SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 23. Februar 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑614/14

Strafverfahren

gegen

Atanas Ognyanov

[Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien)]

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 267 AEUV — Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs — Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens und Pflichten des vorlegenden Gerichts — Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens — Nationale Rechtsvorschrift, die das vorlegende Gericht zwingt, sich wegen Befangenheit abzulehnen, weil es zum Zweck der Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen der Rechtssache dargestellt hat — Art. 47 und 48 der Charta“

I – Einleitung

1.

Können die Vorgaben in den Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in Bezug auf den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens die Gewährleistung der in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgten Rechte gefährden?

2.

Soll ein vorlegendes Gericht verpflichtet sein, sich in der Ausgangsrechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es im Zuge seines in dieser Rechtssache vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens deren Sachverhalt und rechtlichen Rahmen dargelegt hat?

3.

Dies scheint im bulgarischen Recht nach Art. 29 der Strafprozessordnung (Nakazatelno protsesualen kodeks, im Folgenden: NPK) der Fall zu sein.

4.

Auf der Grundlage dieser Bestimmung hat nämlich die Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia (Sofiyska gradska prokuratura) beantragt, dass sich der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) wegen Befangenheit ablehne, weil er im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens, das er in der beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache C‑554/14, Ognyanov ( 2 ), vorgelegt hat, einen „vorläufigen Standpunkt“ geäußert habe, indem er den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Sache festgestellt habe, und dies bevor die Sache zur Entscheidung anberaumt worden sei, wodurch er seine Pflicht zur Unparteilichkeit und zudem das Recht von Herrn Ognyanov auf die Unschuldsvermutung verletzt habe.

5.

In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof also mit der Frage befasst, ob das Unionsrecht einer Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.

6.

Ich leugne nicht, dass das Vorabentscheidungsverfahren für die nationalen Gerichte manchmal heikle Schwierigkeiten aller Art und jeden Ranges aufwerfen kann, vor allem, wenn man die Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Aufgabe des Richters bedenkt, die im Übrigen zu jenen zählen, die am wenigsten vereinheitlicht und am unterschiedlichsten sind.

7.

Dennoch lassen die reichhaltige Rechtsprechung zur Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren sowie die zahlreichen Verfahrensbestimmungen, die es regeln, keinen Raum für Zweifel in Bezug auf die Beantwortung dieser Frage.

8.

Durch die Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens im Zuge des in der Rechtssache C‑554/14 vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens hat sich der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) nur an die Vorgaben der Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof gehalten, und sind diese Vorgaben ordnungsgemäß erfüllt, ist es undenkbar, dass sie ein faires Verfahren und die Grundrechte der Parteien gefährden.

9.

Eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche ist daher nicht anzuwenden.

10.

Zum einen, weil sie die wesentlichen Vorgaben des Vorabentscheidungsersuchens, wie sie in Art. 267 AEUV und durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegt und in Art. 94 der Verfahrensordnung ergänzt wurden, in Frage stellt.

11.

Zum anderen, weil sie letztlich darauf hinausläuft, den bulgarischen Strafgerichten die Möglichkeit zu nehmen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, und so ihre ureigenen Vorrechte, die ihnen der AEU-Vertrag und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zuerkennen, beschneidet.

12.

In seiner Vorlageentscheidung hegt der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) im Übrigen keine Zweifel bezüglich der Auslegung der oben angeführten unionsrechtlichen Bestimmungen.

13.

Sein Vorgehen soll meines Erachtens die Wahrnehmung des bulgarischen Strafrichters in Bezug auf das Vorabentscheidungsersuchen und vielleicht sogar die des Konstitutsionen sad (Verfassungsgerichtshof) ( 3 ) ändern und die Ungereimtheiten einer Regelung aufzeigen, deren Durchführung geeignet ist, alle bulgarischen Strafgerichte von der Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof abzuhalten.

14.

Er hebt freilich hervor, dass das Vorabentscheidungsersuchen für den bulgarischen Strafrichter angesichts der in Art. 10 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen im Anhang des AEU-Vertrags vorgesehenen Einschränkung neu ist.

15.

Die Einführung des Vorabentscheidungsersuchens ist für die bulgarische Strafjustiz zwar neu, jedoch sind die bulgarischen Zivil- und Verwaltungsgerichte schon in besonderer Weise damit vertraut, wie die relativ zahlreichen von diesen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen bezeugen ( 4 ).

16.

Dabei enthält die Zivilprozessordnung (Grazdhanski protsesualen kodeks ( 5 )) in Teil VII, Kapitel 59 ( 6 ), sämtliche Verfahrensvorschriften, die für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof gelten. Art. 630 GPK, der den Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, verlangt in Abs. 1 gemäß den Vorgaben des Art. 94 der Verfahrensordnung, dass „[d]as Vorabentscheidungsersuchen … eine Beschreibung des Sachverhalts des Rechtsstreits, das einschlägige nationale Recht, eine genaue Bezugnahme auf die Bestimmung oder den Rechtsakt, deren/dessen Auslegung oder Gültigkeit Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist, die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen für die ordnungsgemäße Erledigung der Rechtssache für erforderlich erachtet, sowie die Formulierung der konkreten Vorlagefrage [enthält]“ ( 7 ).

17.

Die Rechtsvorschriften des Kapitels 59 GPK beschränken sich zwar grundsätzlich auf die Zivilgerichte, gelten jedoch auch für Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und zwar gemäß Art. 144 der Verwaltungsgerichtsordnung (Administrativnoprotsesualen kodeks) ( 8 ).

18.

Die in den Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung sowie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen hinsichtlich des Inhalts eines Vorabentscheidungsersuchens sind also dem nationalen Gesetzgeber und den nationalen Gerichten sehr wohl bekannt und gehören zum rechtlichen Instrumentarium – und dies seit dem Beitritt der Republik Bulgarien zur Europäischen Union im Jahr 2007.

19.

Es ist zwar verständlich, dass einige Strafgerichte Schwierigkeiten mit dem für sie neuen Vorabentscheidungsverfahren haben können, jedoch sind die in Art. 267 AEUV aufgestellten und in Art. 94 der Verfahrensordnung ergänzten Vorgaben hierfür in Zivil- und Strafsachen identisch. Die Verfahrensordnung sieht zwar in Titel III Kapitel 3 besondere Bestimmungen in Bezug auf die Rechtssachen vor, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen, diese Bestimmungen berühren jedoch in keiner Weise die Verpflichtungen, die dem vorlegenden Gericht aus Art. 94 der Verfahrensordnung erwachsen.

20.

In Anbetracht der sich aus den Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung zur Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens ergebenden Anhaltspunkte lässt die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts also keinen Raum für Zweifel.

21.

Ich werde daher dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung im Licht der Bestimmungen der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die das vorlegende Gericht zwingt, sich in der Ausgangsrechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es im Zuge seines Vorabentscheidungsersuchens den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargelegt hat.

22.

Daher darf der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) diese Rechtsvorschrift nicht anwenden.

23.

Im Übrigen hindern die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung unter Berücksichtigung der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten ein vorlegendes Gericht nicht daran, nach ergangenem Urteil des Gerichtshofs eine nochmalige Anhörung der Parteien sowie eine erneute Beweisaufnahme vorzunehmen und in der Folge die Feststellungen zu ändern, die es im Rahmen seiner Vorlageentscheidung getroffen hat.

II – Sachverhalt und rechtlicher Rahmen

24.

Im vorliegenden Fall wurde Herr Ognyanov, ein bulgarischer Staatsangehöriger, von der dänischen Justiz wegen schweren Raubes und Mordes zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. Er befand sich vom 10. Januar 2012 bis zum 1. Oktober 2013 in einer dänischen Strafanstalt in Haft und wurde am 1. Oktober 2013 auf der Grundlage des am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichneten Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen ( 9 ) den bulgarischen Behörden überstellt, um den Rest seiner Strafe in Bulgarien zu verbüßen. Im Anschluss an die Überstellung von Herrn Ognyanov befasste der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) den Gerichtshof mit drei Vorlagefragen zur Auslegung von Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ( 10 ) (Rechtssache C‑554/14).

25.

Nach Vorlage dieser Fragen beantragte die Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia, dass sich dieses Gericht wegen Befangenheit ablehne, weil es in den Rn. 2 bis 4 des in dieser Rechtssache vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens einen Standpunkt zu tatsächlichen und rechtlichen Fragen geäußert habe, und dies bevor die Sache zur Entscheidung anberaumt worden sei.

26.

Der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache ist zu entnehmen, dass es gemäß Art. 29 NPK in der Auslegung durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) einen besonderen Fall der Parteilichkeit darstellt, wenn ein Richter einen vorläufigen Standpunkt in der Sache selbst abgibt, bevor er eine endgültige Entscheidung erlässt.

27.

Bei Parteilichkeit hat sich der Richter als befangen abzulehnen, was erstens bedeutet, dass er die Prüfung der Sache abgibt, zweitens, dass sie anderen Richtern des betreffenden Gerichts zugeteilt wird und drittens, dass das Gericht in neuer Besetzung die Sache erneut prüft.

28.

Unterlässt es der Richter, sich wegen Befangenheit abzulehnen, fährt mit der Prüfung der Sache fort und erlässt er eine endgültige Entscheidung, wird diese Entscheidung fehlerhaft sein, weil sie unter „Verletzung wesentlicher Formvorschriften ergangen ist“. Die übergeordnete Instanz wird diese Entscheidung aufheben und die Sache wird einem anderen Spruchkörper zur neuerlichen Prüfung zugeteilt.

29.

Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) weist darauf hin, dass die Rechtsprechung das Kriterium der „Parteilichkeit“ besonders streng auslege. Insoweit erläutert er u. a., dass diese Kontrolle von Amts wegen erfolge und selbst die unbedeutendste Aussage in Bezug auf den Sachverhalt oder seine rechtliche Qualifizierung automatisch einen Grund für die Ablehnung des Richters wegen Befangenheit abgebe.

30.

Zur Veranschaulichung nennt der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) fünf Entscheidungen des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) ( 11 ), in denen dieser erstgerichtliche Entscheidungen wegen Parteilichkeit aufhob.

31.

Schließlich ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass die Äußerung eines vorläufigen Standpunkts durch den Richter nicht nur seine Ablehnung wegen Befangenheit und/oder die Aufhebung seiner endgültigen Entscheidung nach sich zieht, sondern auch ein Disziplinarverfahren gegen ihn wegen eines Disziplinarverstoßes. Gemäß den Nrn. 2.3 und 7.4 des nationalen Verhaltenskodex (Kodeks za etichno povedenie) ist es dem Richter nämlich verboten, öffentliche Erklärungen zum Ausgang einer ihm zur Prüfung anvertrauten Sache abzugeben oder einen vorläufigen Standpunkt zu äußern. Zudem sieht Nr. 7.3 dieses Kodex vor, dass sich der Richter zu grundsätzlichen Rechtsfragen äußern darf, ohne jedoch auf den konkreten Sachverhalt und seine rechtliche Einordnung Bezug zu nehmen.

32.

Hier habe das vorlegende Gericht aber durch die Vorlage der Vorabentscheidungsfragen in der Rechtssache C‑554/14 öffentlich und amtlich einen vorläufigen Standpunkt zum konkreten Sachverhalt dieser Rechtssache kundgetan.

III – Die Vorlagefragen

33.

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

34.

Die spanische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

35.

Bedauerlicherweise haben dies weder die Parteien des Ausgangsverfahrens noch die bulgarische Regierung getan.

IV – Würdigung

36.

Wie Rechtsprechung und Lehre hinreichend betont haben, stellt das Vorabentscheidungsverfahren den Eckpfeiler des Gerichtssystems in der Union dar, dessen Durchführung den nationalen Gerichten obliegt.

37.

Wie der Gerichtshof in seinem Gutachten 2/13 ( 12 ) ausgeführt hat, soll das Vorabentscheidungsverfahren „durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht … zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten … und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglich[en]“ ( 13 ).

38.

Durch die Verurteilung eines Mitgliedstaats, weil ein nationales Gericht seine Weigerung, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, nicht hinreichend begründet hatte, bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Dhahbi/Italien ( 14 ) im Einklang mit bereits gefestigter Rechtsprechung die Bedeutung dieses Verfahrens in Europa und besiegelte endgültig die Tatsache, dass das Vorabentscheidungsersuchen eine so wesentliche Befugnis des nationalen Richters darstellt, dass er sie nicht willkürlich ausüben darf, ohne Gefahr zu laufen, das Recht auf ein faires Verfahren zu verletzen.

A – Zur ersten Frage

39.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Grunde wissen, ob Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 94 der Verfahrensordnung sowie den Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die das vorlegende Gericht zwingt, sich in der Ausgangsrechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es im Zuge seines Vorabentscheidungsersuchens den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargelegt hat und damit seine Pflicht zur Unparteilichkeit und das Recht auf die Unschuldsvermutung verletzt hat.

40.

Wie ich ausgeführt habe, hegt der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) keine Zweifel bezüglich der Auslegung der oben angeführten Bestimmungen. Die Beantwortung dieser Frage liegt nämlich zum einen im Hinblick auf die durch Rechtsvorschriften und Rechtsprechung festgelegten Regeln, die seit Jahrzehnten das Vorabentscheidungsverfahren gestalten, und zum anderen im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Hand.

1. Die durch Rechtsvorschriften und Rechtsprechung festgelegten Regeln über den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens

41.

Nach ständiger Rechtsprechung schafft Art. 267 AEUV ein Verfahren der engen und direkten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen ( 15 ). Der Zweck besteht darin, den Vorrang des Unionsrechts sowie eine einheitliche Auslegung seiner Bestimmungen in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherzustellen.

42.

Im Rahmen dieses Dialogs von Gericht zu Gericht und unter gegenseitiger Achtung ihrer jeweiligen Befugnisse handelt jeder in seinem eigenen Verantwortungsbereich. Deshalb ist diese gerichtliche Zusammenarbeit keine „voie à sens unique“ (Einbahnstraße) ( 16 ). Der Gerichtshof muss zwar alles tun, um das vorlegende Gericht bei der ordnungsgemäßen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu unterstützen, das ihm u. a. ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof einräumt ( 17 ), das vorlegende Gericht muss aber seinerseits Rücksicht auf die ureigene Aufgabe nehmen, die dem Gerichtshof in diesem Bereich zukommt, und sich daher bemühen, ihm alle Informationen und alle Beweise zu liefern, damit er seine Aufgabe im Einklang mit dem mit Art. 267 AEUV verfolgten Ziel erfüllen kann.

43.

Der Gerichtshof verlangt daher, dass das Vorabentscheidungsersuchen eine kurze Darstellung des maßgeblichen Sachverhalts enthält, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen. Es muss auch den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung enthalten ( 18 ).

44.

Schließlich hat das vorlegende Gericht die Gründe darzulegen, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Natur der Streitsache bei der Beurteilung der Erfüllung dieser Anforderungen berücksichtigt. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass „die Anforderungen [in Bezug auf den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens] leichter erfüllt werden können, wenn [dieses] Ersuchen in einen aufgrund eines vorangegangenen Vorabentscheidungsverfahrens bereits weitgehend bekannten Kontext eingebettet ist“ ( 19 ). Hingegen stellt der Gerichtshof höhere Anforderungen, wenn das Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen der Rechtsstreitigkeiten des Wettbewerbs- und Vergaberechts ergeht, da sich diese durch komplexe Sachverhalte und Rechtsfragen auszeichnen ( 20 ).

45.

Diese Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts ist dadurch gerechtfertigt, dass nur dieses Gericht über eine unmittelbare Kenntnis des dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalts verfügt und es allein die Verantwortung für die zu erlassende Gerichtsentscheidung zu tragen hat ( 21 ).

46.

Neben der Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens und darüber hinaus verlangt der Gerichtshof, dass das vorlegende Gericht die Gründe erläutert, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendig oder nützlich erachtet, falls sich diese Gründe nicht eindeutig aus den Akten ergeben ( 22 ).

47.

Diese Angaben sind unerlässlich, damit der Gerichtshof in der Lage ist, die Vorlagefrage zweckdienlich und glaubwürdig unter Beurteilung sämtlicher tatsächlicher und rechtlicher Umstände, die für den Rechtsstreit kennzeichnend sind, zu beantworten. Der Gerichtshof kann sich dann vergewissern, dass der Sachverhalt, auf dem die Vorlagefrage beruht, tatsächlich in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, dass die Frage entscheidungserheblich und auch nicht hypothetisch ist ( 23 ). Es sei darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof nicht die Aufgabe hat, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, sondern zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, indem er eine sachdienliche und richtige Auslegung des Unionsrechts liefert. Der Gerichtshof ist somit nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom vorlegenden Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Vorschrift der Union zu äußern ( 24 ).

48.

Überdies sind die im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Angaben wesentlich für die Regierungen der Mitgliedstaaten sowie die anderen Beteiligten, damit sie gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abgeben können ( 25 ). Den Beteiligten werden nämlich nur die Vorlageentscheidungen ohne die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht eventuell übermittelten Akten zugestellt ( 26 ).

49.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht nicht verlangt, vor einer Vorlage an den Gerichtshof sämtliche Tatsachenerhebungen und die rechtliche Würdigung vorzunehmen, die ihm im Rahmen seiner Rechtsprechungsaufgabe obliegen ( 27 ).

50.

Nach Ansicht des Gerichtshofs kann es zwar je nach Gestaltung des Falles von Vorteil sein, wenn im Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen geklärt sind. Gleichwohl gesteht er es dem vorlegenden Gericht zu, allein zu entscheiden, in welchem Verfahrensstadium es einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf ( 28 ), denn dabei handelt es sich um Überlegungen der Prozessökonomie und der Zweckdienlichkeit für das Verfahren, die wiederum nur dem vorlegenden Gericht vorbehalten sind. Denn nur das vorlegende Gericht verfügt über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien und ist somit am besten in der Lage, zu beurteilen, in welchem Verfahrensstadium es der Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof bedarf.

51.

Diese Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens wurden in Art. 94 der Verfahrensordnung aufgestellt, „von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat“ ( 29 ).

52.

Art. 94 der Verfahrensordnung sieht Folgendes vor:

„Das Vorabentscheidungsersuchen muss außer den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen enthalten:

a)

eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen;

b)

den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung;

c)

eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt.“

53.

Während Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung die Beschreibung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens betreffen, in den die dem Gerichtshof vorgelegte Rechtssache eingebettet ist, stellt ihr Art. 94 Buchst. c auf die Begründung der Vorlage im engeren Sinne ab ( 30 ).

54.

Diese Anforderungen finden sich auch in den Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen ( 31 ). Aus Nr. 22 der Empfehlungen, die Form und Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, geht hervor, dass dieses „ausführlich genug sein und alle relevanten Informationen enthalten [muss], damit der Gerichtshof und die zur Einreichung von Erklärungen Berechtigten den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits richtig erfassen können“.

55.

Nr. 22 dieser Empfehlungen gibt Art. 94 der Verfahrensordnung wieder, der den Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens betrifft.

56.

Diese Gesichtspunkte zeigen, falls dies noch erforderlich gewesen sein sollte, dass die Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens ein wesentlicher, wenn nicht gar entscheidender Bestandteil des Vorabentscheidungsersuchens ist und ihr Fehlen einen Grund für eine offensichtliche Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens darstellt ( 32 ).

57.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass diese Verfahrensanforderungen in Art. 1 des Protokolls Nr. 16 zur EMRK ( 33 ) auf die Vorlage eines Ersuchens um ein Gutachten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte übertragen wurden. Dieser Artikel verlangt nämlich von den nationalen Gerichten, dass sie ihr Ersuchen begründen und „relevante Aspekte des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts der anhängigen Rechtssache“ darlegen, andernfalls kann das Ersuchen um ein Gutachten zurückgewiesen werden.

58.

Dieses Protokoll ist bis dato noch nicht in Kraft getreten, aber das hindert mich nicht an der Feststellung, dass sich das Gutachtenverfahren, das es einführen soll, stark am Vorbild des Vorabentscheidungsverfahrens orientiert, was von einer offensichtlichen Würdigung des Vorabentscheidungsverfahrens zeugt, dessen Charakter und Erfolg unbestreitbar sind.

59.

Angesichts dessen ist festzustellen, dass der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) dadurch, dass er im Zuge des Vorabentscheidungsersuchens, das er in der Rechtssache C‑554/14 vorgelegt hat, den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargestellt hat, nur die von dem Unionsgesetzgeber und dem Gerichtshof im Rahmen der Durchführung des Art. 267 AEUV aufgestellten Regeln befolgt hat.

60.

Zwar hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) dadurch gegen die Rechtsvorschriften des NPK verstoßen, es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass seine Vorgehensweise völlig im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften über die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens durch die bulgarischen Zivil- und Verwaltungsgerichte steht.

61.

Denn wie in der Einleitung erwähnt, enthält Teil VII Kapitel 59 GPK sämtliche Verfahrensvorschriften, die für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof gelten.

62.

Die Art. 628 bis 633 GPK setzen die Voraussetzungen und Wirkungen eines durch ein nationales Gericht vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens und insbesondere den Wortlaut des Art. 267 AEUV sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs in das bulgarische Recht um.

63.

Die Art. 628 und 629 GPK nennen die Umstände, unter denen das nationale Gericht die Möglichkeit oder die Verpflichtung hat, sich mittels Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden.

64.

Art. 630 GPK legt wiederum die für den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens geltenden Regeln fest.

65.

Art. 630 Abs. 1 GPK gibt weitgehend die in Art. 94 der Verfahrensordnung sowie in Nr. 22 der Empfehlungen aufgestellten Regeln wieder, da er, wie oben angeführt, festlegt, dass „[d]as Vorabentscheidungsersuchen eine Beschreibung des Sachverhalts des Rechtsstreits, das einschlägige nationale Recht, eine genaue Bezugnahme auf die Bestimmung oder den Rechtsakt, deren/dessen Auslegung oder Gültigkeit Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist, die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen für die ordnungsgemäße Erledigung der Rechtssache für erforderlich erachtet, sowie die Formulierung der konkreten Vorlagefrage [enthält]“.

66.

Wie ebenfalls oben ausgeführt, beschränken sich die Rechtsvorschriften in Teil VII Kapitel 59 GPK grundsätzlich zwar auf die Zivilgerichte, gelten jedoch auch für Verfahren vor den Verwaltungsgerichten und zwar gemäß Art. 144 der Verwaltungsverfahrensordnung ( 34 ). Nach der Lehre scheinen sie im Übrigen einen weiteren Anwendungsbereich zu haben und auf jedes gerichtliche Verfahren zur Anwendung zu kommen, da Kapitel 59 die nationale Rechtsgrundlage für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens durch bulgarische Gerichte mit Ausnahme des Konstitutsionen sad (Verfassungsgerichtshof) darstellt ( 35 ).

67.

Die in den Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung sowie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen hinsichtlich des Inhalts eines Vorabentscheidungsersuchens gehören also zum rechtlichen Instrumentarium und dies seit dem Beitritt der Republik Bulgarien zur Union im Jahr 2007.

68.

Dass es sich bei dem Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑554/14 um ein strafrechtliches handelt, kann dem vorlegenden Gericht nicht als Rechtfertigung dienen, auf die klare und hinreichende Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens dieser Rechtssache zu verzichten. Ganz im Gegenteil ist diese Regel umso strikter zu beachten, als diese Streitsache möglicherweise zu freiheitsentziehenden Maßnahmen führt, die auf der Grundlage von nationalen Rechtsvorschriften erlassen werden, die zu den in der Union am wenigsten vereinheitlichten gehören, und an einen Sachverhalt anknüpfen, der klar darzulegen ist.

69.

Angesichts dessen ist der bestehende Unterschied zwischen den Rechtsvorschriften über die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen zivil- und verwaltungsgerichtlicher Verfahren, die die Vorgaben der Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung umsetzen, und der fraglichen Rechtsvorschrift, die für Strafverfahren gilt, daher weder gerechtfertigt noch schlüssig.

70.

Wenn in der vorliegenden Rechtssache die Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia der Ansicht ist, dass der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) durch die Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens der Rechtssache C‑554/14 das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf ein unparteiisches Gericht und das in Art. 48 der Charta festgelegte Recht auf die Unschuldsvermutung verletzt habe, sind diese Befürchtungen im Übrigen völlig unbegründet.

71.

Die dem vorlegenden Gericht obliegende Pflicht, sein Vorabentscheidungsersuchen zu begründen und sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Angaben zu machen, die für das Verständnis des Rechtsstreits erforderlich sind, ist nicht geeignet, den Grundsatz des fairen Verfahrens zu beeinträchtigen, sondern kann ihn gewährleisten, sofern natürlich die Vorgaben der Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung ordnungsgemäß erfüllt werden.

72.

In der Rechtssache C‑554/14 stellt die bloße Tatsache, dass der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) in seinem Vorabentscheidungsersuchen den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dargestellt hat, weder einen Beweis für seine Parteilichkeit dar, die ihn zwingen würde, sich in der Rechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, noch eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung.

2. Zur Pflicht des vorlegenden Gerichts zur Unparteilichkeit

73.

Sowohl der Gerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatten in ihrer Rechtsprechung Gelegenheit, den Begriff des „unparteiischen Gerichts“ zu definieren, wie er in Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK enthalten ist ( 36 ).

74.

Der Gerichtshof hat im Übrigen die Unabhängigkeit des Richters, zu der der Aspekt der Unparteilichkeit gehört ( 37 ), zu einem Kriterium für die Definition eines „Gerichts“ im Sinne von Art. 267 AEUV gemacht ( 38 ). Daher ist die Unparteilichkeit des Richters als eine Voraussetzung für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens anzusehen.

75.

Für den Richter gilt die Vermutung, dass er unparteiisch ist ( 39 ), d. h. frei von Vorurteilen oder Voreingenommenheit ( 40 ).

76.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird daher die Unparteilichkeit eines Gerichts anhand einer subjektiven Vorgehensweise beurteilen, die darin besteht, die persönliche Überzeugung des Richters zu ermitteln und sein Verhalten zu berücksichtigen, insbesondere wenn er ein persönliches Vorurteil oder Voreingenommenheit in der Rechtssache oder Feindseligkeit an den Tag gelegt hat ( 41 ).

77.

Im Übrigen ist im Rahmen eines objektiveren Ansatzes ein unparteiisches Gericht ein Gericht, das neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat ( 42 ). Somit impliziert die Unparteilichkeit unabhängig vom persönlichen Verhalten des Richters, dass das Gericht für jede Einflussnahme von außen unempfänglich und in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen neutral ist ( 43 ).

78.

Um jeden berechtigten Zweifel bei den Rechtsuchenden auszuräumen und das Gefühl des Vertrauens zu schützen, das die Unparteilichkeit wecken soll (gemäß der Lebensweisheit „justice must not only be done, it must also be seen to be done“ ( 44 )), setzt das Erfordernis der Unparteilichkeit also den Erlass von Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder voraus ( 45 ).

79.

In der vorliegenden Rechtssache leitet sich die etwaige Verletzung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts nicht aus den Vorgaben der Rechtsvorschriften ab, sondern aus dem Verhalten des vorlegenden Gerichts.

80.

Denn nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia reichen die im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens angesprochenen Gesichtspunkte aus, um an der Unparteilichkeit des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia), das später in der Sache entscheiden soll, Zweifel zu wecken.

81.

Indem er in seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑554/14 den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargestellt habe, habe er einen „vorläufigen Standpunkt“ geäußert, bevor die Sache zur Entscheidung anberaumt worden sei. Gemäß Art. 29 NPK stelle das einen besonderen Fall der „Parteilichkeit“ dar, der das vorlegende Gericht zwinge, sich in der Rechtssache wegen Befangenheit abzulehnen. Wie der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache zu entnehmen ist, fällt selbst die unbedeutendste Aussage des Gerichts in Bezug auf den Sachverhalt oder seine rechtliche Qualifizierung unter diesen Artikel und führt zu dessen Ablehnung wegen Befangenheit.

82.

In der vorliegenden Rechtssache entbehren diese Befürchtungen jeglicher Grundlage.

83.

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann die bloße Tatsache, dass ein Richter Entscheidungen vor dem Prozess erlässt, für sich genommen keine Bedenken hinsichtlich seiner Unparteilichkeit rechtfertigen. Was zählt, ist die Tragweite der erlassenen Maßnahmen ( 46 ). Die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof stellt zwar eine gerichtliche Entscheidung dar, es darf aber nicht vergessen werden, dass die Darstellung der der Rechtssache zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände nicht mehr ist als eine bloße Feststellung des vorlegenden Gerichts, das im Übrigen entgegen der in Rn. 8 der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache angeführten Rechtsprechung keine rechtliche Einordnung vornimmt.

84.

Es ist nämlich festzustellen, dass in der Rechtssache C‑554/14 Rn. 2 der Vorlageentscheidung auf den „Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache“ Bezug nimmt, dass in Rn. 3 „das anwendbare materielle Recht, das nicht den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, aber die Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsersuchens begründet“ und in Rn. 4 „das anwendbare materielle Recht, das den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens betrifft“ erörtert werden.

85.

Nach sorgfältiger Prüfung dieser Randnummern bietet keine von ihnen Anhaltspunkte für ein wie auch immer geartetes Vorurteil oder eine Voreingenommenheit seitens des vorlegenden Gerichts.

86.

Die Genauigkeit dieser Darstellung beweist vielmehr eine profunde Aktenkenntnis, die meines Erachtens keine Rechtfertigung dafür darstellen kann, dieses Gericht der Parteilichkeit zu bezichtigen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt entschieden, dass es, selbst wenn es eine vorläufige Beurteilung der vorliegenden Angaben vornehmen würde, undenkbar sei, dass eine solche Beurteilung der endgültigen Beurteilung vorgreife ( 47 ).

87.

Angesichts dessen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) durch die Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens der Rechtssache C‑554/14 in seiner Vorlageentscheidung seine Pflicht zur Unparteilichkeit, wie sie Art. 47 der Charta fordert, verletzt hat.

3. Zur Wahrung des Rechts auf die Unschuldsvermutung

88.

Auch hier leitet sich die etwaige Verletzung des in Art. 48 der Charta verbürgten Rechts nicht aus den Vorgaben der Rechtsvorschriften ab, sondern aus dem Verhalten des vorlegenden Gerichts.

89.

Es fragt sich daher, ob die Begründung des vorlegenden Gerichts in der Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens der Rechtssache C‑554/14 nahe legt, dass es den Betroffenen der Straftat für schuldig erachtet, obwohl dessen Schuld nicht bewiesen worden ist ( 48 ). Es steht außer Zweifel, dass die verfrühte Äußerung eines solchen Standpunkts durch das vorlegende Gericht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen würde ( 49 ).

90.

In dieser Rechtssache stellt sich die Frage überhaupt nicht.

91.

Denn das Recht jedes Angeklagten auf die Unschuldsvermutung kann nicht für jemanden gelten, der der betreffenden Straftat für schuldig befunden wurde ( 50 ), wie dies bei Herrn Ognyanov der Fall ist ( 51 ).

92.

Jedenfalls darf nicht übersehen werden, dass das Vorabentscheidungsersuchen eines vorlegenden Gerichts den alleinigen Zweck hat, eine richtige Auslegung des Unionsrechts zu erlangen, während sich die Beantwortung der Frage, ob die betroffene Person auf der Grundlage dieser Auslegung hinsichtlich der fraglichen Taten für unschuldig oder schuldig zu befinden ist, nur aus der ausschließlichen und persönlichen Beurteilung dieses Gerichts ergeben kann.

93.

Angesichts dieser Überlegungen ist meines Erachtens die bloße Tatsache, dass der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) in seinem in der Rechtssache C‑554/14 vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargestellt hat, weder ein Beweis für seine Parteilichkeit, der ihn zwingen würde, sich in dieser Sache wegen Befangenheit abzulehnen, noch eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung.

94.

Werden also die Vorgaben für die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens in den Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung ordnungsgemäß erfüllt, sind sie weder geeignet, die in Art. 47 der Charta verbürgte Unparteilichkeit des vorlegenden Gerichts zu beeinträchtigen, noch, das in Art. 48 der Charta verbürgte Recht auf die Unschuldsvermutung zu verletzen.

95.

An diesem Punkt meiner Würdigung ist festzustellen, dass die in Rede stehende nationale Rechtsvorschrift, wie sie vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) ausgelegt wird, geeignet ist, einen bulgarischen Strafrichter daran zu hindern, ja sogar ihn abzuschrecken, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, und daher die ihm durch Art. 267 AEUV und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zuerkannten ureigenen Vorrechte beschneidet.

96.

Bei Anwendung dieser Rechtsvorschrift muss er sich nämlich nicht nur wegen Befangenheit ablehnen, sondern riskiert auch eine Disziplinarstrafe, weil er in seiner Vorlageentscheidung und gemäß den Vorgaben in den Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen der Rechtssache darstellt.

97.

Man gelangt zum absurden und paradoxen Ergebnis, dass bei einem Richter, der im Einklang mit dem Unionsrecht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, bei Anwendung des nationalen Rechts davon auszugehen ist, dass er die Grundrechte der Parteien verletzt.

98.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Rechtsvorschrift mit den Erfordernissen, die mit der Rechtsnatur des Unionsrechts einhergehen, unvereinbar ist, weil sie dadurch, dass sie bulgarische Strafrichter von der Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof abhält, eine geringere Wirksamkeit des Unionsrechts zur Folge hat.

99.

Erstens hat der Gerichtshof im Urteil Elchinov ( 52 ) hinsichtlich eines vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens darauf hingewiesen, dass die nationalen Gerichte über die möglichst unbeschränkte Befugnis zur Anwendung des Unionsrechts verfügen müssen, weil ihnen Art. 267 AEUV eine möglichst weitreichende Möglichkeit zur Vorlage an den Gerichtshof einräumt, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen ( 53 ).

100.

Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die nationalen Gerichte nicht durch eine wie auch immer geartete nationale Verfahrensvorschrift an der Vorlage an den Gerichtshof gehindert werden dürfen, und zudem darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens ein ureigenes Vorrecht ist, das die nationalen Gerichte, die in erster Instanz entscheiden, in allen Verfahrensstadien ausüben können müssen ( 54 ).

101.

Zweitens sei daran erinnert, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem oben angeführten Urteil Dhahbi/Italien entschieden hat, dass bei bestehender Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens unter bestimmten Umständen die Weigerung des nationalen Gerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, das faire Verfahren beeinträchtigen und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgt wird, darstellen kann. In jenem Fall kam der EGMR zu diesem Ergebnis, der feststellte, dass sich das nationale Gericht völlig willkürlich und ohne jegliche Begründung geweigert hatte, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

102.

Wenn sich ein nationaler Richter weigern müsste, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, weil er sich dann nicht nur wegen Befangenheit ablehnen müsste, sondern auch eine Disziplinarstrafe riskieren würde, weil er den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen der Rechtssache darstellt, würde das mit Sicherheit einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK darstellen.

103.

Angesichts dessen besteht kein Zweifel, dass das Unionsrecht, insbesondere die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung, einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die, sollte sie angewandt werden, das Vorabentscheidungsverfahren und damit die etablierte Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten schwerwiegend beeinträchtigen und den Vorrang des Unionsrechts gefährden würde.

104.

Ich werde daher dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der fraglichen entgegenstehen, die das vorlegende Gericht zwingt, sich in der Rechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es im Zuge seines Vorabentscheidungsersuchens den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargelegt hat.

B – Zur zweiten Frage

105.

Mit seiner zweiten Frage möchte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) im Grunde wissen, ob Art. 267 AEUV und Art. 94 der Verfahrensordnung ein vorlegendes Gericht daran hindern, nach ergangenem Urteil des Gerichtshofs eine nochmalige Anhörung der Parteien sowie eine erneute Beweisaufnahme vorzunehmen und in der Folge die Feststellungen zu ändern, die es im Rahmen seiner Vorlageentscheidung getroffen hat.

106.

Zunächst kann nach ständiger Rechtsprechung nur das nationale Gericht entscheiden, in welchem Verfahrensstadium es einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf ( 55 ).

107.

Der Gerichtshof vertritt zwar die Auffassung, dass es je nach der Gestaltung des Falles von Vorteil sein kann, wenn zum Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen geklärt sind ( 56 ), er stellt jedoch dem nationalen Gericht anheim, diese Möglichkeit in jedem Zeitpunkt des Verfahrens, den es für geeignet hält, wahrzunehmen ( 57 ). Denn die Wahl des Zeitpunkts der Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens hängt von Überlegungen der Prozessökonomie und der Zweckdienlichkeit für das Verfahren ab, die es allein zu beurteilen hat, weil es allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien verfügt.

108.

Über diese Rechtsprechung hinaus hindert das vorlegende Gericht keine unionsrechtliche Bestimmung daran, nach Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens im Laufe der Prüfung der bei ihm anhängigen Rechtssache seine Beurteilung des Sachverhalts und des einschlägigen rechtlichen Rahmens zu ändern.

109.

Ein solches Vorrecht fällt unter die institutionelle und verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten und der Gerichtshof ist daher nicht befugt, über die konkrete Anwendung der nationalen Verfahrensvorschriften zu entscheiden.

110.

Nach ständiger Rechtsprechung kann nur das vorlegende Gericht den Anwendungsbereich der nationalen Bestimmungen und die Art ihrer Anwendung beurteilen. Somit hat das Gericht nach ergangenem Urteil des Gerichtshofs die Prüfung der Rechtssache des Ausgangsverfahrens gemäß den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und über die gerichtlichen Verfahren und unter Wahrung der Grundrechte der Parteien fortzusetzen.

111.

Die einzige Pflicht, die es in diesem Verfahrensstadium zu erfüllen hat, besteht darin, der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts volle Wirksamkeit zu verschaffen. Denn für die Antworten, die der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht an die Hand gibt, gilt, dass sie eine wegweisende und bindende Auslegung des Unionsrechts festlegen, da der Gerichtshof im Rahmen des Art. 267 AEUV nicht berufen ist, ein beratendes Gutachten abzugeben ( 58 ).

112.

Vor diesem Hintergrund ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, dass die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung unter Berücksichtigung der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten ein vorlegendes Gericht nicht daran hindern, nach ergangenem Urteil des Gerichtshofs eine nochmalige Anhörung der Parteien sowie eine erneute Beweisaufnahme vorzunehmen und in der Folge die Feststellungen zu ändern, die es im Rahmen seiner Vorlageentscheidung getroffen hat, sofern es der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts volle Wirksamkeit verschafft.

C – Zur dritten Frage

113.

Sollte der Gerichtshof entscheiden, dass die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung einer nationalen Rechtsvorschrift wie der fraglichen entgegenstehen, möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Grunde wissen, ob ihm das Unionsrecht verbieten würde, sich unter Anwendung der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschrift wegen Befangenheit abzulehnen, weil diese Rechtsvorschrift den Schutz der Grundrechte der Beteiligten in höherem Maß gewährleiste.

114.

In anderen Worten: Verbietet das Unionsrecht dem vorlegenden Gericht, eine für als mit dem Unionsrecht unvereinbar befundene nationale Rechtsvorschrift gleichwohl anzuwenden?

115.

Die Beantwortung dieser Frage lässt keinen Raum für Zweifel. Das vorlegende Gericht ist verpflichtet, eine solche Rechtsvorschrift nicht anzuwenden.

116.

Gemäß Art. 280 AEUV sind „[d]ie Urteile des Gerichtshofs … vollstreckbar“. Art. 633 GPK enthält diesen Grundsatz im Übrigen ausdrücklich.

117.

So bindet nach ständiger Rechtsprechung ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Auslegung der fraglichen unionsrechtlichen Vorschriften ( 59 ). Wie ich in Nr. 111 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, gibt der Gerichtshof im Rahmen des Art. 267 AEUV kein beratendes Gutachten ab.

118.

Sollte der Gerichtshof der Ansicht sein, dass Art. 267 AEUV, der eine unmittelbar anwendbare Rechtsvorschrift ist, einer nationalen Rechtsvorschrift wie der fraglichen entgegensteht, wäre das nationale Gericht also gehalten, diese nationale Rechtsvorschrift unangewandt zu lassen, um den Vorrang, die Wirksamkeit und die Einheitlichkeit des Unionsrechts zu gewährleisten ( 60 ).

V – Ergebnis

119.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der fraglichen entgegenstehen, die das vorlegende Gericht zwingt, sich in der Rechtssache wegen Befangenheit abzulehnen, weil es im Zuge seines dem Gerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens gemäß den Vorgaben dieser Bestimmungen den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen dieser Rechtssache dargelegt hat.

Das vorlegende Gericht ist unter Berücksichtigung des in Art. 280 AEUV verankerten Grundsatzes gehalten, die fragliche nationale Rechtsvorschrift nicht anzuwenden.

2.

Die Art. 267 AEUV und 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind dahin auszulegen, dass sie unter Berücksichtigung der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten ein vorlegendes Gericht nicht daran hindern, nach ergangenem Urteil des Gerichtshofs eine nochmalige Anhörung der Parteien sowie eine erneute Beweisaufnahme vorzunehmen und in der Folge die Feststellungen zu ändern, die es im Rahmen seiner Vorlageentscheidung getroffen hat, sofern es der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts volle Wirksamkeit verschafft.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Die in dieser und in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen betreffen denselben Rechtsstreit vor dem Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) und ich lege in diesen Rechtssachen jeweils eigene Schlussanträge vor.

( 3 ) Vgl. hierzu Vatsov, M., „European integration through preliminary rulings? The case of the Bulgarian Constitutional Court“, The preliminary reference to the Court of justice of the European Union by Constitutional Courts, German Law Journal, Bd. 16, Nr. 6, 2015.

( 4 ) Eine Darstellung der Rechtsvorschriften und der Praxis hinsichtlich der Vorabentscheidungsersuchen in Bulgarien findet sich im bulgarischen Bericht von Fartunova, M., in Coutron, L., „L’obligation de renvoi préjudiciel à la Cour de justice: une obligation sanctionnée?“, Bruylant, Bruxelles, 2014, S. 145.

( 5 ) Im Folgenden: GPK. Eine englische Fassung des GPK ist auf der Website des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) unter folgender Adresse abrufbar: http://www.vks.bg/english/vksen_p04_02.htm#PART_SEVEN__Content of Request.

( 6 ) Teil VII trägt die Überschrift „Besondere zivilrechtliche Verfahrensvorschriften für Rechtssachen, auf die das Recht der Europäischen Union anwendbar ist (seit dem 27. Juli 2007 in Kraft)“. Kapitel 59 ist den „Vorabentscheidungsersuchen“ gewidmet.

( 7 ) Freie Übersetzung.

( 8 ) Dieser Artikel sieht die subsidiäre Anwendbarkeit des GPK für alle Fragen vor, für die der GPK keine ausdrücklichen Bestimmungen enthält.

( 9 ) Dieses Übereinkommen ist auf der Website des Europarates abrufbar. Es wurde von 64 Staaten ratifiziert und trat am 1. Juli 1985 in Kraft. Von den Mitgliedstaaten haben es nur die Republik Kroatien und die Republik Finnland nicht unterzeichnet.

( 10 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. L 327, S. 27).

( 11 ) Es handelt sich um die Strafsachen Nrn. 352/2008, 438/2009, 466/2009, 527/2009 und 463/2013.

( 12 ) EU:C:2014:2454.

( 13 ) Rn. 176 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 14 ) Nr. 17120/09. In diesem Verfahren war dem Beschwerdeführer, einem tunesischen Staatsangehörigen, die Gewährung einer Familienbeihilfe durch die italienischen Behörden mit der Begründung verweigert worden, dass diese nur Inländern und Unionsbürgern vorbehalten sei. Vor den italienischen Gerichten beanstandete der Beschwerdeführer seine Diskriminierung und beantragte, dass dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung des Europa-Mittelmeerabkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits (ABl. 1998, L 97, S. 2), das soziale Diskriminierungen von tunesischen Arbeitnehmern verbietet, zur Vorabentscheidung vorgelegt werde. Diesem Antrag wurde nicht stattgegeben, die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationshof, Italien) ließ ihn scheitern, ohne die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der Beschwerdeführer befasste daraufhin den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In dieser Rechtssache musste dieser entscheiden, ob die Weigerung der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationshof), dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstieß. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte übernahm seine Begründung aus vorangegangenen ähnlichen Rechtssachen und entschied, dass Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) den innerstaatlichen Gerichten die Pflicht auferlege, die Entscheidungen, mit denen sie die Vorlage einer Frage zur Vorabentscheidung verweigerten, im Hinblick auf das anwendbare Recht zu begründen (§ 31).

( 15 ) Beschluss Abdallah (C‑144/11, EU:C:2011:565, Rn. 9 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Urteil FIRIN (C‑107/13, EU:C:2014:151, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Ich übernehme den Ausdruck, den Generalanwalt Wahl in der französischen Originalfassung seiner Schlussanträge in den Rechtssachen Venturini u. a. (C‑159/12 bis C‑161/12, EU:C:2013:529, Rn. 56 ff.) verwendet hat.

( 17 ) Urteil Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Beschluss Debiasi (C‑560/11, EU:C:2012:802, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Urteil Petru (C‑268/13, EU:C:2014:2271, Rn. 22). Vgl. auch Beschluss Abdallah (C‑144/11, EU:C:2011:565, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) Beschluss 3D I (C‑107/14, EU:C:2014:2117, Rn. 12).

( 20 ) Vgl. zum Wettbewerbsrecht Beschluss Fontaine (C‑603/11, EU:C:2012:731, Rn. 15) und zum Vergaberecht Urteil Azienda sanitaria locale n. 5 Spezzino u.a. (C‑113/13, EU:C:2014:2440, Rn. 47 und 48).

( 21 ) Beschluss Debiasi (C‑613/10, EU:C:2011:266, Rn. 20) sowie das Urteil Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24).

( 22 ) Urteil Foglia (244/80, EU:C:1981:302, Rn. 17) und Beschluss Talasca (C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 28).

( 23 ) Vgl. zur Veranschaulichung Urteil Konstantinides (C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 61) und Beschlüsse Mlamali (C‑257/13, EU:C:2013:763, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Szabó (C‑204/14, EU:C:2014:2220, Rn. 22 ff.).

( 24 ) Beschluss Talasca (C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Urteil Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 15).

( 25 ) Beschluss Abdallah (C‑144/11, EU:C:2011:565, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 26 ) Beschluss 3D I (C‑107/14, EU:C:2014:2117, Rn. 9). Vgl. auch Urteil Pringle (C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie den Beschluss D'Aniello u. a. (C‑89/13, EU:C:2014:299, Rn. 17).

( 27 ) Urteile Winner Wetten (C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 39) und VEBIC (C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 47).

( 28 ) Vgl. u. a. Urteil Irish Creamery Milk Suppliers Association u.a. (36/80 und 71/80, EU:C:1981:62, Rn. 6 und 7 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 29 ) Vgl. Beschluss Talasca (C‑19/14, EU:C:2014:2049, Rn. 21). Hervorhebung nur hier.

( 30 ) Urteil Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C. (C‑497/12, EU:C:2015:436, Rn. 17).

( 31 ) ABl. 2012, C 338, S. 1, im Folgenden: Empfehlungen.

( 32 ) Vgl. u. a. Beschluss Debiasi (C‑613/10, EU:C:2011:266) sowie Urteil Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).

( 33 ) Protokoll, das am 10. Juli 2013 vom Ministerkomitee des Europarates angenommen wurde. Das in diesem Protokoll vorgesehene Verfahren wird den Höchstgerichten der Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben, die Möglichkeit eröffnen, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Ersuchen um ein Gutachten über Fragen betreffend die Auslegung oder Anwendung der in der EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten vorzulegen.

( 34 ) Siehe Fn. 8 der vorliegenden Schlussanträge.

( 35 ) Vgl. den bulgarischen Bericht von Fartunova, M., oben in Fn. 4 angeführt, S. 147.

( 36 ) Vgl. hierzu den Leitfaden zu Art. 6, abrufbar unter der Internetadresse http://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_6_FRA.pdf.

( 37 ) Urteil TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 38 ) Urteil TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 27).

( 39 ) EGMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere/Belgien, 23. Juni 1981, Reihe A, Nr. 43, § 58.

( 40 ) EGMR, Wettstein/Schweiz, Nr. 33958/96, § 43, EGMR 2000-XII, und Micallef/Malta, Nr. 17056/06, § 93, EGMR 2009.

( 41 ) EGMR, Buscemi/Italien, Nr. 29569/95, § 67 und 68, EGMR 1999-VI.

( 42 ) Urteil TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 43 ) Urteil TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 44 ) Gerechtigkeit muss nicht nur geübt werden, es muss auch erkennbar sein, dass Gerechtigkeit geübt wird.

( 45 ) Urteile TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil des EGMR Micallef/Malta, oben in Fn. 40 angeführt, §§ 98 und 99.

( 46 ) EGMR, Morel/Frankreich, Nr. 34130/96, § 45, EGMR 2000-VI.

( 47 ) Ebd.

( 48 ) Vgl. u. a. EGMR, Nerattini/Griechenland, Nr. 43529/07, § 23.

( 49 ) Vgl. u. a. EGMR, Garycki/Polen, Nr. 14348/02, § 66, und Nestak/Slowakei, Nr. 65559/01, § 88.

( 50 ) EGMR, Phillips/Vereinigtes Königreich, Nr. 41087/98, § 35, EGMR 2001-VII.

( 51 ) Es sei nämlich daran erinnert, dass Herr Ognyanov bereits zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, nachdem er in einem von den dänischen Gerichten erlassenen Urteil der darin festgestellten Straftaten für schuldig befunden worden war.

( 52 ) C‑173/09, EU:C:2010:581.

( 53 ) Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 54 ) Urteil Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 55 ) Vgl. u. a. Urteile Irish Creamery Milk Suppliers Association u.a. (36/80 und 71/80, EU:C:1981:62, Rn. 7) und Sibilio (C‑157/11, EU:C:2012:148, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 56 ) Urteil Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 57 ) Urteil Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 58 ) Vgl. u. a. Urteil Kleinwort Benson (C‑346/93, EU:C:1995:85, Rn. 24).

( 59 ) Urteil Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29 und 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 60 ) Vgl. Urteile Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).