Rechtssache C‑429/14

Air Baltic Corporation AS

gegen

Lietuvos Respublikos specialiųjų tyrimų tarnyba

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas [Litauen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Luftverkehr — Übereinkommen von Montreal — Art. 19, 22 und 29 — Haftung des Luftfrachtführers im Fall einer Verspätung bei der internationalen Beförderung von Reisenden — Beförderungsvertrag, der vom Arbeitgeber der Reisenden geschlossen wurde — Schaden, der durch Verspätung entsteht — Vom Arbeitgeber erlittener Schaden“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 17. Februar 2016

  1. Völkerrechtliche Verträge — Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr — Auslegung — Befugnis des Gerichtshofs zur Auslegung der Vorschriften des Übereinkommens

    (Übereinkommen von Montreal von 1999)

  2. Verkehr — Luftverkehr — Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr — Verbraucher bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr — Begriff — Keine Übereinstimmung mit dem Begriff des Reisenden

    (Übereinkommen von Montreal von 1999, Art. 1 Abs. 1)

  3. Verkehr — Luftverkehr — Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr — Haftung des Luftfrachtführers im Fall einer Verspätung bei der internationalen Beförderung von Reisenden — Beförderungsvertrag, der zwischen dem Luftfrachtführer und dem Arbeitgeber von Reisenden geschlossen wurde — Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers — Zulässigkeit — Umfang

    (Übereinkommen von Montreal von 1999, Art. 1 Abs. 2, 3 Abs. 5, 19, 22, 25, 29 und 33 Abs. 1)

  1.  Das Übereinkommen von Montreal zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen wurde, wurde am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und am 5. April 2001 in ihrem Namen vom Rat der Europäischen Union genehmigt. Dieses Übereinkommen ist für die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten. Daraus folgt, dass die Vorschriften des Übereinkommens von Montreal seit diesem Inkrafttreten integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und dass der Gerichtshof daher dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden. Dieses Übereinkommen wurde in englischer, arabischer, chinesischer, spanischer, französischer und russischer Sprache verfasst, wobei alle diese sechs Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind.

    Hinsichtlich dieser Auslegung ist hervorzuheben, dass Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, mit dem Regeln des allgemeinen Völkerrechts kodifiziert werden, an die die Union gebunden ist, insoweit klarstellt, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist.

    (vgl. Rn. 22-24)

  2.  Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und am 5. April 2001 in ihrem Namen vom Rat der Europäischen Union genehmigt wurde, ist im Licht des dritten Absatzes seiner Präambel auszulegen, der die Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr hervorhebt, wobei der Begriff Verbraucher im Sinne dieses Übereinkommens nicht zwangsläufig mit dem des Reisenden zusammenfällt, sondern je nach Fall Personen umfasst, die nicht selbst befördert werden und daher keine Reisenden sind.

    In Anbetracht dieses Ziels kann der Umstand, dass im Wortlaut dieses Art. 1 nicht auf Personen Bezug genommen wird, die die Dienste eines internationalen Luftfrachtführers in Anspruch nehmen, um ihre Angestellten als Reisende befördern zu lassen, nicht dahin verstanden werden, dass er diese Personen, und folglich die Schäden, die ihnen hieraus möglicherweise entstehen, vom Anwendungsbereich dieses Übereinkommens ausschließt.

    (vgl. Rn. 38, 39)

  3.  Das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossene Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, insbesondere seine Art. 19, 22 und 29, ist dahin auszulegen, dass ein Luftfrachtführer, der einen Vertrag über die internationale Beförderung mit einem Arbeitgeber von als Reisenden beförderten Personen geschlossen hat, gegenüber diesem Arbeitgeber für den Schaden haftet, der durch die Verspätung von Flügen entsteht, die dessen Arbeitnehmer gemäß diesem Vertrag in Anspruch genommen haben, und wodurch dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstanden sind.

    Es ergibt sich nämlich aus mehreren übereinstimmenden Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal, insbesondere seinen Art. 1 Abs. 2, 3 Abs. 5, 25, 29 und 33 Abs. 1, dass dieses einen Zusammenhang zwischen der Haftung des Luftfrachtführers einerseits und dem Bestand eines zwischen einem solchen Luftfrachtführer und einer anderen Partei geschlossenen Vertrags über die internationale Beförderung andererseits herstellt, ohne dass es für die Haftung des Frachtführers aufgrund dieses Vertrags von besonderer Bedeutung wäre, ob diese andere Partei selbst ein Reisender ist oder nicht.

    Aus dem Erfordernis der Haftungsbeschränkung „je Reisenden“ in Art. 22 Abs. 1 folgt indes, dass die Höhe des Schadensersatzes, der einer Person, die eine Klage auf Ersatz eines durch Verspätung bei der internationalen Beförderung von Reisenden entstandenen Schadens erhebt, zuerkannt werden kann, jedenfalls nicht den Betrag überschreiten darf, den sie durch Multiplikation der in diesem Art. 22 Abs. 1 festgelegten Höchstgrenze mit der Anzahl der Reisenden, die auf der Grundlage des zwischen dieser Person und dem oder den betroffenen Luftfrachtführern geschlossenen Vertrags befördert wurden, erhalten hätte.

    (vgl. Rn. 41, 48, 49, 52 und Tenor)