SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 8. März 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑569/15

X

gegen

Staatssecretaris van Financiën

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Oberster Gerichtshof der Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Soziale Sicherheit – Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften – Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist – Arbeitnehmer, der während eines dreimonatigen unbezahlten Urlaubs in einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung ausübt“

Einleitung

1.

Dieses Vorabentscheidungsersuchen ergeht in einem Rechtsstreit vor dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) zwischen Frau X und dem Staatssecretaris van Financiën (Finanzministerium) wegen Zahlung von Einkommensteuer und Sozialversicherungsbeiträgen für das Jahr 2009.

2.

Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Auslegung der Kollisionsnormen in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 2 ). Konkret möchte es wissen, ob ein Arbeitnehmer, der während seines unbezahlten Urlaubs in einem anderen Mitgliedstaat eine dreimonatige abhängige Beschäftigung ausübt, für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften als eine Person anzusehen ist, die gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist.

Rechtlicher Rahmen

3.

Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 enthält die folgenden Definitionen der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Selbständiger“:

„a)

‚Arbeitnehmer‘ oder ‚Selbständiger‘: jede Person,

i)

die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist“.

4.

Art. 13 diese Verordnung lautet:

„(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat“.

5.

Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung lautet:

„2.   Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften:

b)

eine Person, die nicht unter Buchstabe a) fällt, unterliegt:

i)

den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben“.

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

6.

Frau X besitzt die niederländische Staatsangehörigkeit, hat ihren Wohnsitz in den Niederlanden und ist dort abhängig beschäftigt.

7.

Mit ihrem niederländischen Arbeitgeber kam sie in einer gesonderten Vereinbarung überein, dass sie vom 1. Dezember 2008 bis zum 28. Februar 2009 unbezahlten Urlaub erhalten sollte. Es wurde vereinbart, dass der Arbeitsvertrag fortbestehen und sie am 1. März 2009 an ihren regulären Arbeitsplatz zurückkehren sollte.

8.

Während ihres unbezahlten Urlaubs hielt sie sich in Österreich auf und war bei einem in Österreich ansässigen Arbeitgeber als Skilehrerin beschäftigt. In diesen Monaten übte sie in den Niederlanden keine Tätigkeit aus.

9.

Die Streitigkeit zwischen Frau X und dem Staatssecretaris van Financiën im Ausgangsverfahren betrifft die Zahlung von Einkommensteuer und Sozialversicherungsbeiträgen für das Jahr 2009. Insbesondere geht es um die Frage, ob Frau X im Januar und Februar 2009 im Rahmen des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit pflichtversichert war und daher Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen hatte.

10.

Der Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden (Berufungsgericht Arnhem-Leeuwarden, Niederlande) entschied in dem Berufungsverfahren gegen das Urteil der Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland), dass das Beschäftigungsverhältnis zwischen Frau X und dem niederländischen Arbeitgeber während des unbezahlten Urlaubs fortbestanden habe und dass die niederländischen Rechtsvorschriften auch während der betreffenden zwei Monate anwendbar gewesen seien.

11.

Gegen dieses Urteil hat Frau X bei dem vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde eingelegt.

12.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist zu klären, nach welcher Vorschrift der Verordnung Nr. 1408/71 sich die für die Monate Januar und Februar 2009 anwendbaren Rechtsvorschriften bestimmen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann dies entweder die allgemeine Kollisionsnorm des Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung sein oder die Sonderregelung in deren Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i, die Personen betrifft, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt sind. Da Frau X während der betreffenden Monate tatsächlich ausschließlich in Österreich beschäftigt gewesen sei, ließe sich die Auffassung vertreten, dass nur die österreichischen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar seien. Es ließe sich aber auch die Ansicht vertreten, dass sie gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten, den Niederlanden und Österreich, abhängig beschäftigt gewesen sei, wie das Berufungsgericht entschieden habe. In diesem Fall wären gemäß Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie Nr. 1408/71 die niederländischen Rechtsvorschriften anwendbar.

13.

Das vorlegende Gericht hat folglich Zweifel, ob die Niederlande als der Mitgliedstaat anzusehen seien, in dem Frau X während ihres unbezahlten Urlaubs in Verbindung mit ihrer abhängigen Beschäftigung in Österreich gewöhnlich abhängig beschäftigt gewesen sei. Während dieses Zeitraums sei sie nach nationalem Recht bei dem niederländischen Arbeitgeber beschäftigt gewesen, obwohl sie unbezahlten Urlaub gehabt und tatsächlich keine Tätigkeit in den Niederlanden ausgeübt habe. Es stelle sich aber die Frage, ob Frau X im Sinne des Art. 14 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 als „gewöhnlich“ in zwei Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt anzusehen sei. Dabei ergebe sich die weitere Frage, ob auf den Ort der Beschäftigung über einen längeren Zeitraum, wie etwa während eines Jahres, abzustellen sei. Dies würde allerdings, so das vorlegende Gericht, eine häufige Überprüfung der Versicherungssituation und möglicherweise auch häufige Wechsel der anwendbaren Rechtsvorschriften mit den damit für die betreffende Person verbundenen administrativen Belastungen zur Folge haben.

Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass ein in den Niederlanden wohnhafter Arbeitnehmer, der seine Tätigkeit normalerweise in den Niederlanden ausführt und für drei Monate unbezahlten Urlaub nimmt, so angesehen wird, als sei er während dieses Zeitraums (auch) weiterhin in den Niederlanden abhängig beschäftigt, wenn i) das Arbeitsverhältnis während des genannten Zeitraums fortbesteht und ii) der erwähnte Zeitraum für die Zwecke des niederländischen Arbeitslosigkeitsgesetzes als Zeitraum gilt, in dem einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgegangen wird?

2.a)

Welche Rechtsvorschriften werden von der Verordnung Nr. 1408/71 als anwendbar bezeichnet, wenn dieser Arbeitnehmer während des unbezahlten Urlaubs in einem anderen Mitgliedstaat abhängig beschäftigt ist?

2.b)

Ist es in diesem Zusammenhang noch von Belang, dass die betreffende Person im folgenden Jahr zweimal und in den darauffolgenden drei Jahren jeweils einmal für einen Zeitraum von etwa ein bis zwei Wochen in besagtem anderen Mitgliedstaat abhängig beschäftigt gewesen ist, ohne dass in den Niederlanden unbezahlter Urlaub genommen wurde?

15.

Die Vorlageentscheidung vom 30. Oktober 2015 ist am 5. November 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Die niederländische und die tschechische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die niederländische Regierung und die Kommission haben in der Sitzung vom 14. Dezember 2016 mündliche Ausführungen gemacht.

Analyse

16.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat (den Niederlanden) wohnt und dort abhängig beschäftigt ist und die für die Dauer von drei Monaten unbezahlten Urlaub nimmt, um in einem anderen Mitgliedstaat (Österreich) einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften als eine Person anzusehen ist, die während dieses Zeitraums gewöhnlich in zwei Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist.

17.

Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Rechtsvorschriften aufgrund der Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 auf eine solche Person anzuwenden sind.

18.

Beide Fragen sind meines Erachtens miteinander verknüpft. Wird die erste Frage bejaht und Frau X als in zwei Mitgliedstaaten gewöhnlich abhängig beschäftigt angesehen, gelten für sie nach der Kollisionsnorm des Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, also die der Niederlande. Wenn dagegen Frau X während ihres unbezahlten Urlaubs nicht als in den Niederlanden abhängig beschäftigt anzusehen wäre, würden für sie während der betreffenden Monate die österreichischen Rechtsvorschriften gelten.

19.

Es stellt sich die Frage, ob die Lage, in der sich Frau X während ihres unbezahlten Urlaubs im Verhältnis zu ihrem niederländischen Arbeitgeber befunden hat, im Sinne der Kollisionsnormen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 als Zeitraum einer (gewöhnlichen) abhängigen Beschäftigung anzusehen ist.

20.

Hierzu gehen die dem Gerichtshof von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Ansichten auseinander.

21.

Die niederländische Regierung und die Kommission sind, wenn auch mit leicht voneinander abweichenden Begründungen, der Ansicht, dass Frau X während ihres unbezahlten Urlaubs weiterhin in den Niederlanden abhängig beschäftigt gewesen sei. Die niederländische Regierung verweist dazu auf die Tatsache, dass ihr Beschäftigungsvertrag während dieses Zeitraums fortbestand und dass sie weiter als Arbeitnehmerin gemäß dem niederländischen Recht der sozialen Sicherheit versichert war. Diese Möglichkeit besteht nach den niederländischen Rechtsvorschriften bei unbezahltem Urlaub für einen Zeitraum von bis zu 78 Wochen.

22.

Die Kommission meint, dass das bloße Ruhen eines Beschäftigungsverhältnisses während eines begrenzten Zeitraums nicht dazu führen könne, dass die betreffende Person ihre Rechtsstellung als „abhängig beschäftigte Person“ verliere. Entscheidend sei, dass sie trotz des Ruhens im Rahmen eines in Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführten Systems der sozialen Sicherheit gegen Risiken versichert bleibe ( 3 ).

23.

Die tschechische Regierung vertritt die gegenteilige Ansicht und meint, dass ein unbezahlter Urlaub, während dessen die betreffende Person keinerlei Tätigkeit für ihren niederländischen Arbeitgeber ausübe und auch keinerlei Bezahlung erhalte, nicht als eine Beschäftigungszeit im Sinne der Kollisionsnormen zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften angesehen werden könne. Das gelte auch dann, wenn eine solche Zeit nach den nationalen Rechtsvorschriften als Beschäftigungszeit einzustufen sei.

24.

Ich weise darauf hin, dass die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, zu denen die Art. 13 und 14 gehören, ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden, das bezweckt, Arbeitnehmer, die innerhalb der Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden ( 4 ).

25.

In dieser Rechtssache ist zu entscheiden, ob für den in Rede stehenden Sachverhalt die allgemeine Kollisionsnorm des Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 (lex loci laboris) gilt oder aber die spezielle Kollisionsnorm des Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i (lex domicilii), die auf eine Person Anwendung findet, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist.

26.

Hierfür ist zu prüfen, ob Frau X im Sinne der letzteren Bestimmung gewöhnlich sowohl in Österreich als auch in den Niederlanden abhängig beschäftigt war.

27.

Was erstens ihre Tätigkeit in Österreich betrifft, sehe ich keine sachlichen Gründe, die der Berücksichtigung dieser Tätigkeit bei der Entscheidung, ob sie gewöhnlich in zwei Mitgliedstaaten beschäftigt war, entgegenstehen könnten. Insbesondere kann, wie die Kommission zu Recht bemerkt, eine Beschäftigung, die drei aufeinanderfolgende Monate andauert, keinesfalls als eine völlig marginale Tätigkeit angesehen werden, die für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften unberücksichtigt bleiben müsste. Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass Frau X während des dreimonatigen unbezahlten Urlaubs tatsächlich eine Erwerbstätigkeit ausschließlich in Österreich ausgeübt hat. Diese Tätigkeit kann bei der Anwendung der Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 1408/71 offenkundig nicht außer Betracht gelassen werden.

28.

Weniger klar ist zweitens, ob Frau X für die Zeit ihres unbezahlten Urlaubs im Rechtssinn weiterhin als in den Niederlanden abhängig beschäftigte Person anzusehen ist, obwohl sie tatsächlich in dieser Zeit in diesem Mitgliedstaat keinerlei Tätigkeit ausgeübt hat.

29.

Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 der Verordnung, der deren persönlichen Anwendungsbereich bestimmt, die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Selbständiger“ in erster Linie definiert als „jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines [einschlägigen Systems der sozialen Sicherheit] erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist“.

30.

Eine Person besitzt die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71, sofern sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses pflichtversichert oder freiwillig versichert ist ( 5 ).

31.

Im Urteil Dodl und Oberhollenzer ( 6 ) hat der Gerichtshof festgestellt, „dass es nicht das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ist, das bestimmt, ob eine Person weiterhin in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, sondern der Umstand, dass sie gegen Risiken im Rahmen eines in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung aufgeführten Systems der sozialen Sicherheit versichert ist. Daraus folgt, dass das bloße Ruhen der Hauptverpflichtungen aus einem Arbeitsverhältnis während eines bestimmten Zeitraums dem Beschäftigten nicht seine Eigenschaft als ‚Arbeitnehmer‘ nehmen kann.“ ( 7 )

32.

Meines Erachtens hat diese Rechtsprechung, worauf auch die Kommission hinweist, Bedeutung für den vorliegenden Fall.

33.

Gewiss genügt der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Systems der sozialen Sicherheit versichert ist, für sich allein noch nicht für die Annahme, dass diese Person gewöhnlich eine Tätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats ausübt. Der Wortlaut des Art. 14 Nr. 2 setzt auch ein Beschäftigungsverhältnis voraus ( 8 ). Um im vorliegenden Fall feststellen zu können, ob Frau X ihre Tätigkeit in den Niederlanden während ihres unbezahlten Urlaubs beibehalten hat, während sie gleichzeitig eine separate Tätigkeit in Österreich ausgeübt hat, ist daher erstens zu berücksichtigen, ob ihr Beschäftigungsverhältnis fortbestand, z. B. ihre Arbeitsverpflichtung aus dem Beschäftigungsverhältnis nur vorübergehend ruhte, und zweitens, ob sie ihre Eigenschaft als Arbeitnehmerin in den Niederlanden im Sinne des Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 beibehalten hat.

34.

Was den ersten Gesichtspunkt betrifft, ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das Beschäftigungsverhältnis zwischen Frau X und dem niederländischen Arbeitgeber sowohl tatsächlich als auch nach niederländischem Recht, dem für dieses Beschäftigungsverhältnis maßgebenden Recht, fortbestand. Was den zweiten Gesichtspunkt betrifft, behielt Frau X dadurch, dass sie während der betreffenden Zeit einem Zweig des Systems der sozialen Sicherheit der Niederlande angehörte, auch in den Niederlanden ihren Status als „abhängig beschäftigte Person“ im Sinne des Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 bei, und zwar unabhängig davon, ob sie in diesem begrenzten Zeitraum irgendeiner Erwerbstätigkeit nachging. Daraus folgt, dass Frau X trotz des für eine bestimmte Zeit eingetretenen Ruhens ihres Beschäftigungsverhältnisses in einem dieser Mitgliedstaaten als gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt im Sinne des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

35.

Für das vorlegende Gericht ergeben sich die Zweifel im vorliegenden Fall daraus, dass Frau X ein unbezahlter Urlaub gewährt wurde, also ein Sonderurlaub, der sich insofern von Arbeitsunterbrechungen wie beschränkter Arbeitszeit oder ordentlichem Urlaub unterscheidet, als sich die vorübergehende Nichterbringung der Arbeitsleistung nicht unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag ergibt, sondern aus einer besonderen Vereinbarung, wie sie nach dem niederländischen Arbeitsrecht möglich ist. Die Lage ist aber meines Erachtens, sofern die Sondervereinbarung befristet und die Person in den Niederlanden sozialversichert bleibt, mit anderen, typischeren Beispielen für die gleichzeitige Ausübung zweier Tätigkeiten in zwei Mitgliedstaaten vergleichbar, wie beispielsweise während Zeiten bezahlten Urlaubs oder an Wochenenden ( 9 ). Hätte Frau X bezahlten Urlaub genommen, um während dieser Zeit ihre weitere Tätigkeit als Skilehrerin in Österreich auszuüben, wäre dies sicherlich als Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten anzusehen. Meines Erachtens ist beim vorliegenden Sachverhalt, in dem sich Frau X in unbezahltem Urlaub befand, ihr Beschäftigungsverhältnis aber nur für eine bestimmte Zeit ruhte und sie weiterhin im Rahmen des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit versichert war, dasselbe Ergebnis geboten.

36.

Die vorgeschlagene Auslegung steht meiner Ansicht nach im Einklang mit den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, die die Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Dienstleistungen erleichtern und so die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung unter Vermeidung administrativer Schwierigkeiten insbesondere für Arbeitnehmer und Unternehmen fördern sollen ( 10 ).

37.

Bei Anwendung der allgemeinen Kollisionsnorm (lex loci laboris) würden für Frau X die niederländischen Rechtsvorschriften gelten mit Ausnahme eines Monats im Jahr 2008 und zweier Monate im Jahr 2009, in denen für sie die österreichischen Rechtsvorschriften gelten würden. Ein solches Ergebnis wäre meiner Ansicht nach mit Sinn und Zweck der Kollisionsnormen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 unvereinbar.

38.

Häufige Wechsel der anwendbaren Rechtsvorschriften führen zu zusätzlichen administrativen Belastungen. Wenngleich sich hier Frau X, dafür entschieden hat, die Anwendbarkeit der niederländischen Rechtsvorschriften in Frage zu stellen, dürfte es aber in Anbetracht des damit verbundenen administrativen Mehraufwands in den meisten Fällen den Interessen eines Wanderarbeitnehmers besser entsprechen, dass für ihn weiterhin die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats gelten. Diese Sicht wird auch von der niederländischen Regierung und der Kommission nachdrücklich befürwortet.

39.

Schließlich möchte ich nur ergänzend noch darauf hinweisen, dass diese Auslegung auch im Einklang steht mit der Definition einer Person, die „gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt“, die in die Verordnung Nr. 883/2004 eingefügt wurde und die, obwohl sie in zeitlicher Hinsicht auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar ist, insoweit aufschlussreich ist, als sie die bestehende Praxis konsolidieren soll. Gemeint ist danach eine Person „die gleichzeitig oder abwechselnd für dasselbe Unternehmen oder denselben Arbeitgeber oder für verschiedene Unternehmen oder Arbeitgeber eine oder mehrere gesonderte Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt“ ( 11 ).

40.

Aus allen diesen Gründen bin ich daher der Ansicht, dass Frau X, da der unbezahlte Urlaub lediglich ein Ruhen der Erfüllung des Arbeitsvertrags für eine bestimmte Zeit in den Niederlanden beinhaltete und sie weiterhin im Rahmen des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit versichert war, als eine Person anzusehen ist, die ihre Rechtsstellung als eine in den Niederlanden abhängig beschäftigte Person beibehalten hat. In der Situation, in der sie sich vom 1. Dezember 2008 bis zum 28. Februar 2009 befand, gilt für sie daher Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71, der auf die Anwendung der lex domicilii, hier also der niederländischen Rechtsvorschriften, verweist.

41.

Zur Beantwortung der Frage 2b des vorlegenden Gerichts weise ich darauf hin, dass es, da Frau X während der betreffenden Zeit als gewöhnlich in Österreich abhängig beschäftigt anzusehen ist, vorliegend für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften unerheblich ist, ob sie auch während der folgenden Jahre in Österreich abhängig beschäftigt war oder nicht.

42.

Anders als in der Rechtssache, in der das vom vorlegenden Gericht angeführte Urteil ( 12 ) ergangen ist, war Frau X gleichzeitig in zwei Mitgliedstaaten bei zwei verschiedenen Arbeitgebern abhängig beschäftigt. Es ist daher nicht notwendig, auf die zeitliche Befristung von zwölf Monaten bei vorübergehend entsandten Arbeitnehmern einzugehen oder zu erörtern, ob die Beschäftigung in Österreich „vorübergehend“ war.

43.

Ich möchte noch eine abschließende Bemerkung machen.

44.

Die Kollisionsnormen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 sollen nicht nur den Grundsatz verwirklichen, dass die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats gelten, sie sollen auch sicherstellen, dass ein Wanderarbeiter bei der Ausübung einer Tätigkeit in zwei oder mehr Mitgliedstaaten stets vollständig im Rahmen eines Systems der sozialen Sicherheit versichert ist.

45.

In dieser Hinsicht habe ich bereits in früheren Rechtssachen ( 13 ) darauf hingewiesen, dass in Grenzfällen – wie in der vorliegenden Rechtssache – die Höhe der Leistungen zu berücksichtigen ist, die nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats gewährt werden, um sicherzustellen, dass diese Rechtsvorschriften die betreffende Person nicht vom Schutz der Hauptzweige der sozialen Sicherheit ausschließen. Wenn der nach diesen Rechtsvorschriften gewährte Schutz offensichtlich unzureichend ist, muss dieser Gesichtspunkt bei der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften berücksichtigt werden. Es könnte dann zweckmäßig sein, von der Anwendung der nach den Kollisionsnormen anwendbaren Rechtsvorschriften vorübergehend abzusehen und die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, die einen angemessenen Schutz gewähren, anzuwenden.

46.

Diese abschließenden Erwägungen erfassen jedoch den vorliegenden Fall offensichtlich nicht, da, wie die niederländische Regierung in der Sitzung bestätigt hat, Frau X während ihres unbezahlten Urlaubs weiterhin bei allen relevanten Zweigen des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit versichert war.

47.

Aufgrund aller vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine Person, die in einem Mitgliedstaat wohnt und abhängig beschäftigt ist und die drei Monate unbezahlten Urlaub nimmt, um in einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung für einen anderen Arbeitgeber auszuüben, während dieses Zeitraums für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften als eine Person anzusehen ist, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist. Eine solche Person unterliegt gemäß dieser Bestimmung den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.

Ergebnis

48.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) wie folgt zu beantworten:

Art. 14 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine Person, die in einem Mitgliedstaat wohnt und abhängig beschäftigt ist und die drei Monate unbezahlten Urlaub nimmt, um in einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung für einen anderen Arbeitgeber auszuüben, während dieses Zeitraums für die Zwecke der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften als eine Person anzusehen ist, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist. Eine solche Person unterliegt gemäß dieser Bestimmung den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. 1997, L 28, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71). Die Verordnung Nr. 1408/71 ist mit Wirkung vom 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) aufgehoben und ersetzt worden. Sie findet jedoch in zeitlicher Hinsicht auf das Ausgangsverfahren Anwendung.

( 3 ) Unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2005, Dodl und Oberhollenzer (C‑543/03, EU:C:2005:364, Rn. 31 und 34).

( 4 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 24. März 1994, Van Poucke (C‑71/93, EU:C:1994:120, Rn. 22).

( 5 ) Urteile vom 12. Mai 1998, Martínez Sala (C‑85/96, EU:C:1998:217, Rn. 36), und vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi (C‑275/96, EU:C:1998:279, Rn. 21).

( 6 ) Urteil vom 7. Juni 2005 (C‑543/03, EU:C:2005:364).

( 7 ) Urteil vom 7. Juni 2005, Dodl und Oberhollenzer (C‑543/03, EU:C:2005:364, Rn. 31). Vgl. auch Nr. 12 der Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache Dodl und Oberhollenzer (C‑543/03, EU:C:2005:112).

( 8 ) Vgl. zu einem ähnlichen Ausdruck in Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 Fuchs, M./Cornelissen, R., EU social security law: a commentary on EU Regulations 883/2004 and 987/2009, Oxford Hart 2015, S. 177.

( 9 ) Vgl. zu den entsprechenden Bestimmungen der Art. 11 und 13 der Verordnung Nr. 883/2004 den Praktischen Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz (Europäische Kommission, 2013), S. 26 bis 28. Zu beachten ist, dass der Praktische Leitfaden dem Disclaimer zufolge von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, der Vertreter der Mitgliedstaaten angehören, mit dem Ziel erstellt wurde, eine praktische Handreichung für die Bestimmung des anwendbaren Sozialversicherungsrechts zu bieten, aber nicht unbedingt die offizielle Meinung der Kommission wiedergibt.

( 10 ) Urteile vom 17. Dezember 1970, Manpower (C‑35/70, EU:C:1970:120, Rn. 10), und vom 9. November 2000, Plum (C‑404/98, EU:C:2000:607, Rn. 19). Vgl. auch zur Rechtsprechung des polnischen Obersten Gerichtshofs Ślebzak, K., Koordynacja systemów zabezpieczenia społecznego, LEX Wolters Kluwer, Warschau, 2012, S. 242.

( 11 ) Vgl. Art. 14 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung lautet: „Bei der Anwendung von Artikel 13 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt‘ auf eine Person, die gleichzeitig oder abwechselnd für dasselbe Unternehmen oder denselben Arbeitgeber oder für verschiedene Unternehmen oder Arbeitgeber eine oder mehrere gesonderte Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt.“

( 12 ) Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe (C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 35 bis 37).

( 13 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Franzen u. a. (C‑382/13, EU:C:2014:2190, Nrn. 89 und 90).