SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 26. Mai 2016 ( *1 )

Rechtssache C‑218/15

Strafverfahren

gegen

Gianpaolo Paoletti u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale ordinario di Campobasso [Gericht von Campobasso, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Grundrechte — Rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes — Auswirkung des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union auf die vor dem Beitritt begangene Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung in das italienische Hoheitsgebiet“

1. 

In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof zu prüfen, welche Auswirkung der Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union auf die Strafbarkeit der Straftat der Beihilfe zur unerlaubten Einreise rumänischer Staatsangehöriger in das italienische Hoheitsgebiet und zu ihrem unerlaubten Aufenthalt in diesem Gebiet hat, wenn eine solche Straftat vor diesem Beitritt begangen wurde. Das Tribunale ordinario di Campobasso (Gericht von Campobasso, Italien) möchte insbesondere wissen, ob der – nach der Begehung dieser Straftat und vor der Verurteilung des Straftäters – erfolgte Beitritt einen Wegfall der Strafbarkeit der Beihilfe zur unerlaubten Einreise in das italienische Hoheitsgebiet und zum unerlaubtem Aufenthalt in diesem Gebiet bewirkt hat.

2. 

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, warum ich der Ansicht bin, dass der – nach der Begehung der Straftat der Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Angehörigen dieses Staates in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und zu deren unerlaubtem Aufenthalt in diesem Gebiet und vor der Verurteilung des Straftäters – erfolgte Beitritt eines Staates zur Union keinen solchen Wegfall der Strafbarkeit bewirkt.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

3.

Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( *2 ) lautet:

„Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“

4.

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt ( *3 ) sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Sanktionen „für diejenigen fest[legt], die … einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen“, und diejenigen, die „einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten“.

5.

Der Rahmenbeschluss 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt ( *4 ) sieht in Art. 1 Abs. 1 vor, dass „[j]eder Mitgliedstaat … die erforderlichen Maßnahmen [trifft,] um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie 2002/90 … beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können“. Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt zudem, dass mit diesen Strafen gegebenenfalls u. a. eine Abschiebungsmaßnahme einhergehen kann.

B – Italienisches Recht

6.

Nach Art. 25 Abs. 2 der Verfassung darf eine Bestrafung nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das vor Begehung der Handlung in Kraft getreten ist.

7.

Art. 2 Abs. 1 des Codice penale (Strafgesetzbuch) sieht vor, dass niemand wegen einer Handlung bestraft werden kann, die nach den zum Zeitpunkt ihrer Begehung geltenden Bestimmungen nicht strafbar war. Nach Art. 2 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs kann niemand wegen einer Handlung bestraft werden, die nach einer späteren Bestimmung nicht strafbar ist; im Fall einer Verurteilung enden der Vollzug der Strafe und die strafrechtlichen Folgen.

8.

Nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a und d des Decreto legislativo n. 286– Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell’immigrazione e norme sulla condizione dello straniero (Gesetzesdekret Nr. 286 – Einheitstext der Bestimmungen über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung von Ausländern) vom 25. Juli 1998 ( *5 ) in der durch das Gesetz Nr. 94 vom 15. Juli 2009 ( *6 ) geänderten Fassung wird, sofern die Handlung nicht den Tatbestand einer schwereren Straftat erfüllt, wer unter Verstoß gegen den vorliegenden Einheitstext die Beförderung von Ausländern nach Italien fördert, leitet, organisiert, finanziert oder durchführt, oder andere Handlungen vornimmt, die darauf gerichtet sind, ihnen die unerlaubte Einreise nach Italien oder in einen anderen Staat, dessen Angehörige sie nicht sind oder in dem sie nicht über eine Niederlassungserlaubnis verfügen, zu ermöglichen, mit Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren und Geldstrafe von 15000 Euro für jede Person bestraft, wenn die Tat die unerlaubte Einreise von mindestens fünf Personen nach Italien oder deren unerlaubten Aufenthalt in Italien betrifft oder wenn die Tat von mindestens drei Personen gemeinsam oder unter Verwendung grenzüberschreitender Verkehrsdienste oder gefälschter oder verfälschter oder jedenfalls rechtswidrig erlangter Dokumente begangen wird.

9.

Erfüllt die Begehung der Taten im Sinne von Abs. 3 zwei oder mehr der unter dessen Buchst. a bis e aufgeführten Tatbestandsmerkmale, wird die dort vorgesehene Strafe nach Art. 12 Abs. 3a des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 erhöht.

II – Sachverhalt

10.

Herr Gianpaolo Paoletti und eine Reihe weiterer Personen werden strafrechtlich verfolgt, weil sie in einem vor dem Beitritt Rumäniens zur Union liegenden Zeitraum u. a. die unerlaubte Einreise von 30 rumänischen Staatsangehörigen ermöglicht haben. Konkret wird ihnen vorgeworfen, die Bestimmungen über die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer in vorsätzlicher und betrügerischer Weise umgangen zu haben, um aus der intensiven und fortlaufenden Nutzung gering bezahlter ausländischer Arbeitskräfte Profit zu ziehen, und damit den in Art. 12 Abs. 3 und 3a des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 umschriebenen Straftatbestand erfüllt zu haben.

11.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Angeklagten in Pescara (Italien) die Oma Srl, eine fiktive Zweigniederlassung der Api Construction SRL, deren Sitz in Bukarest (Rumänien) ist, gegründet hätten. Sie hätten von der Direzione Provinciale del Lavoro di Pescara (Provinzialdirektion für Arbeit Pescara, Italien) antragsgemäß für 30 rumänische Arbeitnehmer Arbeitsgenehmigungen und sodann die entsprechenden Erlaubnisse des Aufenthalts in Italien erhalten. Grundlage hierfür sei Art. 27 Abs. 1 Buchst. g des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 gewesen, der – auf Antrag des Arbeitgebers und über das gesetzlich vorgesehene Kontingent ausländischer Arbeitnehmer hinaus – die vorübergehende Zulassung von Arbeitnehmern ermögliche, die bei in Italien tätigen Einrichtungen oder Unternehmen zur Erfüllung spezifischer Funktionen oder Aufgaben für einen beschränkten oder bestimmten Zeitraum beschäftigt seien.

III – Vorlagefragen

12.

Da das Tribunale ordinario di Campobasso (Gericht von Campobasso) Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts hegt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( *7 ), Art. 49 der Charta und Art. 6 EUV dahin auszulegen, dass der Beitritt Rumäniens zur Union am 1. Januar 2007 bewirkt hat, dass die Straftat nach Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 in Bezug auf die Beihilfe zur Einwanderung von rumänischen Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des italienischen Staates und zu deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet abgeschafft ist?

2.

Sind die genannten Bestimmungen dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat untersagt ist, gegenüber Personen, die vor dem 1. Januar 2007 (oder einem anderen späteren Datum, ab dem der Vertrag seine volle Wirkung entfaltet hat) – dem Datum, an dem der Beitritt Rumäniens zur Union wirksam wurde – gegen Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 verstoßen haben, indem sie Beihilfe zur Einwanderung rumänischer Staatangehöriger geleistet haben, was seit dem 1. Januar 2007 keine Straftat mehr darstellt, den Grundsatz der begünstigenden Rückwirkung (Rückwirkung in mitius) anzuwenden?

IV – Würdigung

13.

Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 EMRK, Art. 49 der Charta und Art. 6 EUV dahin auszulegen sind, dass der Beitritt Rumäniens zur Union einen Wegfall der Strafbarkeit der Beihilfe zur unerlaubten Einreise rumänischer Staatsangehöriger in das italienische Hoheitsgebiet und zu deren unerlaubtem Aufenthalt in diesem Gebiet bewirkt, wenn die betreffenden Staatsangehörigen nach Begehung dieser Straftat und vor der Verurteilung des Straftäters die Unionsbürgerschaft erlangt haben.

14.

Nach Ansicht der italienischen Regierung sind diese Fragen unzulässig, weil die betreffenden italienischen Strafbestimmungen – nämlich über die Strafbarkeit der Beihilfe zur unerlaubten Einreise ausländischer Staatsangehöriger in das italienische Hoheitsgebiet – nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Die strafrechtliche Ahndung von Verhalten, das der Beihilfe zur illegalen Einwanderung ausländischer Staatsangehöriger diene, werde vom Unionsrecht nicht geregelt. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen italienischen Rechtsvorschriften stellten sich somit nicht als Umsetzung des Unionsrechts durch die Italienische Republik dar. Die Charta finde folglich keine Anwendung.

15.

Wie die Europäische Kommission zu Recht ausführt, sieht Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90 vor, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Sanktionen für diejenigen festlegt, die einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen, und einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 trifft jeder Mitgliedstaat zudem die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2002/90 beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.

16.

Somit ist festzustellen, dass mit den im vorliegenden Fall maßgeblichen italienischen Rechtsvorschriften gerade den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Pflichten genügt und somit das Unionsrecht umgesetzt werden soll.

17.

Folglich kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Charta im Ausgangsrechtsstreit anzuwenden ist.

18.

Die Frage des vorlegenden Gerichts lässt sich meines Erachtens im Wege einer Analyse der Elemente der Zuwiderhandlung – und hier insbesondere zweier von ihnen, nämlich des gesetzlichen und des materiellen Elements – beantworten.

19.

Was das gesetzliche Element angeht, bezieht ein Straftatbestand seine Legitimität nach einem allgemein anerkannten Grundsatz aus seiner Erforderlichkeit. Ist diese Voraussetzung erfüllt, muss der Straftatbestand, um als solcher qualifiziert zu werden, selbstverständlich noch weiteren Anforderungen gerecht werden, die aber – ungeachtet ihrer ebenso grundlegenden Bedeutung – erst nach der erstgenannten Voraussetzung zu prüfen sind. Dies gilt für die Voraussetzung, dass Strafen auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen müssen, wie dies Beccaria formuliert hat, und für das Erfordernis, dass die vorgesehene Strafe verhältnismäßig sein muss. Allerdings bedürfte keine dieser letztgenannten Voraussetzungen einer Prüfung, wenn nicht die Notwendigkeit zum Erlass von Rechtsvorschriften bestünde.

20.

Die Strafbefugnis gehört zur staatlichen Hoheitsgewalt, der die Gesetzgebungsbefugnis übertragen ist. Über sie verfügt der Staat, um Verhaltensweisen zu verbieten, die aus seiner Sicht Vorstellungen zuwiderlaufen, die er im Hinblick auf seine gesellschaftlichen Wertvorstellungen oder seine grundlegenden Funktionsprinzipien für essenziell erachtet, also Handlungen, die gegen das verstoßen, was gemeinhin als die öffentliche Ordnung bezeichnet wird.

21.

Davon ausgehend ist in Anbetracht der Natur der von den Angeklagten begangenen Straftaten zu prüfen, gegen welche öffentliche Ordnung mit diesen in erster Linie verstoßen wurde. Handelt es sich um die öffentliche Ordnung des italienischen Staates oder um die der Union?

22.

In meinen Augen kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich hier um die öffentliche Ordnung der Union handelt. Mit den italienischen Strafrechtsbestimmungen wird nämlich nur Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90 ausgeführt, der bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat angemessene Sanktionen für diejenigen festlegt, die einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen. Er wird ergänzt durch Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Sanktionen zu verhängen, die eine Strafe umfassen, die die Durchführung einer Auslieferungsmaßnahme ermöglicht.

23.

Damit dienen die Strafrechtsbestimmungen der Mitgliedstaaten hier nur zur Stützung einer zwingenden Bestimmung einer Regelung, mit der Regeln festgelegt werden, die ihrerseits den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, und dazu, deren Einhaltung sicherzustellen.

24.

Wozu dient nun aber diese Regelung? Sie dient dazu, im Rahmen des Binnenmarkts die der Union eigenen, besonderen und allein für die Unionsbürger geltenden Regeln, d. h. einen Funktionszusammenhang zu schützen, in dem sich so grundlegende Freiheiten und Vorstellungen entfalten wie der freie Personenverkehr, die Niederlassungsfreiheit und die Unionsbürgerschaft, also die Fundamente, auf denen die Union beruht. Die Notwendigkeit dieser repressiven Rechtsvorschriften dürfte außer Zweifel stehen.

25.

Aufschlussreich ist, dass das gesetzliche Element der Zuwiderhandlung, wie es von den Mitgliedstaaten zu verstehen ist, erkennen lässt, welche Schwere der Unionsgesetzgeber diesem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung beimisst, indem er vorsieht, dass die in den Mitgliedstaaten verhängte Strafe gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/946 die Auslieferung der Straftäter ermöglichen muss und dass mit ihr gegebenenfalls eine Abschiebungsmaßnahme einhergehen kann. Das Bestreben, je nach Lage des Falles den im Ausland verbliebenen Schuldigen wegen der Störung der öffentlichen Ordnung der Union verurteilen oder ihn ausweisen zu können, unterstreicht, in welchem Maß diese öffentliche Ordnung von einem solchen Delikt tangiert wird.

26.

Es geht also um die öffentliche Ordnung der Union. Weder in der Richtlinie 2002/90 noch in irgendeiner anderen Regelung sehe ich aber eine Bestimmung, die die Annahme zuließe, dass der Erwerb einer „vollumfänglichen“ Unionsbürgerschaft zum Wegfall der Strafbarkeit des Verstoßes gegen diese höherrangige öffentliche Ordnung und dementsprechend der Strafbarkeit der von den Angeklagten – die sich, umgangssprachlich ausgedrückt, des Handels mit Arbeitskräften schuldig gemacht haben – begangenen Straftat führen müsste oder auch nur könnte.

27.

Eine gegenteilige Entscheidung liefe in Wirklichkeit darauf hinaus, diese Art von Handel ab dem Zeitpunkt zu fördern, zu dem ein Staat in den endgültigen Prozess zum Beitritt zur Union eingetreten ist, weil die Arbeitskräftehändler dann nämlich über die Gewissheit verfügten, später straffrei auszugehen. Das erreichte Ziel würde also dem vom Unionsgesetzgeber verfolgten gerade zuwiderlaufen.

28.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass sich das italienische Strafgesetz seinem Wortlaut nach – in völliger Übereinstimmung mit den sich aus der Richtlinie 2002/90 und dem Rahmenbeschluss 2002/946 ergebenden Pflichten, deren wirksame Anwendung es sicherstellt – streng genommen nur auf die Schlepper bezieht, nicht jedoch auf die Menschen, die deren Dienste in Anspruch genommen haben.

29.

Daher ist insoweit unbeachtlich, dass diese Personen nach ihrer unerlaubten Einreise in das Hoheitsgebiet der Union zu Unionsbürgern geworden sind bzw. sämtliche an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechte erworben haben.

30.

Ich frage mich zudem, wie ein solches Ergebnis theoretisch gerechtfertigt werden soll.

31.

Es scheint mir unbestreitbar, dass es sich hier nicht um einen Fall handeln kann, in dem eine Änderung des Unionsrechts dazu führte, einen Straftatbestand des nationalen Rechts zu blockieren, und zwar aus dem bereits angeführten einfachen und offensichtlichen Grund, dass die nationale Rechtsvorschrift aus dem Unionsrecht folgt und dass sich nur eine Änderung des Unionsrechts auf das fragliche nationale Recht auswirken könnte. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90 hat jedoch keine Änderung erfahren und bleibt, wie wir gesehen haben, vom Erwerb der Unionsbürgerschaft nach der Begehung der Straftat unberührt.

32.

Auch eine Berufung auf den Grundsatz der Rückwirkung in mitius, auf den sich der Hinweis auf Art. 49 der Charta zu beziehen scheint, halte ich nicht für möglich. Dieser Grundsatz betrifft nämlich in Wirklichkeit – wie aus dem Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 der Charta selbst deutlich wird – das Vorgehen bei der Anwendung zeitlich aufeinanderfolgender Rechtsvorschriften. Zudem muss es sich um ein Aufeinanderfolgen von Rechtsvorschriften für dieselbe Straftat handeln, was hier nicht der Fall ist, weil im Hinblick auf deren Strafbarkeit oder die dafür zu verhängende Strafe keine Änderung eingetreten ist.

33.

Zu einem solchen Ergebnis könnte es nur dann kommen, wenn der fragliche Straftatbestand seine Notwendigkeit verloren hätte. Wie ich oben dargelegt habe, war dies im Hinblick auf die Schlepper keineswegs der Fall.

34.

Abgesehen von den Erwägungen der öffentlichen Ordnung sprechen auch andere, mit der rechtlichen Struktur des Straftatbestands zusammenhängende Kriterien dafür, das Vorbringen der Kläger des Ausgangsverfahrens zurückzuweisen.

35.

Damit kommen wir zur Prüfung des zweiten, des materiellen Elements der Straftat.

36.

Wegen der Art der Verwirklichung des materiellen Elements der Straftat ist diese der Kategorie der Zustandsdelikte zuzuordnen. In materieller Hinsicht ist nämlich der Tatbestand der Beihilfe zur Einreise dann erfüllt, wenn die Person, die sich der „Schlepper“ bedient hat, die Außengrenze der Union überschritten hat, und der Tatbestand der Beihilfe zum Aufenthalt dann, wenn ihr die betrügerisch erlangten Dokumente ausgehändigt wurden, mittels deren sie den Anschein erwecken kann, einen Anspruch auf die mit der Unionsbürgerschaft oder mit der Stellung eines legalen ausländischen Arbeitnehmers verbundenen Rechte zu haben.

37.

In Anbetracht der in der Vorlageentscheidung angegebenen Zeitpunkte war die Begehung der den Klägern des Ausgangsverfahrens zur Last gelegten Straftaten am Tag des Inkrafttretens der Beitrittsakte Rumäniens zur Union – die nicht zu einer Änderung des Wortlauts von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90, einer Vorschrift von allgemeiner Bedeutung, geführt hat – bereits vollständig und endgültig abgeschlossen.

38.

Diese Überlegung wird meines Erachtens durch den Vergleich mit der spezifischen Situation der rumänischen Staatsangehörigen bestätigt, die zu dem Zeitpunkt, zu dem diese entscheidende Statusänderung eintrat, selbst Täter einer Zuwiderhandlung – nämlich die Zuwiderhandlung des unrechtmäßigen Aufenthalts – waren. Hier besteht nämlich ein erheblicher Unterschied.

39.

In diesem Fall handelt es sich bei der von dem Staatsangehörigen eines früheren Drittstaats begangenen Zuwiderhandlung um ein Dauerdelikt, dessen materielles Element – nämlich der Aufenthalt in einem Hoheitsgebiet, in dem er sich nicht befinden dürfte – niemals vollendet wird, solange dieser Zustand andauert. Eine der augenscheinlichsten Folgen eines Dauerdelikts ist, dass die Verjährungsfrist erst ab dem Zeitpunkt ihren Lauf nimmt, zu dem das strafbare Verhalten endet.

40.

Da der Erwerb der Unionsbürgerschaft während der Begehung der Zuwiderhandlung eintritt, entfällt eines der nur auf den Betroffenen anzuwendenden Elemente der spezifischen Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts, denn dadurch wird dieses (fortdauernde und unteilbare) materielle Element der Straftat unmittelbar berührt. Am Tag des Erwerbs sämtlicher mit der Unionsbürgerschaft einhergehenden Rechte entfällt nämlich eines der das Dauerdelikt begründenden Elemente, und zwar der Umstand, nicht vollumfänglich Unionsbürger zu sein.

41.

Mit demselben Ereignis verliert im Übrigen der Straftatbestand, der sich ausschließlich auf Angehörige eines Drittstaats bezog, für rumänische Staatsangehörige seine Notwendigkeit, was es rechtfertigt, dass auch gegen diejenigen, die etwa in ihren Herkunftsstaat zurückgekehrt sind, ohne dass ihnen gegenüber Verjährung eingetreten ist, kein Verfahren mehr eingeleitet wird.

42.

Aufgrund dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90, Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 und Art. 49 der Charta dahin auszulegen sind, dass der – nach der Begehung der Straftat der Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Angehörigen dieses Staates in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und zu deren unerlaubtem Aufenthalt in diesem Gebiet und vor der Verurteilung des Straftäters – erfolgte Beitritt eines Staates zur Union nicht den Wegfall der Strafbarkeit dieser Straftat bewirkt.

V – Ergebnis

43.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Tribunale ordinario di Campobasso (Gericht von Campobasso, Italien) wie folgt zu antworten:

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt und Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass der – nach der Begehung der Straftat der Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Angehörigen dieses Staates in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und zu deren unerlaubtem Aufenthalt in diesem Gebiet und vor der Verurteilung des Straftäters – erfolgte Beitritt eines Staates zur Europäischen Union nicht den Wegfall der Strafbarkeit dieser Straftat bewirkt.


( *1 ) Originalsprache: Französisch.

( *2 ) Im Folgenden: Charta.

( *3 ) ABl. 2002, L 328, S. 17.

( *4 ) ABl. 2002, L 328, S. 1.

( *5 ) Supplemento ordinario zur GURI Nr. 191 vom 18. August 1998.

( *6 ) GURI Nr. 170, vom 24. Juli 2009, im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 286/1998.

( *7 ) Im Folgenden: EMRK.