der Weise, dass „eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte“ bzw. „ein faires Verfahren“ nach Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13 gewährleistet werden können, in beiden Vorschriften die gleiche Bedeutung? Wäre diesem Erfordernis Genüge getan,

wenn die detaillierten Informationen über den Tatvorwurf der Verteidigung zwar nach Einreichung der Anklageschrift bei Gericht, aber noch bevor Maßnahmen zu ihrer Prüfung in der Sache ergriffen werden, erteilt würden und der Verteidigung eine hinreichende Frist zur Vorbereitung gewährt würde, sofern Informationen über den Tatvorwurf zu einem früheren Zeitpunkt unvollständig und teilweise erteilt wurden;

wenn die Verteidigung Zugang zu allen Unterlagen zwar nach Einreichung der Anklageschrift bei Gericht bekäme, aber noch bevor Maßnahmen zu ihrer Prüfung in der Sache ergriffen werden, und ihr eine hinreichende Frist zur Vorbereitung gewährt würde, sofern die Verteidigung zu einem Großteil der Verfahrensunterlagen zu einem früheren Zeitpunkt Zugang bekommen hat;

wenn das Gericht Maßnahmen ergreifen würde, um der Verteidigung zu garantieren, dass alle Erklärungen, die sie nach erfolgter Kenntnisnahme der ausführlichen Anklageschrift und aller Verfahrensunterlagen abgeben würde, dieselbe Wirkung hätten, die sie gehabt hätten, wenn sie gegenüber dem Staatsanwalt vor Einreichung der Anklageschrift bei Gericht abgegeben worden wären?

v)

Wären „ein faires Verfahren“ gemäß Art. 6 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2012/13 bzw. „eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte“ gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie gewährleistet, wenn das Gericht entschiede, ein Gerichtsverfahren über eine endgültige Anklage zu eröffnen, die Widersprüche im Hinblick auf die Äußerung der Bestechungsforderung aufweist, es jedoch daraufhin dem Staatsanwalt die Gelegenheit geben würde, diese Widersprüche zu beseitigen, sowie den Beteiligten ermöglichte, dass sie die Rechte, die sie bei Einreichung einer Anklageschrift ohne derartige Widersprüche gehabt hätten, in vollem Umfang geltend machen können?

vi)

Wäre das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hinreichend gewährleistet, wenn dem Rechtsbeistand während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Gelegenheit gegeben wurde, zu erscheinen, um über den vorläufigen Tatvorwurf unterrichtet zu werden und vollständige Einsicht in alle Verfahrensunterlagen zu nehmen, er aber wegen beruflicher Verpflichtungen und unter Berufung auf das nationale Recht, das eine Ladungsfrist von mindestens drei Tagen vorsieht, nicht erschienen ist? Muss eine neue Frist von mindestens drei Tagen nach Wegfall dieser Verpflichtungen gewährt werden? Muss geprüft werden, ob ein hinreichender Grund für das Nichterscheinen oder ein Rechtsmissbrauch vorliegt?

vii)

Würde sich die Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 verankerten Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf die „praktische und wirksame Wahrnehmung der Verteidigungsrechte“ auswirken, wenn das Gericht nach Einreichung der Anklageschrift bei Gericht dem Rechtsbeistand vollumfänglichen Zugang zu der endgültigen und detaillierten Anklageschrift sowie zu allen Verfahrensunterlagen gewähren und anschließend Maßnahmen ergreifen würde, um ihm zu garantieren, dass alle von ihm nach Kenntnisnahme der detaillierten Anklageschrift und aller Verfahrensunterlagen abgegebenen Erklärungen dieselbe Wirkung haben würden, die sie gehabt hätten, wenn sie gegenüber dem Staatsanwalt vor Einreichung der Anklageschrift bei Gericht abgegeben worden wären?

c)

Ist das zugunsten der beschuldigten Person begründete subjektive Recht auf Einstellung des Strafverfahrens (unter den oben dargelegten Bedingungen) mit dem Unionsrecht vereinbar, obwohl die Möglichkeit besteht, den vom Staatsanwalt nicht behobenen „Verstoß gegen wesentliche Verfahrensregeln“ vollumfänglich durch Maßnahmen des Gerichts im Gerichtsverfahren zu heilen, so dass die rechtliche Situation der beschuldigten Person letztendlich mit der identisch wäre, in der sie sich bei rechtzeitiger Behebung dieses Verstoßes befunden hätte?

3.

Dürfen günstigere nationale Regelungen betreffend das Recht auf Verhandlung der Sache innerhalb einer angemessenen Frist, das Recht auf Unterrichtung sowie das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand angewandt werden, wenn sie, in Verbindung mit weiteren Umständen (dem in der ersten Frage dargestellten Verfahren), zur Einstellung des Strafverfahrens führen würden?

4.

Ist Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass er das nationale Gericht ermächtigt, einen Rechtsbeistand vom Gerichtsverfahren auszuschließen, der zwei der Beschuldigten vertreten hat, von denen einer über Tatsachen ausgesagt hat, die die Interessen des anderen Beschuldigten beeinträchtigen, der seinerseits keine Aussage gemacht hat?

Falls diese Frage bejaht wird, würde das Gericht das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie gewährleisten, wenn es – nachdem es einen Rechtsbeistand, der gleichzeitig zwei Beschuldigte mit widerstreitenden Interessen vertreten hat, zur Teilnahme am Gerichtsverfahren zugelassen hat, jedem der Beschuldigten neue, verschiedene Pflichtverteidiger bestellen würde?

IV – Würdigung

49.

Bevor ich eine Umformulierung der Vorlagefragen vorschlage, möchte ich folgende zwei Bemerkungen machen.

50.

Um erstens jeden Zweifel auszuräumen, dass das Unionsrecht im Ausgangsverfahren anwendbar ist, weise ich darauf hin, dass nach Art. 325 AEUV die Union und die Mitgliedstaaten Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen bekämpfen ( 9 ).

51.

Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich des SFI-Übereinkommens umfasst insoweit der Tatbestand eines solchen Betrugs im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden. Gemäß Art. 1. Abs. 2 dieses Übereinkommens sind diese Handlungen im innerstaatlichen Recht als Straftaten zu umschreiben.

52.

Nach Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Art. 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können. Außerdem haben nach dem ersten Protokoll zum SFI-Übereinkommen ebenso die Bestechlichkeit sowie die Bestechung ( 10 ) im innerstaatlichen Recht jedes Mitgliedstaats Straftaten zu sein.

53.

Im vorliegenden Fall wird den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens vorgeworfen, Korruptionsstraftaten begangen zu haben, indem sie von den die Außengrenze der Union, nämlich zwischen Bulgarien und der Türkei, überquerenden Fahrern von Lkws und Pkws Bestechungsgelder dafür verlangt haben sollen, dass diese Fahrer keinen Zollprüfungen unterzogen wurden. Gemäß Art. 301 NPK wird diese Straftat mit Freiheitsstrafe von sechs Jahren und mit Geldstrafe in Höhe von5000 BGN (ungefähr 2500 Euro) bestraft. Dieses Verhalten der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens könnte die finanziellen Interessen der Union durch den Entzug eines Teils ihrer Eigenmittel beeinträchtigt haben. Daher besteht kein Zweifel, dass das Unionsrecht im Ausgangsrechtsstreit Anwendung findet.

54.

Zweitens hat das vorlegende Gericht mit Beschluss vom 28. September 2016, der am 25. Oktober 2016 beim Gerichtshof eingereicht wurde, mitgeteilt, dass Herr Hristov, einer der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, am 9. September 2016 verstorben sei, so dass das Strafverfahren gegen ihn eingestellt worden sei. Die Fragen bezüglich der Situation von Herrn Hristov sind daher meines Erachtens für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht mehr relevant.

A –   Vorbemerkungen

55.

Das vorlegende Gericht stellt dem Gerichtshof etwa 20 Fragen und Unterfragen, die meiner Meinung nach in zwei großen Fragenkomplexen geprüft werden können.

56.

Die erste Frage des vorlegenden Gerichts hängt nämlich unmittelbar mit dem Ablauf des Strafverfahrens zusammen, dessen übermäßiger Formalismus seiner Ansicht nach gegen das Unionsrecht verstoßen könnte. Die Einführung des Verfahrens nach den Art. 368 und 369 NPK in Verbindung mit dem strengen Formalismus des Rechts auf Unterrichtung über den Tatvorwurf und der Offenlegung der Verfahrensakte könnten zur Einstellung des Strafverfahrens führen, ohne dass die Personen, die der Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union verdächtigt werden, strafrechtlich verfolgt würden.

57.

Dieser Fragenkomplex veranlasst mich daher erstens zur Prüfung, ob das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften wie den Art. 368 und 369 NPK entgegensteht, die bei Nichteinhaltung einer Ausschlussfrist den nationalen Richter verpflichten, das Strafverfahren zu beenden, und das selbst dann, wenn die Verzögerung auf die absichtliche Behinderung durch die beschuldigte Person zurückzuführen ist. Gegebenenfalls werden die Folgen einer solchen Unvereinbarkeit zu bestimmen sein.

58.

Zweitens möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage Buchst. b wissen, ob Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 einer nationalen Praxis wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die die Übermittlung von Informationen über den Tatvorwurf an die beschuldigte Person nach der Einreichung der Anklageschrift bei Gericht, aber bevor dieses die Prüfung des Tatvorwurfs begonnen hat, vorsieht. Es fragt sich auch, ob Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie der nationalen Praxis entgegensteht, nach der die endgültige Anklageschrift an das zuständige Gericht übermittelt wird, obwohl die Verteidigung, der die Möglichkeit gewährt wurde, Einsicht in die Verfahrensunterlagen zu nehmen, aufgrund beruflicher Verhinderung oder der Erkrankung des Beschuldigten keinen Gebrauch von diesem Recht gemacht hat.

59.

Der andere Fragenkomplex bezieht sich konkret auf die Richtlinie 2013/48. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen entgegensteht, die vorsieht, dass das nationale Gericht den Rechtsbeistand eines Beschuldigten vom Gerichtsverfahren auszuschließen hat, der der Verteidiger eines anderen Beschuldigten ist oder war, wenn der Verteidigungsauftrag eines der Beschuldigten der Verteidigung des anderen widerspricht. Ist, falls dies der Fall sein sollte, Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährleistet ist, soweit dieses Gericht zur Verteidigung dieser Beschuldigten neue Pflichtverteidiger bestellt?

60.

In der folgenden Würdigung werde ich daher diese Fragen nacheinander prüfen.

B –   Zu den Vorlagefragen

1. Zur Vereinbarkeit des in den Art. 368 und 369 NPK vorgesehenen Strafverfahrens mit dem Unionsrecht und zu den Folgen seiner etwaigen Unvereinbarkeit

61.

Mit seiner ersten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht in Wahrheit wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es nationalen Rechtsvorschriften wie den Art. 368 und 369 NPK entgegensteht, die bei Nichteinhaltung einer Ausschlussfrist den nationalen Richter verpflichten, das Strafverfahren selbst dann zu beenden, wenn die Ursache für die Verzögerung auf die absichtliche Behinderung durch die beschuldigte Person zurückzuführen ist.

62.

Eine Ausschlussfrist ist definiert als „eine gesetzlich festgelegte Handlungsfrist, deren Ablauf, anders als die Verjährung, nicht gehemmt oder unterbrochen werden kann“ ( 11 ).

63.

Der dem Gerichtshof vorgelegte verfahrensrechtliche Fall entspricht genau dieser Definition. Der Sachverhalt des vorliegenden Falles zeigt, dass sich daraus eine systembedingte Gefahr der Straffreiheit bei gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten Straftaten ergibt.

64.

Aus den verschiedenen beim Gerichtshof abgegebenen schriftlichen oder mündlichen Erklärungen geht hervor, dass Bulgarien mit dem Erlass dieser Rechtsvorschriften Verfahrensverzögerungen bekämpfen wollte, die den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte veranlasst hatten, diesen Mitgliedstaat mehrmals wegen Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer zu verurteilen ( 12 ).

65.

In der vorliegenden Rechtssache wird die umgekehrte Frage gestellt: führt der Erlass von Ausschlussfristen unter den vom vorlegenden Gericht beschriebenen verfahrensrechtlichen Umständen nicht zur Einführung einer ebenso unangemessen, weil zu kurzen und unveränderlichen, Entscheidungsfrist, die zur Straffreiheit führt?

66.

Die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer wird nämlich traditionell im Rahmen der Wahrung der Verteidigungsrechte im Fall einer unangemessenen, weil zu langen, Frist geltend gemacht. Im vorliegenden Fall handelt es sich vielmehr um ihre Prüfung im Rahmen einer nicht angemessenen, zu kurzen Frist, die nicht erlaubt, die begangenen Taten mit der normalen für sie vorgesehenen Sanktion zu belegen.

67.

Wie ich in den Nrn. 50 bis 53 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt habe, befinden wir uns im Anwendungsbereich des Unionsrechts und die hier gestellte Frage betrifft tatsächlich die Wirksamkeit dieses Rechts und insbesondere des Primärrechts.

68.

Daher ist legitimer Weise die Frage zu stellen, ob die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften an diese Verpflichtung angepasst sind, die sich aus den Verträgen ergibt und die Mitgliedstaaten verpflichtet, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu bekämpfen. Ferner haben sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen diese Interessen richtet, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet ( 13 ).

69.

Der Gerichtshof hat das nationale Recht unter diesem Blickwinkel zu würdigen, da in der ihm vorgelegten Fallgestaltung, bei der zumal sowohl im Rahmen des nationalen Rechts als auch in dem des Unionsrechts dieselben Bestimmungen anwendbar sind, der Grundsatz der Äquivalenz in vollem Umfang erfüllt ist und sich aus dieser Äquivalenz die Unwirksamkeit ergibt.

70.

Sämtliche Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sind ihrer Natur nach komplexe und daher schwer nachweisbare Straftaten. Selbst wenn die Umstände des Ausgangsverfahrens relativ einfach erscheinen, werden jedoch mehrere Mittäter oder Komplizen beschuldigt, was immer Schwierigkeiten bereitet und wiederholte Vernehmungen und Gegenüberstellungen erfordert.

71.

Außerdem wäre es unverständlich, wenn die Untersuchungen nicht darauf abzielten, den Umfang der Machenschaften hinsichtlich ihrer Dauer und des mit ihnen erzielten Gewinns nachzuweisen. Die Untersuchung einer anschließenden Geldwäsche hinsichtlich des unterschlagenen Betrags erscheint ebenso notwendig, da die Beschlagnahme der mit dem Gewinn aus dem Delikt erworbenen Güter im Allgemeinen das einzige Mittel ist, den entstandenen Schaden abzumildern.

72.

In einer derartigen Rechtssache steht fest, dass die Fristen für die Ermittlung offenkundig unzureichend sind. Die Grundfrist beträgt nämlich zwei Monate mit möglichen Verlängerungen, aber innerhalb von höchstens zwei Jahren als äußerster Frist.

73.

Wie wäre es also vorstellbar, dass z. B. eine Untersuchung in einer Sache betreffend einen Mehrwertsteuer-Karussellbetrug erfolgreich sein kann, bei der es um Scheingesellschaften in mehreren Ländern geht, und die technische Untersuchungen, wie Buchführungsgutachten und den Einsatz von Maßnahmen der internationalen justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit, erfordert?

74.

Rechnet man dem hinzu, dass die auf der Hand liegende Bösgläubigkeit der beschuldigten Personen und die Behinderung durch die Rechtsbeistände – die das vorlegende Gericht als absichtlich beschreibt – genügen, um das Verfahren vollständig zu blockieren und den Anklageverbrauch bewirken, denke ich, dass der systembedingte Charakter der festgestellten Machtlosigkeit ohne Weiteres nachgewiesen ist. Dies gilt umso mehr, als die Beschreibung der verschiedenen Etappen dieses Verfahrens durch das vorlegende Gericht zeigt, dass es keine Mittel gibt, sich diesen zwingenden Fristen zu entziehen, und dass dessen insoweit unternommener Versuch zu einem raschen und vom Berufungsgericht sanktionierten Scheitern führte ( 14 ).

75.

Es gibt daher keine andere Lösung als die Schlussfolgerung, dass es für das vorlegende Gericht erforderlich ist, die Bestimmungen des nationalen Gesetzes, die zu dieser Situation führen, nicht anzuwenden, da eine unionsrechtskonforme Auslegung, wie dieses Gericht selbst anerkennt, hier nicht möglich ist.

76.

Diese Lösung gebietet im Übrigen ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, nämlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

77.

Als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts kommt er heute in Art. 5 Abs. 1 und 4 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon zum Ausdruck.

78.

Art. 5 Abs. 1 EUV verleiht ihm zusammen mit dem Subsidiaritätsprinzip die wesentliche Rolle, die Ausübung der Zuständigkeiten der Union zu regeln, deren Abgrenzung nach dieser Bestimmung gemäß dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt.

79.

Die Tätigkeit der Union erfolgt nur innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeiten zur Erreichung der von den Verträgen festgelegten Ziele.

80.

Nach Art. 5 Abs. 4 EUV hat diese Tätigkeit unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu geschehen, der vorschreibt, dass diese Tätigkeit inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der fraglichen Ziele erforderliche Maß hinausgeht.

81.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll jedoch die Tätigkeit der Union nicht schwächen oder lähmen, auch wenn er meist geltend gemacht wird, um der Anwendung einer Regelung oder eines Instruments der Union zu entgehen, die bzw. das als Verletzung des nationalen Rechts angesehen wird.

82.

Dieser Grundsatz verbietet zwar, bei der Tätigkeit über das zur Erreichung der durch die Union übertragenen Ziele erforderliche Maß hinauszugehen, aber er kann nicht verhindern, dass innerhalb dieser Grenze alles Erforderliche getan wird.

83.

So räumt beispielhaft der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen ( 15 ) dem Vollstreckungsstaat zwar die Möglichkeit ein, die beantragte Maßnahme durch eine andere Maßnahme aus seinem nationalen Recht zu ersetzen, die weniger einschneidend ist, aber unter der Voraussetzung, dass die fragliche nationale Maßnahme in gleicher Weise wirksam ist.

84.

Dieser Vergleich verlangt meines Erachtens eine weitere Bemerkung: es geht hier darum, dass die Mitgliedstaaten im gesamten Unionsgebiet im Rahmen der Verordnung Nr. 450/2008 und im Gebiet der Mitgliedstaaten, die das SFI-Übereinkommen unterzeichnet haben, eine einheitliche Bekämpfung der Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, sicherstellen.

85.

Diese Bestimmungen – und in erster Linie die Verordnung Nr. 450/2008 – schreiben den betreffenden Mitgliedstaaten vor, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Strafen vorzusehen. Folglich kann die Wirksamkeitsverpflichtung nicht erfüllt werden, wenn Verfahrensvorschriften in Wahrheit die Anwendung dieser Strafen verhinderten.

86.

Wie ich bereits dargestellt habe, ist die fragliche nationale Bestimmung aufgrund ihres Ausschlusscharakters dem mit den anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts verfolgten Ziel offensichtlich nicht angepasst. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz bietet die Rechtfertigung sowie erforderlichenfalls eine Rechtsgrundlage für die Entscheidung, die fraglichen nationalen Bestimmungen nicht anzuwenden ( 16 ), und gibt zugleich auch an, wodurch sie zu ersetzen sind.

87.

Daraus kann sich nämlich kein überschießendes Ergebnis im entgegengesetzten Sinn ergeben. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wird, auch eine Grundfreiheit, die hier unter diesem ergänzenden Gesichtspunkt anzuwenden ist.

88.

Das nationale Gericht ist also durch das Erfordernis gebunden, die Regeln der angemessenen Frist zu beachten, die im Übrigen nur eine der zahlreichen Ausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist, aber diesmal in der konkreten Dimension einer Verfahrenshandlung.

89.

Die Angemessenheit der Entscheidungsfrist ist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, etwa ihrer Komplexität und des Verhaltens der Parteien, zu beurteilen ( 17 ). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch wiederholt entschieden, dass „die Angemessenheit der Dauer eines Strafverfahrens nach den Umständen der Sache und im Hinblick auf die in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere die Komplexität der Rechtssache und das Verhalten des Klägers und das der zuständigen Behörden, zu beurteilen ist“ ( 18 ).

90.

Bei Fehlen einer Ausschlussfrist, das sich aus der Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen nationalen Regelung ergibt, hat der nationale Richter daher sicherzustellen, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt wurde. Wie ich bereits ausgeführt habe, hat er die Angemessenheit anhand der Umstände der Rechtssache, etwa ihrer Komplexität und des Verhaltens der Parteien und der Justizbehörden, zu prüfen.

91.

Insoweit ist zur Komplexität des Ausgangsverfahrens meines Erachtens zu berücksichtigen, dass die Ermittlung acht Beschuldigte betrifft, die der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung beschuldigt werden, wobei die Vorgänge, die die Straftat begründen, etwas mehr als ein Jahr dauerten. Die Ermittlungsorgane müssen daher über ausreichend Zeit für das Sammeln der erforderlichen Beweise, der Zeugenaussagen oder aller anderen sachdienlichen Hinweise verfügen können. Außerdem kann auch das Verhalten der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens ein Umstand sein, der für eine zusätzliche Frist spricht, da kein Zweifel besteht, dass diese absichtlich dazu beigetragen haben, dass der Staatsanwalt seinen Verpflichtungen im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, insbesondere der Offenlegung der Anklageschrift und der Ermittlungsakte, nicht nachkommen konnte.

92.

Zudem könnte eine übermäßig kurze Frist für die Untersuchung zur Folge haben, die Erhebung vor allem auf die belastenden Beweismittel und weniger auf mögliche entlastende oder solche Beweismittel auszurichten, die geeignet sind, durch die Erhellung der Beweggründe oder der Verhaltensweisen die Strenge der Strafe so zu gewichten, dass vermieden wird, dass das Strafmaß außer Verhältnis zur Straftat steht, wie es Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festlegt.

93.

Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 325 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens sowie Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 2 des ersten Protokolls zum SFI-Übereinkommen dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den Art. 368 und 369 NPK entgegenstehen, die bei Nichteinhaltung einer Ausschlussfrist den nationalen Richter verpflichten, das Strafverfahren selbst dann zu beenden, wenn die Ursache für die Verzögerung auf die absichtliche Behinderung durch die beschuldigte Person zurückzuführen ist. Das nationale Gericht ist verpflichtet, dem Unionsrecht volle Wirkung zu verschaffen, indem es erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lässt, die die Wirkung haben, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch diese Bestimmungen auferlegten Verpflichtungen zu hindern.

2. Zum Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf und zum Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte

94.

Im Rahmen der zweiten Frage Buchst. b möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 einer nationalen Praxis wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die die Übermittlung von Informationen über den Tatvorwurf an die beschuldigte Person nach der Einreichung der Anklageschrift bei Gericht, aber bevor dieses die Prüfung des Tatvorwurfs begonnen hat, vorsieht. Es fragt sich auch, ob Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie dieser nationalen Praxis entgegensteht, nach der die endgültige Anklageschrift an das zuständige Gericht übermittelt wird, obwohl die Verteidigung, der die Möglichkeit gewährt wurde, Einsicht in die Verfahrensunterlagen zu nehmen, aufgrund beruflicher Verhinderung oder der Erkrankung des Beschuldigten keinen Gebrauch von diesem Recht gemacht hat.

95.

Diese Frage kann meines Erachtens nur verneint werden. Was würde es nützen, die Ausschlussfrist nicht anzuwenden und dem Staatsanwalt zusätzliche, selbst sehr lange, Fristen zu gewähren, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, sich über die Behinderung durch die Beschuldigten hinwegzusetzen?

96.

Gerade um diese Obstruktion, die die Anrufung des Gerichts verhindern würde, auszugleichen, wurde meiner Ansicht nach – zumindest zu einem Teil – die vom vorlegenden Gericht dargestellte Praxis eingeführt, die insbesondere im Hinblick auf die Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes gut zu heißen ist.

97.

Überdies scheint mir diese Praxis die Wahrung der Verteidigungsrechte, wie sie u. a. in der Richtlinie 2012/13 festgelegt werden, sicherzustellen.

98.

Art. 6 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie geben nicht an, zu welchem Zeitpunkt genau des Verfahrens diese Einzelheiten, nämlich die Information über den Tatvorwurf und die Einsicht in die Verfahrensakte der Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt wird, mitgeteilt werden müssen. In diesen Bestimmungen heißt es nämlich nur, dass „spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird“, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf erteilt und der Zugang zu den Unterlagen „so rechtzeitig gewährt [werden], dass die Verteidigungsrechte wirksam wahrgenommen werden können, spätestens aber bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht“.

99.

Die Anklageschrift soll wie die Einsicht in die Verfahrensakte gerade den Verdächtigen darüber unterrichten, was ihm vorgeworfen wird, und ihm gestatten, seine Verteidigung vorzubereiten und wirksam wahrzunehmen, was Voraussetzungen für ein faires Verfahren sind ( 19 ).

100.

Allerdings ist die französische Fassung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 „Einreichung der Anklageschrift“ in ihrer Bedeutung nicht klar. Streng genommen entscheidet das Gericht nämlich in der Beratung über die Begründetheit des Tatvorwurfs. Diese Bestimmung ist daher so zu verstehen, dass die Offenlegung der Anklagepunkte, der rechtlichen Beurteilung, der belastenden Elemente und der Unterlagen spätestens zu Beginn der Verhandlung vor Gericht erfolgen muss. Diese Auslegung wird nach meinem Eindruck durch die anderen Sprachfassungen dieser Richtlinie gestützt ( 20 ).

101.

Es liegt auf der Hand, dass die Regeln eines fairen Verfahrens nur dann gewahrt sind, wenn mit der Offenlegung eine hinreichende Frist eingeräumt wird, damit die beschuldigte Person eine wirksame Verteidigung vorbereiten kann, was gegebenenfalls erfordert, dass das Verfahren hierfür unterbrochen wird.

102.

Daher weise ich z. B. zur Offenlegung der Verfahrensakte darauf hin, dass diese der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand insbesondere erlaubt, sehr genaue Anträge zu den Beweisen zu stellen oder auch zusätzliche Ermittlungen zu beantragen. Der Zugang zu diesen Unterlagen hat daher zu einem Zeitpunkt zu erfolgen, der es der beschuldigten Person oder ihrem Rechtsbeistand erlaubt, ihre Verteidigung sachdienlich und wirksam vorzubereiten, und dieser Zugang kann jedenfalls nicht während der Phase der Beratung stattfinden. Wenn das Gericht feststellt, dass der Zugang beantragt wurde, dass aber die beschuldigte Person oder ihr Rechtsbeistand aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, von der Verfahrensakte nicht Kenntnis nehmen konnten, denke ich, dass der Richter auch in diesem Fall das Verfahren aussetzen und diesen Zugang gestatten muss, indem er dieser Person und ihrem Rechtsbeistand ausreichend Zeit lässt, um von ihr Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls alle Anträge zu stellen, zu denen sie berechtigt sind.

103.

Nach alledem ist Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 meines Erachtens daher dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, die die Übermittlung von Informationen über den Tatvorwurf an die beschuldigte Person nach der Einreichung der Anklageschrift bei Gericht vorsieht, soweit der Ablauf des Verfahrens während der Verhandlung es der beschuldigten Person erlaubt, zu erfahren und nachzuvollziehen, was ihr vorgeworfen wird, und ihr eine angemessene Frist einräumt, um die ihr zur Last gelegten Umstände zu erörtern.

104.

Außerdem bin ich der Meinung, dass Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der die Einsicht in die Verfahrensakte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor der Erstellung der endgültigen Anklageschrift auf Antrag der Parteien erfolgt. Die Antwort gibt hier eine einfache praktische Erwägung vor. Eine andere Lösung würde voraussetzen, dass die Verfahrensakte an den Beschuldigten oder seinen Rechtsbeistand übermittelt wird, was mit der Gefahr des Verlustes oder der Zerstörung verbunden wäre. Überdies können, da es um die Verfahrensakte geht, die in ihr enthaltenen Schriftstücke sehr umfangreich sein und bei dieser Art von Strafsache z. B. die Beschlagnahme von Buchhaltungsunterlagen umfassen.

105.

Es ist jedoch insoweit wichtig, dass der nationale Richter sicherstellt, dass die beschuldigte Person oder ihr Rechtsbeistand einen effektiven Zugang zu diesen Unterlagen haben können, damit sie die Verteidigung dieser Person wirksam vorbereiten können.

3. Zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand

106.

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die vorsieht, dass das nationale Gericht den Rechtsbeistand eines Beschuldigten vom Gerichtsverfahren auszuschließen hat, der der Verteidiger eines anderen Beschuldigten ist oder war, wenn der Verteidigungsauftrag eines der Beschuldigten der Verteidigung des anderen widerspricht, und die vorsieht, dass dieses Gericht zur Vertretung dieser Beschuldigten neue Pflichtverteidiger bestellen muss.

107.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 15 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet waren, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, die erforderlich waren, um dieser Richtlinie bis zum 27. November 2016 nachzukommen. Zum Zeitpunkt des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts war diese Frist daher noch nicht abgelaufen. Allerdings ist eine Rechtsnorm zwar nicht auf unter dem alten Recht entstandene und endgültig erworbene Rechtspositionen anwendbar, findet jedoch auf deren künftige Wirkungen sowie auf neue Rechtspositionen Anwendung ( 21 ). Außerdem enthält die Richtlinie 2013/48 keine besondere Vorschrift, die speziell ihre zeitlichen Anwendungsvoraussetzungen regelt. Daraus ergibt sich, dass diese Richtlinie meines Erachtens auf die Situation der Beschuldigten des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.

108.

Ich erinnere daran, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 „[d]ie Mitgliedstaaten … sicher[stellen], dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können“. Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ist daher ein vorrangiges Element des Rechts auf ein faires Verfahren ( 22 ).

109.

Mit der Richtlinie 2013/48 sollen in Wahrheit nur Mindestvorschriften für das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren festgelegt werden ( 23 ). Da sie nichts zu der Möglichkeit eines Gerichts sagt, den Rechtsbeistand, der im Rahmen ein und derselben Sache Mandanten mit widerstreitenden Interessen vertritt, vom Strafverfahren auszuschließen, ist es ganz einfach das Grundrecht jedes Einzelnen auf eine objektive Verteidigung ohne Zugeständnisse oder Unklarheiten in Bezug auf ihre Interessen, das hier die Antwort gibt.

110.

Die Offenkundigkeit dieses Grundsatzes erklärt, dass es nicht einmal erforderlich ist, ihn ausdrücklich vorzusehen. Im vorliegenden Fall denke ich, dass gerade die nationale Regelung, die es gestattet, den Rechtsbeistand, der im Rahmen ein und derselben Sache Beschuldigte mit widerstreitenden Interessen vertritt, vom Strafverfahren auszuschließen, geeignet ist, dieses Recht zu gewährleisten, da meines Erachtens ein und derselbe Rechtsbeistand zwei Beschuldigte mit unterschiedlichen Interessen kaum vollständig und wirksam verteidigen könnte, schon gar nicht, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Aussagen eines der Beschuldigten den anderen in ein zweifelhaftes Licht rücken. In Wahrheit liefe das darauf hinaus, einem der Beschuldigten, wenn nicht beiden, das Grundrecht, von einem Rechtsbeistand vertreten zu werden, schlicht und einfach zu nehmen und ihnen die konkrete und wirksame Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte zu entziehen ( 24 ).

111.

Auch die Bestellung eines Rechtsbeistands von Amts wegen, wenn das Gericht den sich in einem Interessenkonflikt befindenden Rechtsbeistand ausschließt, halte ich für geeignet, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wie weiter oben beschrieben, zu gewährleisten.

112.

Das nationale Gericht hat jedoch dafür zu sorgen, dass der von Amts wegen bestellte Rechtsbeistand über ausreichend Zeit verfügen kann, um von der Akte Kenntnis zu nehmen und seinen Mandanten wirksam zu verteidigen. Hierzu hat es erforderlichenfalls das Verfahren auszusetzen, damit der von Amts wegen bestellte Rechtsbeistand gegebenenfalls alle Verfahrenshandlungen beantragen kann – wie die Einsichtgewährung in die Ermittlungsakte oder auch ein Sachverständigengutachten –, wobei dieser Antrag zur bestmöglichen Vorbereitung der Verteidigung des Mandanten vom nationalen Recht ausdrücklich vorgesehen ist.

113.

Nach alledem bin ich der Meinung, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen nicht entgegensteht, nach der dass das nationale Gericht den Rechtsbeistand eines Beschuldigten, der der Verteidiger eines anderen Beschuldigten ist oder war, vom Gerichtsverfahren auszuschließen hat, wenn der Verteidigungsauftrag eines der Beschuldigten der Verteidigung des anderen widerspricht und dieses Gericht zur Vertretung dieser Beschuldigten neue Pflichtverteidiger bestellen muss.

V – Ergebnis

114.

Aufgrund dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Spetsializiran nakazatelen sad (Sonderstrafgericht, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

1.

Art. 325 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 2 des Protokolls aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den Art. 368 und 369 NPK entgegenstehen, die bei Nichteinhaltung einer Ausschlussfrist den nationalen Richter verpflichten, das Strafverfahren zu beenden, und das selbst dann, wenn die Ursache für die Verzögerung auf die absichtliche Behinderung durch die beschuldigte Person zurückzuführen ist. Das nationale Gericht ist verpflichtet, dem Unionsrecht volle Wirkung zu verschaffen, indem es erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts, die die Wirkung haben, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch diese Bestimmungen auferlegten Verpflichtungen zu hindern, unangewendet lässt.

2.

Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, die die Übermittlung von Informationen über den Tatvorwurf an die beschuldigte Person nach der Einreichung der Anklageschrift bei Gericht vorsieht, soweit der Ablauf des Verfahrens während der Verhandlung es der beschuldigten Person erlaubt, zu erfahren und nachzuvollziehen, was ihr vorgeworfen wird, und ihr eine angemessene Frist einräumt, um die ihr zur Last gelegten Umstände zu erörtern.

3.

Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der der Zugang zur Verfahrensakte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor der Erstellung der endgültigen Anklageschrift auf Antrag der Parteien erfolgt. Es ist jedoch insoweit von Bedeutung, dass der nationale Richter sicherstellt, dass die beschuldigte Person oder ihr Rechtsbeistand einen effektiven Zugang zu diesen Unterlagen haben können, damit sie die Verteidigung dieser Person wirksam vorbereiten können.

4.

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, nach der das nationale Gericht den Rechtsbeistand eines Beschuldigten, der der Verteidiger eines anderen Beschuldigten ist oder war, vom Gerichtsverfahren auszuschließen hat, wenn der Verteidigungsauftrag eines der Beschuldigten der Verteidigung des anderen widerspricht und dieses Gericht zur Vertretung dieser Beschuldigten neue Pflichtverteidiger bestellen muss.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2008, L 145, S. 1.

( 3 ) ABl. 1995, C 316, S. 49, im Folgenden: SFI-Übereinkommen.

( 4 ) Abs. 5 dieser Präambel.

( 5 ) Abs. 6 dieser Präambel.

( 6 ) ABl. 1996, C 313, S. 2; im Folgenden: erstes Protokoll zum SFI-Übereinkommen.

( 7 ) ABl. 2012, L 142, S. 1.

( 8 ) ABl. 2013, L 294, S. 1.

( 9 ) Vgl. Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EUC:2015:555, Rn. 37).

( 10 ) Für eine Definition dieser beiden Begriffe verweise ich auf die Nrn. 8 und 9 der vorliegenden Schlussanträge.

( 11 ) Vgl. Cornu, G., Vocabulaire juridique, Presses universitaires de France, Paris, 2011.

( 12 ) Vgl. u. a. EGMR, 10. Mai 2011, Dimitrov und Hamanov/Bulgarien (CE:ECHR:2011:0510JUD004805906), sowie Rn. 34.1 und 37 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 13 ) Vgl. Art. 325 AEUV und Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 37).

( 14 ) Vgl. Nrn. 44 und 46 der vorliegenden Schlussanträge.

( 15 ) ABl. 2014, L 130, S. 1.

( 16 ) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das vorlegende Gericht gehalten, die unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmungen aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmungen auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 17 ) Vgl. Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission (C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 181).

( 18 ) Vgl. EGMR, 24. Juli 2012, D.M.T. und D.K.I./Bulgarien (CE:ECHR:2012:0724JUD002947606, § 93).

( 19 ) Vgl. Erwägungsgründe 27 und 28 dieser Richtlinie.

( 20 ) In italienischer Sprache beispielsweise hat diese Bestimmung folgenden Wortlaut: „Gli Stati membri garantiscono che, al più tardi al momento in cui il merito dell’accusa è sottoposto all’esame di un’autorità giudiziaria, siano fornite informazioni dettagliate sull’accusa, inclusa la natura e la qualificazione giuridica del reato, nonché la natura della partecipazione allo stesso dell’accusato“. In englischer Sprache lautet sie: „Member States shall ensure that, at the latest on submission of the merits of the accusation to a court, detailed information is provided on the accusation, including the nature and legal classification of the criminal offence, as well as the nature of participation by the accused person“.

( 21 ) Vgl. Urteil vom 7. November 2013, Gemeinde Altrip u. a. (C‑72/12, EU:C:2013:712, Rn. 22).

( 22 ) Vgl. zwölfter Erwägungsgrund dieser Richtlinie.

( 23 ) Vgl. Art. 1 dieser Richtlinie.

( 24 ) Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48. Vgl. auch deren Art. 1.