Rechtssache T‑76/14

Morningstar, Inc.

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb — Missbrauch einer beherrschenden Stellung — Weltweiter Markt für konsolidierte Echtzeit-Dateneinspeisungen — Beschluss, mit dem die vom Unternehmen in marktbeherrschender Stellung angebotenen Verpflichtungszusagen für bindend erklärt werden — Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 15. September 2016

  1. Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Beurteilungskriterien – Beschluss der Kommission, mit dem Verpflichtungszusagen eines Unternehmens, gegen das ein Verfahren zur Beurteilung eines Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eingeleitet ist, für bindend erklärt werden – Potenzieller Wettbewerber, auf den diese Verpflichtungszusagen erhebliche nachteilige Auswirkungen zu haben drohen und der aktiv an dem Verwaltungsverfahren teilgenommen hat – Zulässigkeit

    (Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 9 Abs. 1)

  2. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Abstellung der Zuwiderhandlungen – Befugnis der Kommission – Verpflichtungszusagen – Wertungsspielraum – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Gerichtliche Kontrolle – Umfang

    (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 9)

  3. Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Lauf des Verfahrens – Voraussetzungen – Erweiterung eines bereits vorgetragenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels – Grenzen

    (Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c und Art. 48 § 2)

  4. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Abstellung der Zuwiderhandlungen – Beschluss der Kommission, der Verpflichtungszusagen nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 für bindend erklärt – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fehlen

    (Art. 102 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 9)

  5. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Abstellung der Zuwiderhandlungen – Beschluss der Kommission, der Verpflichtungszusagen nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 für bindend erklärt – Begründungspflicht – Umfang – Kein Verstoß

    (Art. 296 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 9)

  1.  Die bloße Teilnahme eines Unternehmens an dem Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines Beschlusses führt, mit dem die Verpflichtungszusagen eines anderen Unternehmens, gegen das ein Verfahren nach Art. 102 AEUV und Art. 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) eingeleitet ist, gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 für bindend erklärt werden, genügt zwar allein nicht, um festzustellen, dass ein Kläger von dem Beschluss, mit dem diese Verpflichtungszusagen für bindend erklärt werden, individuell betroffen ist, doch ist die aktive Teilnahme am Verwaltungsverfahren ein Faktor, der bei Wettbewerbsfragen – einschließlich des spezielleren Gebiets der Verpflichtungszusagen nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 – berücksichtigt wird, um in Verbindung mit anderen spezifischen Umständen die Zulässigkeit einer Klage festzustellen. Ein solcher spezifischer Umstand kann sich daraus ergeben, dass die Position des Klägers auf dem betreffenden Markt berührt wird. Dies ist u. a. der Fall, wenn der Kläger auf einem Markt tätig ist, der sich durch eine begrenzte Anzahl von Wettbewerbern auszeichnet und auf dem das Unternehmen, das die genannten Verpflichtungszusagen abgegeben hat, eine beherrschende Stellung einnimmt. In einem solchen Fall sind restriktive Maßnahmen des marktbeherrschenden Unternehmens, wie die, die Gegenstand der vorläufigen Beurteilung der Kommission sind, geeignet, erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Tätigkeit des Klägers zu haben.

    (vgl. Rn. 30, 31, 34, 35)

  2.  Im Kontext des durch Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 eingeführten Mechanismus verfügt die Kommission über einen weiten Wertungsspielraum hinsichtlich der Annahme oder Ablehnung der Verpflichtungszusagen, die angeboten werden, um die von der Kommission in ihrer vorläufigen Beurteilung zum Ausdruck gebrachten Bedenken auszuräumen. Soweit die Kommission dazu aufgerufen ist, eine Analyse durchzuführen, bei der sie zahlreiche wirtschaftliche Faktoren berücksichtigen muss, wie beispielsweise eine vorausschauende Analyse zur Beurteilung der Angemessenheit der vom betreffenden Unternehmen angebotenen Verpflichtungszusagen, besitzt sie einen Wertungsspielraum, den das Gericht bei der Ausübung seiner Kontrolle berücksichtigen muss. Daraus folgt, dass der Unionsrichter im Rahmen der eingeschränkten Kontrolle, die er in solchen wirtschaftlich komplexen Situationen ausübt, seine eigene wirtschaftliche Beurteilung nicht an die Stelle derjenigen der Kommission setzen darf.

    Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Verpflichtungszusagen muss die Kommission im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 prüfen, ob die Verpflichtungszusagen „ausreichend“ sind und ihren Bedenken „in angemessener Weise gerecht werden“ können, und dabei die Umstände des Falls, das heißt die Schwere der Bedenken, ihr Ausmaß und die Interessen Dritter berücksichtigen. Die Kontrolle des Unionsrichters beschränkt sich darauf, unter Anwendung der genannten Grundsätze zu prüfen, ob die von der Kommission vorgenommene Beurteilung offensichtlich falsch ist.

    Im Übrigen kann der Umstand, dass andere Verpflichtungszusagen auch hätten angenommen werden können oder sogar für den Wettbewerb günstiger gewesen wären, nicht zur Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission, mit dem die Verpflichtungszusagen für bindend erklärt wurden, führen, soweit die Kommission vernünftigerweise zu dem Schluss kommen konnte, dass die in diesem Beschluss angeführten Verpflichtungszusagen geeignet waren, die in der vorläufigen Beurteilung erhobenen Bedenken zu zerstreuen.

    (vgl. Rn. 40, 41, 45, 46, 56, 58, 59, 78, 84-88)

  3.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 53, 54)

  4.  Die Kommission nimmt rechtsfehlerfrei an, dass ihre Bedenken hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung dadurch zerstreut werden können, dass von einem Unternehmen in beherrschender Stellung auf dem weltweiten Markt für konsolidierte Echtzeit-Dateneinspeisungen verhaltensorientierte Lösungen nicht gegenüber seinen Wettbewerbern, sondern gegenüber seinen Kunden und Dritten, in dem Sinne gefordert werden, dass den Kunden dieses Unternehmens, sei es innerhalb oder außerhalb ihrer Infrastruktur verschiedene Möglichkeiten des Anbieterwechsels angeboten werden. Durch das Akzeptieren solcher Verpflichtungszusagen macht die Kommission klar, dass es ihrer Meinung nach nicht nötig ist, die Wettbewerber des betreffenden Unternehmens in die Lizenzbestimmungen, die Kunden und Drittentwicklern von diesem Unternehmen angeboten werden, einzubeziehen, um ihre Bedenken auszuräumen.

    Was die Lasten und Kosten betrifft, die der Wechsel, der durch die dem Unternehmen in beherrschender Stellung auferlegten Verpflichtungen erforderlich wird, für die Kunden mit sich bringt, begeht die Kommission ebenfalls keinen Rechtsfehler, wenn diese Verpflichtungen infolge eines verbesserten Angebots des beherrschenden Unternehmens an seine Kunden eine echte Verbesserung für die Kunden dahin bieten, dass diese nunmehr bei einem Anbieterwechsel nicht mehr übermäßig hohe Kosten zu bestreiten haben. Das Gleiche gilt für die Feststellung der Kommission, dass die Zusammenarbeit zwischen Anbietern der konsolidierten Echtzeit-Dateneinspeisungen und Drittentwicklern Skaleneffekte haben kann, die die Kosten des Anbieterwechsels senken können, was ein zusätzlicher Anreiz für Kunden, einschließlich kleinerer Kunden, sein könnte, den Anbieter zu wechseln.

    (vgl. Rn. 62, 63, 67, 69)

  5.  In Bezug auf Beschlüsse, die Verpflichtungszusagen nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003, mit denen die Bedenken der Kommission hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung ausgeräumt werden sollen, für bindend erklären, erfüllt die Kommission ihre Begründungspflicht, indem sie die rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte darlegt, aus denen sie zu dem Schluss gekommen ist, dass die angebotenen Verpflichtungszusagen die von ihr erhobenen wettbewerbsrechtlichen Bedenken auf angemessene Weise ausräumen, so dass sie nicht mehr tätig werden muss. Zudem ist die Kommission zwar verpflichtet, den von ihr erlassenen Beschluss zu begründen, braucht jedoch nicht zu erklären, warum sie keinen anderen Beschluss erlassen hat.

    (vgl. Rn. 97, 101)