Rechtssache C‑146/14 PPU

Bashir Mohamed Ali Mahdi

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad)

„Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr — Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 15 — Inhaftnahme — Haftverlängerung — Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde — Gerichtliche Nachprüfung — Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen — Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung — Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht — Fluchtgefahr — Hinreichende Aussicht auf Abschiebung — Mangelnde Kooperationsbereitschaft — Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 5. Juni 2014

  1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Etwaige Haftverlängerung – Bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft getroffene Entscheidung – Entscheidung, die in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe angegeben sind

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 und 47; Richtlinie 2008/115, Art. 15 Abs. 2, 3, 5 und 6)

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Überprüfung der Inhaftnahmebedingungen in gebührenden Zeitabständen – Im Unionsrecht nicht vorgesehene Verfahrensmodalitäten – Zuständigkeit der Mitgliedstaaten

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 3)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Etwaige Haftverlängerung – Umfang der gerichtlichen Kontrolle der Justizbehörde, die mit einem Antrag auf Haftverlängerung befasst worden ist

    Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15, Abs. 3 und 6)

  4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Nationale Regelung, wonach die Haft schon wegen Fehlens von Identitätsdokumenten verlängert werden kann – Unzulässigkeit

    Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 1 und 6)

  5. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Etwaige Haftverlängerung – Mangelnde Kooperationsbereitschaft – Begriff

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 6 Buchst. a)

  6. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Drittstaatsangehöriger, der keine Identitätsdokumente besitzt und vom nationalen Richter mit der Begründung freigelassen wurde, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung bestehe – Verpflichtung zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder einer Aufenthaltsberechtigung – Fehlen – Verpflichtung zur Ausstellung einer schriftlichen Bestätigung der Situation des Drittstaatsangehörigen

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 4)

  1.  Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.

    In der Tat ist das einzige ausdrücklich in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Erfordernis bezüglich des Erlasses einer schriftlichen Maßnahme dasjenige nach Art. 15 Abs. 2, nämlich die schriftliche Anordnung der Inhaftnahme unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Dieses Erfordernis des Erlasses einer schriftlichen Entscheidung ist so zu verstehen, dass es sich zwangsläufig auf jede Entscheidung über die Haftverlängerung bezieht. Art. 15 der Richtlinie 2008/115 verlangt jedoch nicht, dass eine schriftliche Maßnahme über regelmäßig wiederkehrende Überprüfungen erlassen wird. Die Behörden, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie in gebührenden Zeitabständen überprüfen, sind daher nicht verpflichtet, bei jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, die in schriftlicher Form ergeht und eine Darstellung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält.

    Wenn die Behörde, die bei Ablauf der nach Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 zulässigen Höchstdauer der erstmaligen Haft mit einem Überprüfungsverfahren befasst wird, über die Fortdauer der Haft entscheidet, ist sie allerdings verpflichtet, ihre Entscheidung schriftlich unter Angabe der Gründe zu erlassen. In einem solchen Fall erfolgen die Überprüfung der Inhaftnahme und der Erlass einer Entscheidung über die Fortdauer der Haft im selben Verfahrensabschnitt. Folglich muss diese Entscheidung die Erfordernisse des Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 erfüllen. Außerdem muss sie in jedem Fall der Aufsicht einer Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 3 dieser Richtlinie unterliegen.

    (vgl. Rn. 44, 47-49, 52 und Tenor 2)

  2.  Das Unionsrecht untersagt es nicht, dass eine nationale Regelung unter Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen vorsieht, dass die Behörde, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in gebührenden Zeitabständen überprüft, nach jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme erlassen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Maßnahme angegeben sind. Eine solche Verpflichtung würde sich ausschließlich aus dem nationalen Recht ergeben.

    (vgl. Rn. 50, 51)

  3.  Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen.

    Eine Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, muss nämlich in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die relevant für die Feststellung sind, ob eine Haftverlängerung unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des Art. 15 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt ist, was eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles erfordert. Wenn die ursprünglich angeordnete Inhaftnahme unter Berücksichtigung dieser Erfordernisse nicht mehr gerechtfertigt ist, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder gegebenenfalls der Justizbehörde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, durch ihre eigene Entscheidung zu ersetzen und über die Möglichkeit zu befinden, eine Ersatzmaßnahme oder die Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuordnen. Zu diesem Zweck muss die Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise zu berücksichtigen, die von der Verwaltungsbehörde angeführt werden, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, als auch jede etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen. Außerdem muss es ihr möglich sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse der Justizbehörde im Rahmen einer Kontrolle keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Umstände beschränkt werden.

    (vgl. Rn. 62, 64 und Tenor 2)

  4.  Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht.

    (vgl. Rn. 74 und Tenor 3)

  5.  Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann mangelnde Kooperationsbereitschaft im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen.

    Außerdem verlangt Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Behörde, bevor sie prüft, ob der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, nachweisen kann, dass die Abschiebung trotz ihrer angemessenen Bemühungen länger dauern wird als vorgesehen, was erfordert, dass der betreffende Mitgliedstaat sich aktiv bemüht, die Ausstellung von Identitätsdokumenten für diesen Drittstaatsangehörigen zu erreichen.

    Demgemäß setzt die Feststellung, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Bemühungen zur Durchführung der Abschiebung unternommen hat und dass der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des gesamten ersten Haftzeitraums voraus. Eine solche Prüfung betrifft Tatfragen, für die im Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Gerichtshof, sondern das innerstaatliche Gericht zuständig ist.

    (vgl. Rn. 83-85 und Tenor 4)

  6.  Die Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen.

    (vgl. Rn. 89 und Tenor)


Rechtssache C‑146/14 PPU

Bashir Mohamed Ali Mahdi

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad)

„Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr — Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 15 — Inhaftnahme — Haftverlängerung — Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde — Gerichtliche Nachprüfung — Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen — Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung — Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht — Fluchtgefahr — Hinreichende Aussicht auf Abschiebung — Mangelnde Kooperationsbereitschaft — Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 5. Juni 2014

  1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Etwaige Haftverlängerung — Bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft getroffene Entscheidung — Entscheidung, die in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe angegeben sind

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 und 47; Richtlinie 2008/115, Art. 15 Abs. 2, 3, 5 und 6)

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Überprüfung der Inhaftnahmebedingungen in gebührenden Zeitabständen — Im Unionsrecht nicht vorgesehene Verfahrensmodalitäten — Zuständigkeit der Mitgliedstaaten

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 3)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Etwaige Haftverlängerung — Umfang der gerichtlichen Kontrolle der Justizbehörde, die mit einem Antrag auf Haftverlängerung befasst worden ist

    Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15, Abs. 3 und 6)

  4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Nationale Regelung, wonach die Haft schon wegen Fehlens von Identitätsdokumenten verlängert werden kann — Unzulässigkeit

    Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 1 und 6)

  5. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Etwaige Haftverlängerung — Mangelnde Kooperationsbereitschaft — Begriff

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 6 Buchst. a)

  6. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung — Drittstaatsangehöriger, der keine Identitätsdokumente besitzt und vom nationalen Richter mit der Begründung freigelassen wurde, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung bestehe — Verpflichtung zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder einer Aufenthaltsberechtigung — Fehlen — Verpflichtung zur Ausstellung einer schriftlichen Bestätigung der Situation des Drittstaatsangehörigen

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 15 Abs. 4)

  1.  Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.

    In der Tat ist das einzige ausdrücklich in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Erfordernis bezüglich des Erlasses einer schriftlichen Maßnahme dasjenige nach Art. 15 Abs. 2, nämlich die schriftliche Anordnung der Inhaftnahme unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Dieses Erfordernis des Erlasses einer schriftlichen Entscheidung ist so zu verstehen, dass es sich zwangsläufig auf jede Entscheidung über die Haftverlängerung bezieht. Art. 15 der Richtlinie 2008/115 verlangt jedoch nicht, dass eine schriftliche Maßnahme über regelmäßig wiederkehrende Überprüfungen erlassen wird. Die Behörden, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie in gebührenden Zeitabständen überprüfen, sind daher nicht verpflichtet, bei jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, die in schriftlicher Form ergeht und eine Darstellung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält.

    Wenn die Behörde, die bei Ablauf der nach Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 zulässigen Höchstdauer der erstmaligen Haft mit einem Überprüfungsverfahren befasst wird, über die Fortdauer der Haft entscheidet, ist sie allerdings verpflichtet, ihre Entscheidung schriftlich unter Angabe der Gründe zu erlassen. In einem solchen Fall erfolgen die Überprüfung der Inhaftnahme und der Erlass einer Entscheidung über die Fortdauer der Haft im selben Verfahrensabschnitt. Folglich muss diese Entscheidung die Erfordernisse des Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 erfüllen. Außerdem muss sie in jedem Fall der Aufsicht einer Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 3 dieser Richtlinie unterliegen.

    (vgl. Rn. 44, 47-49, 52 und Tenor 2)

  2.  Das Unionsrecht untersagt es nicht, dass eine nationale Regelung unter Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen vorsieht, dass die Behörde, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in gebührenden Zeitabständen überprüft, nach jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme erlassen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Maßnahme angegeben sind. Eine solche Verpflichtung würde sich ausschließlich aus dem nationalen Recht ergeben.

    (vgl. Rn. 50, 51)

  3.  Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen.

    Eine Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, muss nämlich in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die relevant für die Feststellung sind, ob eine Haftverlängerung unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des Art. 15 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt ist, was eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles erfordert. Wenn die ursprünglich angeordnete Inhaftnahme unter Berücksichtigung dieser Erfordernisse nicht mehr gerechtfertigt ist, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder gegebenenfalls der Justizbehörde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, durch ihre eigene Entscheidung zu ersetzen und über die Möglichkeit zu befinden, eine Ersatzmaßnahme oder die Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuordnen. Zu diesem Zweck muss die Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise zu berücksichtigen, die von der Verwaltungsbehörde angeführt werden, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, als auch jede etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen. Außerdem muss es ihr möglich sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse der Justizbehörde im Rahmen einer Kontrolle keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Umstände beschränkt werden.

    (vgl. Rn. 62, 64 und Tenor 2)

  4.  Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht.

    (vgl. Rn. 74 und Tenor 3)

  5.  Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann mangelnde Kooperationsbereitschaft im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen.

    Außerdem verlangt Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Behörde, bevor sie prüft, ob der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, nachweisen kann, dass die Abschiebung trotz ihrer angemessenen Bemühungen länger dauern wird als vorgesehen, was erfordert, dass der betreffende Mitgliedstaat sich aktiv bemüht, die Ausstellung von Identitätsdokumenten für diesen Drittstaatsangehörigen zu erreichen.

    Demgemäß setzt die Feststellung, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Bemühungen zur Durchführung der Abschiebung unternommen hat und dass der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des gesamten ersten Haftzeitraums voraus. Eine solche Prüfung betrifft Tatfragen, für die im Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Gerichtshof, sondern das innerstaatliche Gericht zuständig ist.

    (vgl. Rn. 83-85 und Tenor 4)

  6.  Die Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen.

    (vgl. Rn. 89 und Tenor)