SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 3. Mai 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑554/14

Strafverfahren

gegen

Atanas Ognyanov

(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2008/909/JI — Art. 17 — Für die Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßnahme maßgebliches Recht — Nationale Vorschrift des Vollstreckungsstaats, die die Gewährung eines Straferlasses wegen der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht — Zulässigkeit — Strafrechtlicher Territorialitätsgrundsatz — Grundsatz der individuellen Strafzumessung — Ziel der sozialen Wiedereingliederung des Betroffenen — Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

I – Einleitung

1.

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof aufgefordert, sich mit einem Gesichtspunkt der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu beschäftigen, der in der bisherigen Rechtsprechung relativ selten behandelt wurde. Es geht darum, welches Recht und welches Verfahren auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Anwendung kommen, wenn eine verurteilte Person auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ( 2 ) vom Mitgliedstaat der Verurteilung ( 3 ) in seinen Herkunfts- oder Wohnortmitgliedstaat ( 4 ) überstellt wird.

2.

Insbesondere stellt sich der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) die Frage, welche Vorschriften auf die Gewährung eines Straferlasses zur Anwendung kommen.

3.

Mit Urteil vom 28. November 2012 wurde Herr Atanas Ognyanov, ein bulgarischer Staatsangehöriger, von einem dänischen Gericht wegen Begehung eines schweren Raubes und Mordes auf dänischem Hoheitsgebiet zu einer 15‑jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er befand sich ab dem 10. Januar 2012 in einer dänischen Strafanstalt in Haft und wurde am 1. Oktober 2013 von dort den bulgarischen Justizbehörden überstellt.

4.

Herr Ognyanov hat während seiner Haft in Dänemark gearbeitet.

5.

Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) hat nun über Fragen nach den Modalitäten der Vollstreckung dieser Strafe und insbesondere über die noch zu vollstreckende Reststrafe zu entscheiden. In diesem Rahmen stellte sich die Frage eines Straferlasses aufgrund der vom Betroffenen während seiner Haft in Dänemark geleisteten Arbeit.

6.

Da nach dänischem Recht die Gewährung einer solchen Verkürzung der Strafe nicht möglich ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob es im Einklang mit der Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof, Bulgarien) berechtigt ist, die günstigeren bulgarischen Rechtsvorschriften auf den von Herrn Ognyanov in Dänemark verbüßten Zeitraum anzuwenden. Nach dem Nakazatelen Kodeks (bulgarisches Strafgesetzbuch) ( 5 ) werden nämlich zwei Arbeitstage drei Tagen Freiheitsentzug gleichgesetzt. Auf diese Weise würde die Strafe des Betroffenen nicht um ein Jahr, acht Monate und 20 Tage verkürzt, sondern um zwei Jahre, sechs Monate und 24 Tage, was ihm zu einer früheren Freilassung verhelfen würde ( 6 ).

7.

Zu diesem Zweck stützt sich das vorlegende Gericht auf den Wortlaut von Art. 17 des Rahmenbeschlusses.

8.

Nach dieser Vorschrift ist auf die Vollstreckung einer Sanktion das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Der Unionsgesetzgeber weist darauf hin, dass daher nur die Justizbehörden dieses Staates über die Strafvollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen können, vorausgesetzt, sie rechnen zum einen die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der bereits im Ausstellungsstaat verbüßt wurde, an und erfüllen zum anderen die Auskunftspflicht gemäß Art. 17 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses.

9.

Das vorlegende Gericht stellt dem Gerichtshof also die Frage, ob es nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses berechtigt ist, anstelle der strengeren dänischen Rechtsvorschriften das bulgarische Recht anzuwenden und dem Betroffen wegen der vor seiner Überstellung geleisteten Arbeit einen Straferlass zu gewähren.

10.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses einer nationalen Vorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, und zwar auch dann, wenn diese Vorschrift für die verurteilte Person günstiger ist.

11.

Bei meiner Würdigung lasse ich mich von der Wahrung zweier Grundsätze leiten, dem strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatz und dem Grundsatz der individuellen Strafzumessung, auf dem jegliches Strafvollzugsrecht beruht. Ich werde die Tragweite dieser Grundsätze ausloten und die Gründe erläutern, aus denen ihre Einhaltung verlangt, dass für die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und insbesondere für die Gewährung einer Strafverkürzung das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich ist, in dem sich die verurteilte Person tatsächlich in Haft befindet. Ich werde auch auf die notwendige Wahrung der nationalen Souveränität des Ausstellungsstaats pochen und darauf, was das wechselseitige Vertrauen, das die Mitgliedstaaten einander im Rahmen der Durchführung des Rahmenbeschlusses entgegenbringen müssen, ausmacht.

12.

Zwar räume ich ein, dass die bulgarischen Rechtsvorschriften in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens für den Betroffenen tatsächlich günstiger zu sein scheinen, komme aber trotzdem zum Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der jeweiligen territorialen Zuständigkeitsbereiche der Vollstreckungsstaat nicht rechtmäßig bestimmte Vorschriften seines Strafgesetzbuchs auf die Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats anwenden kann. Mangels Anwendbarkeit der bulgarischen Rechtsvorschriften kann die in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 7 ) enthaltene Regel der Rückwirkung der milderen Strafe also keine Anwendung finden.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

1. Rahmenbeschluss

13.

Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ( 8 ) justizieller Entscheidungen, nach dem diese ohne jegliches Genehmigungsverfahren unmittelbar in der gesamten Europäischen Union vollstreckt werden ( 9 ).

14.

Nach seinem neunten Erwägungsgrund und seinem Art. 3 Abs. 1 soll der Rahmenbeschluss zur Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile ( 10 ) sicherstellen, mit denen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ausstellungsstaat eine Sanktion ( 11 ) der Freiheitsstrafe verhängt wird.

15.

Als notwendiges Pendant zur Freizügigkeit soll die Überstellung der verurteilten Person in ihren Herkunfts- oder Wohnsitzstaat ihre Resozialisierungschancen erhöhen, indem es ihr ermöglicht wird, ihre familiären, sprachlichen und kulturellen Bindungen aufrechtzuerhalten.

16.

Nachdem sich der Ausstellungsstaat vergewissert hat, dass die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat zur Erreichung dieses Ziels beitragen wird, übermittelt er den Behörden dieses Staates das die Sanktion verhängende Urteil nach den in den Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses vorgeschriebenen Verfahren.

17.

Er fügt hierzu eine ordnungsgemäß ausgefüllte Bescheinigung bei, für die in Anhang I des Rahmenbeschlusses ein Formblatt zu finden ist. Diese Bescheinigung umfasst verschiedene Rubriken, die es dem Ausstellungsstaat ermöglichen, Angaben zur Identität des strafrechtlich Verfolgten und zum Gericht, das das Urteil verhängt hat, zur Art der begangenen Straftat sowie zu Art und Dauer der Sanktion zu machen.

18.

Unter Rubrik i dieses Anhangs („Information über das Urteil, mit dem die Sanktion verhängt wurde“) fordert Nr. 2, die die Angaben zur Dauer der Sanktion betrifft, die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats auf, die folgenden Nummern auszufüllen:

„2.1.

Gesamtdauer der Sanktion (in Tagen): …

2.2.

Gesamtzeit des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde (in Tagen):

… am … (Angabe des Tags, an dem die Berechnung erfolgt ist: TT‑MM‑JJJJ): …

2.3.

Anzahl der Tage, die von der Gesamtdauer der Sanktion aus anderen als den unter Nummer 2.2 genannten Gründen (z. B. Amnestie, Begnadigung oder Gnadenakte usw., die in Bezug auf die Sanktion bereits gewährt wurden) abzuziehen sind:

… am (Angabe des Tags, an dem die Berechnung erfolgt ist: TT‑MM-JJJJ) …

…“

19.

Art. 8 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein … übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.“

20.

Art. 17 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) des Rahmenbeschlusses – um dessen Auslegung hier ersucht wird – lautet:

„(1)   Auf die Vollstreckung einer Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung.

(2)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats rechnet die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs an.

(3)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats unterrichtet die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats auf deren Ersuchen über die für eine etwaige vorzeitige oder bedingte Entlassung geltenden Bestimmungen. Der Ausstellungsstaat kann der Anwendung dieser Bestimmungen zustimmen oder die Bescheinigung zurückziehen.

(4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass bei der Entscheidung über die vorzeitige oder bedingte Entlassung die vom Ausstellungsstaat angegebenen Bestimmungen seines nationalen Rechts berücksichtigt werden, nach denen die betreffende Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anspruch auf vorzeitige oder bedingte Entlassung hat.“

21.

Nach seinem Art. 26 Abs. 1 erster Gedankenstrich ersetzt der Rahmenbeschluss ab dem 5. Dezember 2011 das am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichnete Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen ( 12 ) und das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997.

22.

Nach seinem Art. 29 Abs. 1 mussten die Mitgliedstaaten dem Rahmenbeschluss vor dem 5. Dezember 2011 nachkommen. Das Königreich Dänemark hat ihn umgesetzt, die Republik Bulgarien nicht.

B – Bulgarisches Recht

23.

Art. 41 Abs. 3 NK sieht vor, dass die von der verurteilten Person geleistete Arbeit für eine Verkürzung der Strafdauer berücksichtigt wird, wobei zwei Arbeitstage drei Tagen Freiheitsentzug gleichgesetzt werden.

24.

Art. 457 des Nakazatelno protsesualen Kodeks (bulgarische Strafprozessordnung) ( 13 ) („Entscheidung des Gerichts über mit der Vollstreckung des Urteils in Zusammenhang stehende Fragen“) sieht vor:

„(1)   Sobald die verurteilte Person in der Republik Bulgarien ankommt oder festgestellt wird, dass sie sich auf ihrem Hoheitsgebiet befindet, übermittelt der Generalstaatsanwalt das zur Vollstreckung angenommene Urteil sowie die ihm beigefügten Unterlagen an den Sofiyski gradski sad [(Stadtgericht Sofia …)] mit einem Vorschlag, wie über die Fragen im Zusammenhang mit seiner Vollstreckung zu entscheiden ist.

(2)   Der [Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia)] entscheidet über den Vorschlag in mündlicher Verhandlung, zu der die verurteilte Person geladen wird, unter Beteiligung des Staatsanwalts durch Beschluss.

(3)   In dem Beschluss werden das Aktenzeichen und das Datum des zur Vollstreckung angenommenen Urteils, die Strafsache, in der es erlassen wurde, der Wortlaut des bulgarischen Gesetzes, das die Strafbarkeit für die begangene Straftat vorsieht, und die Dauer der vom ausländischen Gericht verhängten Freiheitsstrafe angeführt und die anfängliche Art der zu verbüßenden Strafe sowie die Art der Strafanstalt bestimmt.

(4)   Liegt die im bulgarischen Recht für die begangene Straftat vorgesehene Höchstdauer der Freiheitsstrafe unter der im Urteil festgelegten Dauer, verkürzt sie der [Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia)] auf diese Dauer. Sieht das bulgarische Recht keine Freiheitsstrafe für die begangene Straftat vor, setzt er eine Strafe fest, die am ehesten der in dem Urteil verhängten Sanktion entspricht.

(5)   Der Zeitraum der Untersuchungshaft und der bereits im Urteilsstaat verbüßten Strafe wird angerechnet und – wenn die Sanktionen unterschiedlich sind – bei der Bestimmung der Strafdauer berücksichtigt.

(6)   Im Urteil verhängte zusätzliche Strafen müssen vollstreckt werden, wenn sie in den entsprechenden Vorschriften des bulgarischen Rechts vorgesehen sind und im Urteilsstaat nicht vollstreckt wurden.

(7)   Der Beschluss des Richters ist vor dem Sofiyski Apelativen sad [(Berufungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien)] anfechtbar.“

III – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

25.

Herr Ognyanov, ein bulgarischer Staatsangehöriger, wurde in Dänemark wegen Begehung eines schweren Raubes und Mordes auf dänischem Hoheitsgebiet zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er befand sich ab dem 10. Januar 2012 in einer dänischen Strafanstalt in Haft und wurde am 1. Oktober 2013 von dort den bulgarischen Justizbehörden überstellt.

26.

Herr Ognyanov hat während seiner Haft in Dänemark, genauer genommen vom 23. Januar 2012 bis zum 30. September 2013, gearbeitet.

27.

Die dänischen Justizbehörden stützten sich auf die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses, um die Überstellung des Betroffenen vorzunehmen. Insbesondere ersuchten sie die bulgarischen Behörden, sie über die Strafe, die diese zu vollstrecken gedachten, und über die für die vorzeitige Entlassung geltenden Regeln zu unterrichten. Insoweit wiesen sie ausdrücklich darauf hin, dass das dänische Recht eine Verkürzung der Strafe des Betroffenen aufgrund der von ihm während seiner Haft geleisteten Arbeit nicht gestatte. Meines Erachtens ist nicht ausgeschlossen, dass die dänischen Justizbehörden die von Herrn Ognyanov geleistete Arbeit auf andere Weise berücksichtigt haben.

28.

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die bulgarischen Justizbehörden das von den dänischen Justizbehörden erlassene Urteil anerkannt und die Vollstreckung der verhängten Strafe übernommen haben. Zu diesem Behufe und gemäß Art. 457 NPK befasste der Generalstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia das vorlegende Gericht mit der Entscheidung über Fragen zu den Modalitäten der Vollstreckung der Strafe und insbesondere mit der Festsetzung der noch zu vollstreckenden Strafe.

29.

In diesem Rahmen fragt sich das vorlegende Gericht, ob es im Einklang mit der Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) berechtigt ist, dem Betroffenen aufgrund der von diesem während seiner Haft in Dänemark geleisteten Arbeit einen Straferlass zu gewähren.

30.

In einem Urteil vom 12. November 2013 war der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) nämlich der Ansicht, dass für die Zwecke der Anwendung des Art. 457 Abs. 5 NPK, „die vom überstellten bulgarischen Verurteilten im Urteilsstaat geleistete gemeinnützige Arbeit … vom [Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia)] für eine Verkürzung der Strafdauer zu berücksichtigen [ist], es sei denn, die vom Ausstellungsstaat festgesetzte zu verbüßende Reststrafe wurde unter Berücksichtigung der geleisteten Arbeit berechnet“.

31.

Der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) stützte sich auf den Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 des Überstellungsübereinkommens sowie auf die im erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen enthaltenen Ergänzungen.

32.

Seiner Ansicht nach bedeutet die Überstellung des Häftlings insbesondere, dass dem Vollstreckungsstaat eine ausschließliche Zuständigkeit in Bezug auf die Vollstreckung der Strafe sowohl im Fall der Fortsetzung der Vollstreckung als auch im Fall der Umwandlung der Sanktion eingeräumt wird.

33.

Es ist von Interesse, auf die Begründung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) einzugehen:

„Das bulgarische Recht sieht die Möglichkeit vor, die Freiheitsstrafe auf der Grundlage von Art. 41 Abs. 3 NK zu verkürzen, wenn der überstellte bulgarische Staatsbürger, während er sie verbüßte, gemeinnützige Arbeit geleistet hat. Es steht außer Zweifel, dass dem Verurteilten [Straf-]Erlass gewährt werden muss, wenn er nach seiner Überstellung nach Bulgarien arbeitet. Diese Berücksichtigung muss jedoch auch erfolgen, wenn er im Verurteilungsstaat eine Arbeit geleistet hat, wie sie Art. 178 des [Zakon za izpalnenie na nakazaniyata i zadarzhanieto pod strazha (Gesetz über den Strafvollzug und die Untersuchungshaft) ( 14 ) ] vorschreibt, auch wenn eine solche Berücksichtigung in den Rechtsvorschriften nicht vorgesehen ist. Die Arbeitsleistung ist nämlich nicht Bestandteil der eigentlichen Freiheitsstrafe, sondern eine Folge ihrer Vollstreckung. Man kann daraus ableiten, dass die Berücksichtigung der geleisteten Arbeit für eine Verkürzung der Strafe nach Art. 41 Abs. 3 NK nicht mit der individuellen Zumessung (Festsetzung) der Strafe zusammenhängt, sondern dass es um eine Handlung im Zusammenhang mit ihrer Vollstreckung geht. Das löst die Zuständigkeit des Vollstreckungsstaats aus, dessen Regeln für die Vollstreckung der Strafe vollständig zur Anwendung kommen, auch was die Gründe und die Formen der Umwandlung der Strafe betrifft.

… Die Anrechnung der geleisteten Arbeit für eine Verkürzung der Strafdauer gemäß Art. 41 Abs. 3 NK berücksichtigt die positiven Auswirkungen der Arbeit auf den Prozess der Rehabilitation und Wiedereingliederung der verurteilten Person. Die berufliche Eingliederung der verurteilten Person ist eine wichtige Vorbedingung für ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft, wobei ihr Rechtscharakter und ihre Wirkungen einer einheitlichen Bewertung unterliegen, ohne dass unterschieden würde, ob die Arbeit im Ausland oder auf dem Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien geleistet wurde. Nach dem Gesetz – gemäß Art. 41 Abs. 3 NK – wird der Zeitraum, in dem die verurteilte Person gemeinnützige Arbeit geleistet hat, unabhängig vom Ort, an dem diese Arbeit geleistet wurde, als Zeitraum des Vollzugs der Freiheitsstrafe betrachtet. Die Anrechnung der Arbeitstage ist ein gesetzliches Vorrecht, das keine Neufestsetzung der vom Verurteilungsstaat verhängten Strafe und auch nicht der ‚Dauer‘ dieser Strafe ist, sondern eine zwingend geltende günstige Folge, die allein auf dem Umstand beruht, dass der Verurteilte gemeinnützige Arbeit geleistet hat, während er seine Freiheitsstrafe verbüßte und sich in Haft befand. Es handelt sich folglich um eine Abänderung der Sanktion[ ( 15 )] im Sinne von Art. 12 des Überstellungsübereinkommens.

In Anbetracht all dessen muss für die Entscheidung der Frage der Überstellung eines verurteilten bulgarischen Staatsangehörigen zwischen dem Generalstaatsanwalt der Republik Bulgarien und der zuständigen Behörde des anderen Staates die Vereinbarung, zu der diese beiden Seiten gelangt sind, mit genauen Informationen einhergehen, ob die verurteilte Person während der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in einer Strafanstalt … im Ausland Arbeit geleistet hat (oder an Kursen und einer Ausbildung teilgenommen hat), wenn ja, in welchem Zeitraum und ob die Dauer der vom Ausstellungsstaat festgesetzten zu verbüßenden Reststrafe nach Berücksichtigung der im Ausland geleisteten Arbeit berechnet worden ist“ ( 16 ).

IV – Vorlagefragen

34.

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

35.

Die deutsche, die spanische, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben Erklärungen eingereicht.

36.

Bedauerlicherweise haben dies weder die Parteien des Ausgangsverfahrens noch die bulgarische Regierung getan. Sie haben keine schriftliche Erklärung eingereicht und auch nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen.

V – Vorbemerkungen

37.

Bevor ich mit der Prüfung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen beginne, drängen sich zwei Bemerkungen auf, um die Zuständigkeit des Gerichtshofs für deren Beantwortung im Wege der Vorabentscheidung und die Sachdienlichkeit der Auslegung von Art. 17 des Rahmenbeschlusses zu bestätigen.

38.

Erstens erfolgte die Überstellung des Betroffenen entgegen der Vorlageentscheidung nicht auf der Grundlage der Vorschriften des Rahmenbeschlusses, sondern auf der Grundlage der Bestimmungen des Überstellungsübereinkommens.

39.

Dies ist ausdrücklich dem vom dänischen Justizministerium am 26. März 2013 gestellten Ersuchen auf Überstellung von Herrn Ognyanov sowie sämtlichen nachfolgenden und damit in Zusammenhang stehenden Schreiben zu entnehmen, die in der nationalen Akte enthalten sind.

40.

Die dänischen Justizbehörden nahmen mangels Umsetzung des Rahmenbeschlusses durch die Republik Bulgarien eindeutig auf die Bestimmungen des Überstellungsübereinkommens Bezug.

41.

Zieht dieser Umstand automatisch die Unzuständigkeit des Gerichtshofs nach sich?

42.

Das ist nicht anzunehmen.

43.

Denn ich denke, dass das vorlegende Gericht in seinen Fragen ganz bewusst die Vorschriften des Rahmenbeschlusses im Blick hatte. Nach Art. 29 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses war die Republik Bulgarien nämlich grundsätzlich verpflichtet, diesen bis spätestens 5. Dezember 2011 umzusetzen. Ab diesem Datum musste also der Rahmenbeschluss gemäß seinem Art. 26 Abs. 1 erster Gedankenstrich das Überstellungsübereinkommen sowie dessen Zusatzprotokoll ersetzen.

44.

Da das Ersuchen auf Überstellung von Herrn Ognyanov am 26. März 2013 erfolgte und dessen Überstellung infolge der Bewilligung der bulgarischen Behörden am 1. Oktober 2013 stattfand, hätten daher für die Überstellung des Betroffenen zwischen den beiden Mitgliedstaaten grundsätzlich allein die Vorschriften des Rahmenbeschlusses gelten müssen.

45.

Das vorlegende Gericht hat daher entschieden, den Gerichtshof mit einer Frage zur Auslegung der Vorschriften des Rahmenbeschlusses zu befassen.

46.

Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens ist es ja allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen ( 17 ).

47.

Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, wenn die erbetene Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 18 ).

48.

Keine dieser Voraussetzungen liegt aber hier vor.

49.

Daher sehe ich nichts, was dagegen sprechen würde, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache entscheidet und die Vorschriften des Rahmenbeschlusses auslegt.

50.

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass eines der Hindernisse, das der Erfüllung der Pflicht des vorlegenden Gerichts zur unionsrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts – und ich meine hier die Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) zum Geltungsbereich des Art. 41 Abs. 3 NK – hätte entgegenstehen können, heute beseitigt ist.

51.

Im Urteil vom 19. April 2016, DI ( 19 ), hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung „die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist“ ( 20 ).

52.

Der Grundsatz, den der Gerichtshof aufstellt, gilt gleichermaßen im Hinblick auf den Rahmenbeschluss.

53.

Ich weise nämlich darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino ( 21 ), entschieden hat, dass der zwingende Charakter von Rahmenbeschlüssen, der mit den gleichen Worten wie in Art. 288 Abs. 3 AEUV zum Ausdruck gebracht wird, sowie der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gilt ( 22 ), für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge haben ( 23 ). Ich erinnere daran, dass diese Verpflichtung dem System des AEU-Vertrags immanent ist, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden ( 24 ).

54.

Daher ist eine mit Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses konforme Auslegung des Art. 41 Abs. 3 NK meines Erachtens sehr wohl möglich.

55.

Außerdem ist das vorlegende Gericht dabei nicht durch die notwendige Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots eingeschränkt. Bekanntlich darf nach ständiger Rechtsprechung nach diesen Grundsätzen die „Verpflichtung [zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung] … nicht dazu führen, dass auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieses Beschlusses verstoßen, festgelegt oder verschärft wird“ ( 25 ).

56.

Doch im vorliegenden Fall betrifft die Bestimmung, die Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist, nicht den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Betroffenen, sondern eine Modalität der Vollstreckung seiner Strafe und insbesondere die Gewährung eines Straferlasses.

57.

Angesichts dessen wird in der Folge und mangels Umsetzung des Rahmenbeschlusses in Bulgarien nichts dagegen sprechen, dass das vorlegende Gericht die einschlägigen Vorschriften des NK so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegt, um das im Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen.

VI – Würdigung

A – Zur ersten Frage

58.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die dem Vollstreckungsstaat in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ermöglichen würde, der verurteilten Person aufgrund der Arbeit, die sie während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleistet hat, einen Straferlass zu gewähren.

59.

Nach Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist auf die Vollstreckung einer Sanktion das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar, was auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung gilt.

60.

In der vorliegenden Rechtssache stellt sich der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) daher die Frage, ob das Recht des Vollstreckungsstaats, d. h. konkret Art. 41 Abs. 3 NK, auf den vom Betroffenen in Dänemark verbüßten Haftzeitraum anzuwenden ist.

61.

Der Wortlaut, den der Unionsgesetzgeber in Art. 17 Abs. 1 erster Satz des Rahmenbeschlusses verwendet, ist tatsächlich geeignet, Zweifel in Bezug auf die Verteilung der Zuständigkeiten für die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu wecken, und die Materialien zu dieser Vorschrift tragen nicht wirklich zur Klärung hinsichtlich der Auslegung dieser Bestimmung bei.

62.

Zum einen definiert der Unionsgesetzgeber nicht, was unter „Vollstreckung einer Sanktion“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses gemeint ist.

63.

Zum anderen erläutert er nicht, ob es sich um die Vollstreckung der Strafe ab Verkündung des Urteils im Ausstellungsstaat oder erst ab Überstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsstaat handelt.

1. Definition des Begriffs „Vollstreckung der Strafe“

64.

Die Definition des Begriffs „Vollstreckung der Strafe“ ist eine unabdingbare Voraussetzung.

65.

Wenn nämlich über die jeweiligen Zuständigkeiten des Ausstellungsstaats und des Vollstreckungsstaats in Bezug auf die eigentliche Vollstreckung einer Sanktion entschieden werden soll, ist dieser Begriff vorab sorgfältig zu definieren.

66.

Wenn überdies die gegenseitige Anerkennung der Urteile, mit denen eine Freiheitsstrafe verhängt wird, sichergestellt und eine wirksame Vollstreckung der Sanktionen in einem anderen Staat als dem Ausstellungsstaat gewährleistet werden soll, ist dieser Begriff „auf Unionsebene“ zu definieren, denn die Komplexität und manchmal sogar die Ungewissheit der Vorschriften und Gepflogenheiten für die Vollstreckung der strafrechtlichen Sanktionen können diese Aufgabe schwierig gestalten. Die Wirksamkeit der Vollstreckung der Strafen ist aber ein wesentlicher Bestandteil der Strafpolitik im Allgemeinen und des europäischen Rechtsraums auf dem Gebiet des Strafrechts im Besonderen.

67.

Ich muss daher meine Würdigung mit einer Definition des Begriffs „Vollstreckung der Strafe“ beginnen.

68.

Gemäß Art. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses umfasst die „Strafe“ oder, um den in der deutschen Fassung des Rahmenbeschlusses verwendeten Ausdruck zu gebrauchen, die „Sanktion“ ( 26 ) eine Freiheitsstrafe, die wegen einer Straftat und aufgrund eines Strafverfahrens für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit von einem nationalen Gericht verhängt worden ist ( 27 ).

69.

Die Maßnahmen, die eine „Strafe“ darstellen, fallen unter Art. 49 der Charta und unter Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 28 ).

70.

Die Maßnahmen zur „Vollstreckung der Strafe“ umfassen also die Durchführung einer „Strafe“ oder einer „Sanktion“. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind diese Maßnahmen kein integraler Bestandteil der „Strafe“ und fallen daher nicht unter Art. 7 EMRK ( 29 ).

71.

Die Vollstreckung einer Strafe erfolgt nach der rechtskräftigen Verurteilung zur Sanktion. Es handelt sich demnach um das letzte Stadium des Strafverfahrens, in dem der Richterspruch umgesetzt wird.

72.

Sie umfasst sämtliche Maßnahmen, die ihrer Art nach zum einen, wie etwa der Haftbefehl, die materielle Vollstreckung der Strafe sicherstellen und zum anderen die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person gewährleisten. In diesem Rahmen sehen sich die zuständigen Justizbehörden veranlasst, die Modalitäten des Strafvollzugs und dessen Gestaltung festzulegen, indem sie z. B. über den Freigang, die Ausgangsgenehmigungen, den offenen Vollzug, die Fraktionierung und die Aussetzung der Strafe, Maßnahmen der vorzeitigen oder bedingten Entlassung des Strafgefangenen oder die elektronische Überwachung entscheiden. Das Strafvollstreckungsrecht erfasst auch Maßnahmen, die nach der Freilassung der verurteilten Person ergriffen werden können, wie etwa die Unterstellung unter richterliche Aufsicht oder auch die Teilnahme an Wiedereingliederungsprogrammen oder etwa Maßnahmen zur Opferentschädigung.

73.

Im Rahmen der behandelten Rechtssachen war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte häufig mit Fällen konfrontiert, in denen die Unterscheidung zwischen der Strafe und den Maßnahmen, mit denen ihre Vollstreckung gewährleistet werden soll, in der Praxis nicht immer eindeutig war. Unter den Maßnahmen, die nach der rechtskräftigen Verurteilung zur Sanktion erlassen werden, sind also jene herauszugreifen, die in Wirklichkeit den Umfang der Strafe neu festlegen oder ändern können ( 30 ).

74.

Doch die Definition des Begriffs „Vollstreckung der Strafe“ reicht nicht aus, um das in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfene Problem zu lösen.

2. Sinn und Tragweite von Art. 17 des Rahmenbeschlusses

75.

Die strikte Anwendung des Grundsatzes, wonach auf die „Vollstreckung einer Sanktion das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar [ist]“ wirft an sich eine Schwierigkeit auf, soweit die Vollstreckung der Strafe bereits im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats begonnen hat, um unter der Gerichtsbarkeit des Vollstreckungsstaats fortgesetzt zu werden. Von welcher „Vollstreckung“ ist die Rede? Meint der Gesetzgeber die Vollstreckung der Sanktion ab der Verkündung des Urteils durch den Ausstellungsstaat oder die Vollstreckung der Sanktion ab Überstellung der verurteilten Person an die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats?

76.

Die Antwort drängt sich auf, wenn wir die Grundsätze, die dem Rahmenbeschluss zugrunde liegen, und die Systematik, in die Art. 17 des Rahmenbeschlusses eingebettet ist, berücksichtigen.

a) Der strafrechtliche Territorialitätsgrundsatz

77.

Art. 17 des Rahmenbeschlusses stellt darauf ab, die Kollision von Gesetzen und Zuständigkeiten in Bezug auf die Vollstreckung der Strafe zu regeln, die sich unvermeidlich aus der Überstellung der verurteilten Person von den Behörden des Ausstellungsstaats an die Behörden des Vollstreckungsstaats ergibt. Die Überstellung einer verurteilten Person impliziert nämlich zum einen, dass die Vollstreckung ihrer Strafe im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats begonnen hat, um gegebenenfalls in einer Strafanstalt des Vollstreckungsstaats fortgesetzt zu werden ( 31 ).

78.

Das erklärt, warum der Vollstreckungsstaat gemäß Art. 17 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist, bei der Berechnung der in seinem Hoheitsgebiet noch zu vollstreckenden Strafe die Dauer der im Ausstellungsstaat „bereits verbüßten“ Freiheitsstrafe anzurechnen.

79.

Würde man dem Vollstreckungsstaat gestatten, sein Recht rückwirkend auf den Beginn der Vollstreckung der Strafe des Betroffenen im Ausstellungsstaat anzuwenden, verstieße dies gegen den allgemein anerkannten strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatz.

80.

Dieser strafrechtliche Territorialitätsgrundsatz ist ein sämtlichen Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz. Das Strafrecht wird territorial angewandt, weil es Ausdruck der Souveränität der Mitgliedstaaten ist. Die örtliche Zuständigkeit der Strafgerichte ist daher normalerweise in den nationalen Rechtsordnungen zwingendes Recht. Aus der örtlichen Zuständigkeit leitet sich zwingend das anwendbare nationale Recht ab.

81.

Daher geht es grundsätzlich nicht darum, ob es im Interesse der betroffenen Person besser wäre, nach dem in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta enthaltenen Grundsatz der Rückwirkung in mitius ( 32 ) bulgarisches Strafrecht anzuwenden, weil es sich um ein für den Betroffenen im Vergleich zum dänischen Strafrecht günstigeres Recht handelt. Eine solche Wahlmöglichkeit besteht in einem grenzüberschreitenden Fall wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen nicht, weil sich die Anwendbarkeit des Strafrechts aus dem Territorialitätsgrundsatz selbst ergibt.

82.

Der Grundsatz der Rückwirkung in mitius erscheint mir im Übrigen hier als solcher nicht anwendbar. Üblicherweise findet dieser Grundsatz nämlich auf den Bereich der Kollision von Gesetzen in zeitlicher Hinsicht und nicht, wie hier, auf den Bereich der Kollision von Gesetzen in räumlicher Hinsicht Anwendung. Zweifellos würde dieser Grundsatz demnach Anwendung finden, wenn die von Herrn Ognyanov begangene Straftat infolge einer Änderung des dänischen Strafrechts nach seiner noch fortwirkenden Verurteilung entfiele. Unter diesen Umständen hätten die bulgarischen Justizbehörden keine andere Wahl, als den Betroffenen freizulassen. Würde jedoch die Strafbarkeit der vom Betroffenen begangenen Handlung durch das bulgarische Recht aufgehoben, bezweifle ich stark, dass dies automatisch seine Freilassung nach sich ziehen würde. Denn diese Handlung wird nach dänischem Recht wegen einer Störung der dänischen öffentlichen Ordnung bestraft und fällt nicht in den Geltungsbereich des bulgarischen Rechts. Außerdem ist es bemerkenswert, dass ein solcher Fall zur Folge hätte, die Überstellung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. e des Überstellungsübereinkommens unmöglich zu machen.

83.

Die Vorschriften des Rahmenbeschlusses scheinen im Übrigen meine Ansicht zu bestätigen. Der Rahmenbeschluss verlangt für die in seinem Art. 7 Abs. 1 aufgeführten Straftaten nämlich keine beiderseitige Strafbarkeit und schreibt sie für die anderen Straftaten nur für den Fall vor, dass der Vollstreckungsstaat von der Möglichkeit nach Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses Gebrauch macht, darauf zu bestehen. Diese Regelung scheint mir also die Territorialität des Strafrechts zu bestätigen und führt dazu, den Grundsatz der Rückwirkung in mitius in einem Fall wie dem hier vorliegenden als unangemessen auszuschließen.

b) Der Grundsatz der individuellen Strafzumessung

84.

Der Rahmenbeschluss verfolgt als Hauptzweck die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Personen, indem er der Person, der infolge einer strafrechtlichen Verurteilung die Freiheit entzogen wurde, ermöglicht, ihre Strafe oder Reststrafe im sozialen Umfeld ihrer Herkunft zu verbüßen.

85.

Das lässt sich dem neunten Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eindeutig entnehmen ( 33 ).

86.

Dies bedeutet, dass sämtliche Maßnahmen in Bezug auf die Strafvollstreckung und deren Gestaltung von den Justizbehörden individuell zu treffen sind, um unter Wahrung der Interessen der Gesellschaft und der Opferrechte neben der Verhütung von Wiederholungstaten die soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung der verurteilten Person zu erleichtern.

87.

Im Rahmen der Durchführung von Art. 17 des Rahmenbeschlusses verlangt daher der Grundsatz der individuellen Strafzumessung, der eine der eigentlichen Funktionen der Strafe ist, eine klare Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Ausstellungsstaat und dem Vollstreckungsstaat, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen über die Vollstreckung der Strafe durch die Justizbehörde getroffen werden, die am besten in der Lage ist, das Verhalten des Betroffenen zu beurteilen.

88.

Dies setzt voraus, dass über sämtliche Maßnahmen der Gestaltung der Strafverbüßung einschließlich der Maßnahmen der Strafverkürzung, die der verurteilten Person gewährt werden können, die Justizbehörden am Ort der tatsächlichen Haft des Betroffenen entscheiden.

89.

Es handelt sich dabei unbestreitbar um Behörden in seiner Nähe, also um die Behörden am Ort seiner tatsächlichen Haft ( 34 ).

90.

Was insbesondere eine Strafverkürzung wegen Häftlingsarbeit betrifft, so hat diese Maßnahme der individuellen Zumessung nur Sinn, wenn sie von der Behörde erlassen wird, die die Arbeit des Häftlings tatsächlich verfolgt und beurteilt hat.

91.

So hat es weder Sinn, noch eine rechtliche Grundlage, Art. 41 Abs. 3 NK anstelle des dänischen Rechts auf den von Herrn Ognyanov in Dänemark verbüßten Haftzeitraum anzuwenden. Ein solches Vorgehen stünde an sich im Widerspruch zum Grundsatz der individuellen Strafzumessung, da die bulgarischen Justizbehörden veranlasst wären, einer verurteilten Person, der sie zum einen nie begegnet sind und deren Arbeit sie zum anderen ebenso wenig verfolgt haben wie die Fortschritte, eine Strafverkürzung zu gewähren. Nichts spricht jedoch dagegen, dass die bulgarischen Justizbehörden die von Herrn Ognyanov während seiner Haft in Dänemark geleistete Arbeit sowie deren Beurteilung durch die dänischen Justizbehörden für die umfassendere Beurteilung der vom Häftling gezeigten Anstrengungen zur sozialen Wiedereingliederung berücksichtigen. Es wird sich dabei um eines von mehreren Kriterien handeln, anhand deren die zuständigen Justizbehörden beurteilen können, ob die bedingte Entlassung des Häftlings gerechtfertigt ist.

92.

Erst wenn der Betroffene in einer bulgarischen Strafanstalt inhaftiert wurde, werden die nationalen Justizbehörden gegebenenfalls Art. 41 Abs. 3 NK zur Anwendung bringen können. Diese Strafverkürzung wird im Rahmen einer regelmäßigen und individuellen Beobachtung des Betroffenen erfolgen müssen und darf, wie ich das Urteil des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) zu verstehen glaube, keinen automatischen Charakter haben ( 35 ).

93.

In Anbetracht all dessen bin ich daher der Ansicht, dass zur Wahrung des strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatzes und des Grundsatzes der individuellen Strafzumessung, die dem Rahmenbeschluss zugrunde liegen, für die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und insbesondere für die Gewährung einer Strafverkürzung das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich sein muss, in dem sich die verurteilte Person tatsächlich in Haft befindet.

94.

Diese Auslegung wird durch die Systematik des Rahmenbeschlusses, in die dessen Art. 17 eingebettet ist, untermauert.

c) Die Systematik des Rahmenbeschlusses

95.

Die Prüfung der Systematik des Rahmenbeschlusses lässt erkennen, dass dessen Art. 17 die Grundsätze festlegt, die für die Vollstreckung der Strafe gelten, sobald die Überstellung der verurteilten Person erfolgt ist.

96.

Erstens ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem die Grundsätze des Art. 17 des Rahmenbeschlusses erarbeitet wurden. Seine Annahme erfolgte nämlich auf der Grundlage einer ganzen Reihe bestehender Rechtsinstrumente und insbesondere auf der Grundlage des Überstellungsübereinkommens ( 36 ). Dies wird im Übrigen in den Erwägungsgründen 4 und 5 des Rahmenbeschlusses erwähnt.

97.

Der Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist im Wesentlichen identisch mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 des Überstellungsübereinkommens. In der letztgenannten Bestimmung heißt es nämlich, dass „[sich d]ie Vollstreckung der Sanktion … nach dem Recht des Vollstreckungsstaats [richtet], und dieser Staat allein … zuständig [ist], alle erforderlichen Entscheidungen zu treffen“. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass diese Vorschrift die Überschrift „Wirkungen der Überstellung für den Vollstreckungsstaat“ trägt ( 37 ).

98.

Angesichts des Kontexts, in dem der Rahmenbeschluss angenommen wurde, ist es demnach sehr wahrscheinlich, dass der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er Art. 17 des Rahmenbeschlusses die Überschrift „Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“ gab, das für die Vollstreckung der Sanktion „nach der Überstellung der verurteilten Person“ maßgebliche Recht meinte.

99.

Zweitens ist der Umstand zu berücksichtigen, dass die einzelnen Grundsätze des Rahmenbeschlusses in chronologischer Reihenfolge festgelegt sind.

100.

In einem ersten Schritt legen die Art. 4 bis 14 des Rahmenbeschlusses die Regeln fest, die die Mitgliedstaaten bei der Überstellung der verurteilten Person anzuwenden haben. Im Besonderen erläutern die Art. 4 bis 6 des Rahmenbeschlusses die Modalitäten der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an den Vollstreckungsstaat. Die Art. 7 bis 14 des Rahmenbeschlusses legen sodann die für die Entscheidung über die Anerkennung des Urteils und die Entscheidung über die Vollstreckung der Sanktion geltenden Grundsätze fest. Art. 13 des Rahmenbeschlusses gibt insoweit an, dass der Ausstellungsstaat das Recht behält, die Bescheinigung zurückzuziehen, „[s]olange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde“ ( 38 ).

101.

In einem zweiten Schritt legt Art. 15 des Rahmenbeschlusses die Modalitäten fest, die für die Überstellung der verurteilten Person gelten, während Art. 16 des Rahmenbeschlusses besondere Bestimmungen für den Fall der Durchbeförderung des Betroffenen durch das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats vorsieht.

102.

Diese Vorschriften fügen sich also in eine vollkommen logische Reihenfolge ein und Art. 17 des Rahmenbeschlusses stellt offensichtlich deren Fortsetzung dar, indem er die Grundsätze festlegt, die für die Vollstreckung der Sanktion gelten, „sobald die verurteilte Person“ an die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats „überstellt wurde“.

103.

Art. 17 des Rahmenbeschlusses ist auch im Licht der in seinen nachfolgenden Bestimmungen, insbesondere in Art. 22, aufgestellten Regeln zu sehen.

104.

Art. 22 („Folgen der Überstellung der verurteilten Person“) des Rahmenbeschlusses zeigt besonders gut den Übergang der Zuständigkeiten, der mit der Überstellung der verurteilten Person zwangsläufig einhergeht.

105.

Der Unionsgesetzgeber führt nämlich in Art. 22 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses aus, dass der Ausstellungsstaat eine Sanktion nicht mehr vollstrecken darf, „wenn im Vollstreckungsstaat mit der Vollstreckung begonnen wurde“. Das bedeutet ganz klar, dass der Ausstellungsstaat, solange im Vollstreckungsstaat nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde, insoweit für deren Vollstreckung zuständig bleibt. Art. 22 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ergänzt zudem, dass „[d]er Ausstellungsstaat … wieder zur Vollstreckung der Sanktion berechtigt [ist]“ ( 39 ), wenn es dem Vollstreckungsstaat aufgrund der Flucht der verurteilten Person aus der Haft unmöglich ist, die Sanktion zu vollstrecken.

106.

Demnach kommt das Recht des Vollstreckungsstaats auf die Vollstreckung im engeren Sinne der Freiheitsstrafe erst zu Anwendung, sobald das Urteil vom Vollstreckungsstaat anerkannt worden und die Überstellung der verurteilten Person erfolgt ist. Solange das Urteil nicht anerkannt worden ist und sich die verurteilte Person noch im Zuständigkeitsbereich der Justizbehörden des Ausstellungsstaats befindet, ist dessen Recht auf die Vollstreckung der Strafe anwendbar. Es ist daher Sache des Ausstellungsstaats, Fragen in Bezug auf Strafverkürzungen nach seinen nationalen Rechtsvorschriften zu entscheiden.

107.

Drittens ist es nach der Systematik des Rahmenbeschlusses Sache des Ausstellungsstaats, zu prüfen, ob die Überstellung des Häftlings in seinen Herkunfts- oder Wohnsitzmitgliedstaat in die Wege zu leiten ist ( 40 ).

108.

Die Überstellung ist aber ganz einfach eine Maßnahme zur Vollstreckung der Strafe ( 41 ), vielleicht eine der letzten, die von den Justizbehörden des Ausstellungsstaats erlassen werden kann. Es handelt sich insbesondere um eine Maßnahme der individuellen Strafzumessung mit dem Zweck, die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person zu erleichtern.

109.

Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses kann die Übermittlung des Urteils zum Zweck seiner Anerkennung erst dann erfolgen, wenn sich die Justizbehörden des Ausstellungsstaats gegebenenfalls nach Konsultation der Justizbehörden des Vollstreckungsstaats vergewissert haben, dass die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat zur Erreichung dieses Ziels beitragen wird.

110.

Der Unionsgesetzgeber erläutert im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses, dass die Justizbehörden des Ausstellungsstaats, wenn sie sich dessen vergewissern, „dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen [sollten], ob sie diesen als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht“.

111.

Ebenso wie es Sache des Ausstellungsstaats ist, diese Beurteilung vorzunehmen, ist es auch allein seine Aufgabe, zu prüfen, ob am Ende des Zeitraums, den der Betroffene in seinem Hoheitsgebiet in Haft verbracht hat, und in Anbetracht von dessen Bemühungen nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässige Strafverkürzungen gewährt werden sollten.

112.

Der Umstand, dass der Ausstellungsstaat in der dem Urteil beigefügten Bescheinigung die Anzahl der zusätzlichen Tage angeben muss, die von dem bereits verbüßten Zeitraum des Freiheitsentzugs abzuziehen sind, untermauert diese Auslegung.

113.

Die Bescheinigung ist ein Formblatt in Anhang I des Rahmenbeschlusses ( 42 ). Dieses Formblatt umfasst verschiedene Rubriken, die von den Justizbehörden des Ausstellungsstaats auszufüllen sind. Diese Rubriken ermöglichen es ihm, Angaben insbesondere zum Gericht, das das Urteil erlassen hat, zum strafrechtlich Verfolgten und zur Art der begangenen Straftat zu machen sowie die Art und Dauer der Sanktion anzugeben. Die Richtigkeit dieser Angaben ist von den Justizbehörden des Ausstellungsstaats zu bescheinigen ( 43 ). Es handelt sich nämlich um wesentliche Angaben, die dem Vollstreckungsstaat ermöglichen sollen, eine Mindestkontrolle des Urteils vorzunehmen ( 44 ), und die letztendlich die ordnungsgemäße Vollstreckung der Sanktion sicherstellen sollen. Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats erkennt das Urteil an und stützt sich dabei auf die von der Justizbehörde des Ausstellungsstaats ausgestellte Bescheinigung, die seine Rechtmäßigkeit und seine Vollstreckbarkeit bestätigt. Ist allerdings diese Bescheinigung unvollständig oder unrichtig, stellt das gemäß Art. 9 des Rahmenbeschlusses einen Grund dar, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen.

114.

Für meine Prüfung ist auf die in Rubrik i Nr. 2 der Musterbescheinigung in Anhang I des Rahmenbeschlusses verlangten Angaben zur Dauer der Sanktion Bezug zu nehmen. Diese Angaben gewährleisten die praktische Wirksamkeit von Art. 17 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.

115.

In dieser Rubrik Nr. 2.2 muss der Ausstellungsstaat die Gesamtzeit des im Zusammenhang mit der betreffenden Sanktion bereits verbüßten Freiheitsentzugs in Tagen angeben. Es handelt sich um die ursprünglich verhängte Strafe.

116.

Jedoch steht es ihm nach dieser Rubrik Nr. 2.3 auch frei, von diesem Zeitraum eine Anzahl von zusätzlichen Tagen „aus anderen als den unter Nummer 2.2 genannten Gründen“ abzuziehen, wobei der Unionsgesetzgeber als Beispiele Amnestie, Begnadigung oder Gnadenakte anführt. Diese Nr. 2.3 ermöglicht dem Ausstellungsstaat demnach, zusätzliche Angaben zu machen, wenn besondere Umstände bereits eine Strafverkürzung nach sich gezogen haben.

117.

Diese Gesichtspunkte zeigen, dass es natürlich Sache des Ausstellungsstaats ist, über Strafverkürzungen zu entscheiden, die sich auf den in seinem Hoheitsgebiet verbüßten Haftzeitraum beziehen, da der Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat in der Bescheinigung anzeigen muss, ob eine höhere Anzahl von Tagen als die Anzahl der konkret in Haft verbrachten Tage abzuziehen ist, und gegebenenfalls, wie viele Tage genau. Der Unionsgesetzgeber drückt sich in Bezug auf die Art der Gründe, auf denen eine Strafverkürzung beruhen kann, offensichtlich ziemlich vage aus. Zudem ist die Liste dieser Gründe nicht erschöpfend, wie die Verwendung der adverbialen Bestimmung „z. B.“ zeigt. Der Unionsgesetzgeber hatte demnach die Absicht, möglichst weitgehend sämtliche besonderen Umstände zu erfassen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine Strafverkürzung nach sich ziehen können. Daher ist es plausibel, dass ein im Hinblick auf die von der verurteilten Person gemachten Fortschritte gewährter Straferlass unter diese Gründe fällt.

118.

In Anbetracht dessen bin ich daher der Überzeugung, dass der Vollstreckungsstaat sein Strafvollzugsrecht und insbesondere seine nationalen Rechtsvorschriften zu den Straferlässen nicht anstelle des Rechts des Ausstellungsstaats anwenden darf, weil er so den vom Ausstellungsstaat vorgenommenen Abzug ändern würde und damit die Gefahr heraufbeschwören würde, nicht nur den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, sondern auch die territoriale Souveränität des Königreichs Dänemark schwerwiegend zu verletzen.

119.

Im Ausgangsverfahren hat nämlich das Königreich Dänemark ausdrücklich angegeben, dass es keine Strafverkürzung aufgrund der Häftlingsarbeit gewähre. Nach dem Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens, der dem Rahmenbeschluss zugrunde liegt, hat die Republik Bulgarien demnach keine andere Wahl, als die Anwendung des im Ausstellungsstaat geltenden Rechts zu respektieren, auch wenn, um mit dem Gerichtshof im Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge ( 45 ) zu sprechen, „die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“ ( 46 ).

120.

Würde eine derartige Initiative ergriffen, würde dies daher unweigerlich das wechselseitige Vertrauen, das die Mitgliedstaaten einander entgegenbringen, untergraben und die Gefahr bestehen, dass die Verwirklichung der mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele vereitelt wird.

121.

Rufen wir uns außerdem in Erinnerung, dass das Recht, zu strafen, ein wesentliches Merkmal des Staates ist, und das Strafrecht – und damit das Strafvollstreckungsrecht – einen Kernbereich der nationalen Souveränität darstellt. Das Strafvollstreckungsrecht gehört daher zu der den Staaten zuerkannten Befugnis, über ihre Kriminalpolitik zu entscheiden, was seinen gebietsbezogenen Charakter bezeugt ( 47 ).

122.

In der vorliegenden Rechtssache hat Herr Ognyanov mit seinen Taten gegen die öffentliche Ordnung des Königreichs Dänemark verstoßen. Daher sind die Justizbehörden dieses Mitgliedstaats zuständig, über ihn zu richten und ihn für die begangenen Straftaten zu verurteilen. Die Haft von Herrn Ognyanov ist zunächst auch auf dänischem Hoheitsgebiet und im Zuständigkeitsbereich der dänischen Behörden erfolgt.

123.

In Anbetracht des jeweiligen örtlichen Zuständigkeitsbereichs ist es demnach offensichtlich, dass Art. 41 Abs. 3 NK auf die Vollstreckung der Strafe auf dänischem Hoheitsgebiet ohne Verletzung der territorialen Souveränität des Königreich Dänemarks „nicht anwendbar ist“.

124.

Schließlich verstieße es auch gegen das grundlegende Gleichbehandlungsgebot, wenn Art. 17 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen wäre, dass er die Anwendung des Rechts des Vollstreckungsstaats auf die Vollstreckung der Strafe im Ausstellungsstaat gestattet. Denn Personen, die ihre Strafe in derselben Strafanstalt verbüßen, unterlägen hinsichtlich der Vollstreckung ihrer Strafe und insbesondere hinsichtlich der Modalitäten von Straferlässen unterschiedlichen Rechtsvorschriften oder wären diesen zu unterwerfen.

125.

Dies würde zu verworrenen Situationen führen, in denen eine faire und gerechte Anwendung der Normen nicht gewährleistet werden könnte und ganz sicher die Gefahr bestünde, dass der Erfolg des Rahmenbeschlusses vereitelt würde.

126.

In Anbetracht all dessen bin ich daher der Ansicht, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses unter Berücksichtigung der Grundsätze, die dem Rahmenbeschluss zugrunde liegen, nämlich zum einen des wechselseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und zum anderen des strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatzes und des Grundsatzes der individuellen Strafzumessung, dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Justizbehörden des Vollstreckungsstaats ermöglicht, der verurteilten Person aufgrund der von ihr während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit einen Straferlass zu gewähren.

127.

Ich räume ein, dass eine solche Auslegung keine Abgrenzung des auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhenden Rahmenbeschlusses von den traditionellen Mechanismen der justiziellen Zusammenarbeit, die als Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten ausgestaltet sind, ermöglicht. Es handelt sich meines Erachtens gleichwohl um die einzig mögliche Auslegung, wenn wir der fehlenden Harmonisierung der Strafvollstreckungsvorschriften in der Union umfassend Rechnung tragen wollen.

B – Zur zweiten Frage

128.

Die zweite Frage betrifft den Umfang der Unterrichtungspflicht der Justizbehörden des Vollstreckungsstaats nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses. Sie wird für den Fall gestellt, dass diese Bestimmung den bulgarischen Justizbehörden gestatten würde, Art. 41 Abs. 3 NK auf den vom Betroffenen in Dänemark verbüßten Haftzeitraum anzuwenden.

129.

Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) möchte wissen, ob die bulgarischen Justizbehörden, wenn sie mit einem entsprechenden Ersuchen befasst sind, verpflichtet sind, die dänischen Behörden über die Anwendbarkeit einer solchen Regelung zu unterrichten, und wenn ja, welche Art von Angaben insoweit übermittelt werden müssen.

130.

Angesichts der Antwort, die ich auf die erste Frage vorschlage, bin ich der Auffassung, dass es nicht sachdienlich ist, die zweite Frage zu beantworten.

C – Zur dritten Frage

131.

Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheidet, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen, ob ihm das Unionsrecht verbieten würde, auf den von Herrn Ognyanov in Dänemark verbüßten Haftzeitraum „gleichwohl“ Art. 41 Abs. 3 NK mit der Begründung anzuwenden, dass es sich um eine günstigere Rechtsvorschrift handele.

132.

Zugegebenermaßen ist der fragliche Straferlass nicht unerheblich.

133.

Da die dänischen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Straferlässe für Häftlingsarbeit strenger sind, würde die Anwendung des Art. 41 Abs. 3 NK auf den von Herrn Ognyanov in Dänemark verbüßten Haftzeitraum ihm tatsächlich ermöglichen, eine Strafverkürzung nicht um ein Jahr, acht Monate und 20 Tage, sondern um zwei Jahre, sechs Monate und 24 Tage gewährt zu bekommen, was ihm zu einer viel früheren Freilassung verhelfen würde.

134.

Doch die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage beruht auf einer Prämisse, die von vornherein abzulehnen ist. Denn der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) stellt in Wirklichkeit die Frage, ob er eine für mit dem Unionsrecht unvereinbar befundene nationale Rechtsvorschrift gleichwohl mit der Begründung anwenden dürfe, dass diese für den Betroffenen günstiger sei.

135.

Diese Frage hat das vorlegende Gericht etwas anders formuliert im Rahmen des in der beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache Ognyanov (C‑614/14) vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens gestellt.

136.

Ich antworte daher in derselben Weise, wie ich es im Rahmen meiner Schlussanträge in der Rechtssache Ognyanov ( 48 ) getan habe, füge jedoch einige Bemerkungen hinzu.

137.

Erstens sind gemäß Art. 280 AEUV „[d]ie Urteile des Gerichtshofs vollstreckbar“. Wie ich in Nr. 111 jener Schlussanträge ausgeführt habe, gibt der Gerichtshof, wenn er auf der Grundlage von Art. 267 AEUV angerufen wird, kein beratendes Gutachten ab. So bindet nach ständiger Rechtsprechung ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der fraglichen Rechtsakte der Organe der Union ( 49 ).

138.

Zweitens wäre das vorlegende Gericht, sollte der Gerichtshof der Auffassung sein, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wie gesagt verpflichtet, Art. 41 Abs. 3 NK im Licht des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auszulegen und dabei, falls erforderlich und angesichts seiner Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung, die Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) außer Acht zu lassen.

139.

Drittens erinnere ich das vorlegende Gericht auf jeden Fall daran, dass die in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta enthaltene Regel der Rückwirkung der milderen Strafe (Grundsatz der Rückwirkung in mitius) mangels Anwendbarkeit des Art. 41 Abs. 3 NK auf den vom Betroffenen in Dänemark verbüßten Haftzeitraum keine Anwendung finden kann.

140.

Viertens und letztens lässt uns der Straferlass, auf den sich das vorlegende Gericht konzentriert, vergessen, dass die Überstellung von Herrn Ognyanov nach Bulgarien an und für sich schon dazu dient, für ihn günstiger zu sein, da er seine Reststrafe im sozialen Umfeld seiner Herkunft wird verbüßen können, was seine soziale Wiedereingliederung erleichtert.

141.

In Anbetracht dieser Überlegungen und für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wäre demnach das vorlegende Gericht gemäß seiner Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung gehalten, die Auslegung des Art. 41 Abs. 3 NK durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) zu verwerfen und von der Anwendung dieser Bestimmung auf den vom Betroffenen in Dänemark verbüßten Haftzeitraum abzusehen.

142.

Im Anschluss an diese Ausführungen möchte ich einige Schlussfolgerungen in Bezug auf die im Rahmenbeschluss festgelegte Zuständigkeitsverteilung zwischen den Justizbehörden des Ausstellungsstaats und denen des Vollstreckungsstaats ziehen.

D – Schlussfolgerungen in Bezug auf die im Rahmenbeschluss festgelegte Zuständigkeitsverteilung zwischen den Justizbehörden des Ausstellungsstaats und denen des Vollstreckungsstaats

1. Das für die Vollstreckung der Freiheitsstrafe vor der Überstellung der verurteilten Person maßgebliche Recht

143.

Wenn der Betroffene in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zunächst im Ausstellungsstaat in Haft genommen wird, ist das auf die Vollstreckung seiner Strafe anwendbare Recht natürlich das Recht dieses Staates. Sämtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet dieses Staates, seien es nun Maßnahmen zum Vollzug der Sanktion wie die Inhaftierungsanordnung oder Maßnahmen betreffend die Gestaltung der Strafverbüßung wie der Freigang, fallen unter das Recht des Ausstellungsstaats.

144.

Wie wir gesehen haben, ist es ja auch Sache des Ausstellungsstaats, zu prüfen, ob die Überstellung des Häftlings an seinen Herkunfts- oder Wohnsitzmitgliedstaat in die Wege zu leiten ist ( 50 ).

145.

Die Überstellung ist aber ganz einfach eine Maßnahme zur Vollstreckung der Strafe und insbesondere eine Maßnahme der individuellen Zumessung, durch die der Betroffene seine Haft so nah wie möglich bei seiner Familie und dem sozialen Umfeld, in das er sich wird wiedereingliedern müssen, verbüßen können soll ( 51 ).

146.

Ebenso wie es Sache des Ausstellungsstaats ist, diese Beurteilung vorzunehmen, ist es auch seine Aufgabe, zu prüfen, ob der Häftling nach dem nationalen Recht des Ausstellungsstaats und in Anbetracht seiner Bemühungen andere Maßnahmen der Gestaltung der Strafverbüßung, darunter Maßnahmen zur Strafverkürzung, in Anspruch nehmen kann.

147.

Eine solche Zuständigkeitsverteilung verpflichtet den Ausstellungsstaat, über alle Fragen zu den Straferlässen vor der Überstellung der verurteilten Person zu entscheiden ( 52 ).

148.

Genau dies ist im Übrigen der eigentliche Gegenstand von Rubrik i Nr. 2.3 der Musterbescheinigung in Anhang I des Rahmenbeschlusses.

149.

Die Überstellung der verurteilten Person darf den Straferlässen, auf die diese gegebenenfalls gemäß dem Recht des Ausstellungsstaats und den durch den zuständigen Richter erlassenen Entscheidungen Anspruch hat, nämlich nicht jede praktische Wirksamkeit nehmen ( 53 ). Die Justizbehörden des Ausstellungsstaats müssen daher in der Lage sein, eine Bescheinigung auszustellen, in der nicht nur die Dauer der Sanktion und der im engeren Sinne vollstreckten Strafe vermerkt ist, sondern auch, was durch nach nationalem Recht vorgesehene Straferlässe abgezogen wurde. Sie müssten auch Erläuterungen zur Beurteilung der Wiederanpassungsbemühungen des Betroffenen machen können.

150.

Der Vollstreckungsstaat kann daher sein Strafvollstreckungsrecht auch dann nicht anstelle des Strafvollstreckungsrechts des Ausstellungsstaats anwenden, wenn sein Recht für den Betroffenen günstiger wäre, denn das würde nicht nur gegen den Wortlaut von Art. 17 des Rahmenbeschlusses verstoßen, sondern auch eine schwerwiegende Verletzung der Souveränität des Ausstellungsstaats und zugleich des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung darstellen.

2. Das Ersuchen um Unterrichtung vor der Überstellung

151.

Wenn die verurteilte Person an den Vollstreckungsstaat überstellt wird, ist es völlig logisch, dass sich die Justizbehörden des Ausstellungsstaats nach den für eine etwaige vorzeitige oder bedingte Entlassung geltenden Bestimmungen erkundigen, wie dies Art. 17 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses vorsieht. Erneut ist dabei zu bedenken, dass es sich um die öffentliche Ordnung des Ausstellungsstaats handelt, die durch die Begehung eines Verbrechens oder einer Straftat beeinträchtigt wurde. Der Ausstellungsstaat muss demnach sicher gehen, dass die Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats zu einer der Störung der öffentlichen Ordnung in seinem Hoheitsgebiet angemessenen Lösung führen wird. Der Ausstellungsstaat wird daher beurteilen, ob die Strafe im Hinblick auf diese neuen Bestimmungen insgesamt so kohärent bleibt, wie sie es am Tag der Urteilsverkündung war. Wenn er fürchtet, dass die Überstellung dazu führen könnte, was aus seiner Sicht eine verfrühte Entlassung wäre, oder wenn die Strafe seines Erachtens im Hinblick auf den Angriff auf die öffentliche Ordnung nicht mehr verhältnismäßig ist, kann er beschließen, die verurteilte Person nicht zu überstellen und die Bescheinigung zurückzuziehen.

152.

Das Ersuchen um Unterrichtung muss vor der Überstellung des Häftlings ergehen, denn ist die Überstellung einmal erfolgt, kann der Ausstellungsstaat sein eigenes Konzept der Strafvollstreckungsmaßnahmen nicht mehr durchsetzen und seine Überstellungsentscheidung nicht mehr rückgängig machen.

3. Das für die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach der Überstellung der verurteilten Person maßgebliche Recht

153.

Die Überstellung des Betroffenen bringt aus den bereits erwähnten Gründen automatisch und zwangsläufig einen gleichzeitigen Übergang von Zuständigkeiten hinsichtlich der Strafvollstreckung auf den Vollstreckungsstaat mit sich. Zum einen, weil die Strafvollstreckung im Hoheitsgebiet und unter der Gerichtsbarkeit dieses Staates fortgesetzt wird. Zum anderen, weil ab dieser Überstellung nur die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats in der Lage sein werden, die Strafvollzugsbedingungen im Hinblick auf die Wiedereingliederungsbemühungen des Betroffenen sowie auf seine materielle, familiäre und soziale Situation zu gestalten.

154.

Sobald die Überstellung erfolgt ist, ist klar, dass man vom Vollstreckungsstaat nicht verlangen kann, den Ausstellungsstaat um Erlaubnis zu bitten, bevor er eine Maßnahme der individuellen Strafzumessung, wie z. B. eine Strafverkürzung oder eine vorzeitige oder bedingte Entlassung, ergreift. Wie wir gesehen haben, gehören Fragen nach dem Bestehen einer Entlassungsregelung, nach den Modalitäten ihrer Durchführung und nach ihrer Rechtfertigung zu der den Staaten zuerkannten Befugnis, über ihre Kriminalpolitik zu entscheiden. In einem solchen Fall eine Erlaubnis des Ausstellungsstaats zu verlangen, liefe somit darauf hinaus, die Souveränität des Vollstreckungsstaats sowie die Unabhängigkeit seines Justizsystems zu beschneiden.

155.

Der Vollstreckungsstaat muss also die Sanktion vollstrecken, als hätten sie seine eigenen Justizbehörden verhängt. Der Ausstellungsstaat wiederum hat nach dem Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens keine andere Wahl, als die Anwendung des im Vollstreckungsstaat geltenden Rechts zu respektieren, auch wenn, um nochmals mit dem Gerichtshof im Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge ( 54 ) zu sprechen, „die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“ ( 55 ).

156.

Bei Annahme des Rahmenbeschlusses waren sich die Mitgliedstaaten voll und ganz der Unterschiede bewusst, die hinsichtlich der Vollstreckung der strafrechtlichen Entscheidungen zwischen ihren jeweiligen Rechtssystemen bestehen. Was beispielsweise die im Bereich der vorzeitigen oder bedingten Entlassung geltenden Regeln betrifft, wird die verurteilte Person in manchen Mitgliedstaaten entlassen, nachdem sie zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt hat, während die Entlassung in anderen Mitgliedstaaten bereits nach Vollstreckung eines Drittels der Strafe erfolgen kann. Die Mitgliedstaaten waren sich demnach voll und ganz bewusst, dass die Überstellung einer verurteilten Person Auswirkungen auf die konkrete Dauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs im Verhältnis zur ursprünglich verhängten Strafe und in der Folge auf das Entlassungsdatum haben konnte ( 56 ). Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber aus diesem Grund und insbesondere, um eine Entlassung zu vermeiden, die der Ausstellungsstaat im Hinblick auf die in seinem Hoheitsgebiet begangene Straftat oder auf das dort begangene Verbrechen als „vorzeitig“ einstufen würde, den „Vorbehalt“ in Art. 17 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses vorgesehen ( 57 ).

157.

Sollte der Vollstreckungsstaat strengere Regeln anwenden, könnte die Überstellung der verurteilten Person in diesen Staat de facto eine längere Haftstrafe nach sich ziehen als die, die im Ausstellungsstaat verbüßt worden wäre.

158.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Hinblick auf das in Art. 5 EMRK verbürgte Recht auf Freiheit und Sicherheit keine Einwände dagegen, sofern die Haftdauer nicht die am Ende des ursprünglichen Strafverfahrens verhängte Haftdauer überschreitet. Er schließt jedoch nicht aus, dass bei einer de facto deutlich längeren Haftstrafe im Vollstreckungsstaat der Ausstellungsstaat auf der Grundlage von Art. 5 EMRK in die Pflicht genommen werden könnte, und zwar aufgrund der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Überstellung vorhersehbaren Folgen ( 58 ).

VII – Ergebnis

159.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

In Anbetracht der Grundsätze, die dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union zugrunde liegen, nämlich zum einen des Grundsatzes des wechselseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und zum anderen des strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatzes und des Grundsatzes der individuellen Strafzumessung, ist Art. 17 Abs. 1 und 2 dieses Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die den Justizbehörden des Mitgliedstaats, dem ein Urteil zum Zweck seiner Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird, ermöglicht, der verurteilten Person aufgrund der von ihr während ihrer Haft in dem Mitgliedstaat, in dem das Urteil erlassen wurde, geleisteten Arbeit einen Straferlass zu gewähren.

2.

Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) ist gemäß seiner Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung gehalten, die Auslegung von Art. 41 Abs. 3 des Nakazatelen Kodeks (bulgarisches Strafgesetzbuch) durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof, Bulgarien) außer Acht zu lassen und von der Anwendung dieser Bestimmung auf den vom Betroffenen in Dänemark verbüßten Haftzeitraum abzusehen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27, im Folgenden: Rahmenbeschluss).

( 3 ) Im Folgenden: Ausstellungsstaat. Gemäß Art. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses handelt es sich um den Mitgliedstaat, in dem ein Urteil ergangen ist.

( 4 ) Im Folgenden: Vollstreckungsstaat. Gemäß Art. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses geht es um den Mitgliedstaat, dem ein Urteil zum Zweck seiner Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird.

( 5 ) Im Folgenden: NK.

( 6 ) Im Rahmen der Vorlageentscheidung in der beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache Ognyanov (C‑614/14), in der ich ebenfalls Schlussanträge vorgelegt habe, stellt der Generalstaatsanwalt bei der Sofiyska gradska prokuratura (Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia, Bulgarien) die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Berechnung in Frage, weil sie die arbeitsfreien Tage nicht berücksichtige.

( 7 ) Im Folgenden: Charta.

( 8 ) Erwägungsgründe 1, 2 und 5 des Rahmenbeschlusses.

( 9 ) Vgl. hierzu Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999.

( 10 ) Gemäß Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses fällt unter den Begriff „Urteil“„eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird“.

( 11 ) Gemäß Art. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses wird der Begriff „Sanktion“ als „jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist“ definiert.

( 12 ) Im Folgenden: Überstellungsübereinkommen. Dieses Übereinkommen ist auch auf der Website des Europarats abrufbar. Es wurde von 64 Staaten ratifiziert und trat am 1. Juli 1985 in Kraft. Von den Mitgliedstaaten haben es nur die Republik Kroatien und die Republik Finnland nicht unterzeichnet.

( 13 ) Im Folgenden: NPK.

( 14 ) Bulgarisches Amtsblatt (DV) Nr. 25 vom 3. April 2009.

( 15 ) Meines Erachtens handelt es sich hierbei entgegen der Ansicht des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationshof) nicht um eine „Abänderung der Sanktion“, sondern sehr wohl um eine Strafverkürzung.

( 16 ) Hervorhebung nur hier.

( 17 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) C‑441/14, EU:C:2016:278.

( 20 ) Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 21 ) C‑105/03, EU:C:2005:386.

( 22 ) Rn. 42.

( 23 ) Rn. 34.

( 24 ) Vgl. u. a. Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino (C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 45). Diesem Urteil ist zu entnehmen, dass die „Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, … durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt [wird]“ (Rn. 44).

( 26 ) In der englischen Fassung des Rahmenbeschlusses wird ein und derselbe Begriff, nämlich „sentence“ verwendet, um unterschiedslos die „Strafe“ oder die „Sanktion“ zu bezeichnen.

( 27 ) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besteht „der Ausgangspunkt jeder Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens einer ‚Strafe‘ darin, zu ermitteln, ob die fragliche Maßnahme infolge einer Verurteilung für eine Straftat erfolgte. Andere Gesichtspunkte können hierfür als relevant erachtet werden: der Charakter und der Zweck der fraglichen Maßnahme, ihre Qualifizierung im innerstaatlichen Recht, die Verfahren, die mit ihrem Erlass und ihrer Vollstreckung einhergehen, sowie ihre Schwere … Die Schwere der Maßnahme ist jedoch für sich genommen nicht entscheidend, da ja zahlreiche nicht strafrechtliche Maßnahmen präventiver Art eine erhebliche Auswirkung auf die betroffene Person haben können“ (vgl. insoweit EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 28 ) Im Folgenden: EMRK.

( 29 ) EGMR, 29. November 2005, Uttley/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2005:1129DEC003694603, und 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009.

( 30 ) EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, §§ 59, 83, 85 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie § 89. In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Menschenrechte so entschieden, dass die Anwendung neuer Modalitäten für die Gewährung von Straferlässen für Häftlingsarbeit in Bezug auf eine in der Vergangenheit liegende Sanktion nicht einer Maßnahme gleichgesetzt werden kann, die ausschließlich an die Vollstreckung der verhängten Strafe geknüpft ist. Indem diese neuen Modalitäten eine Verlängerung der Haft um fast neun Jahre nach sich zogen, haben sie nach Ansicht des Gerichtshofs für Menschenrechte eine Neufestlegung des Umfangs der verhängten „Strafe“ hervorgerufen und müssen daher im Hinblick auf die in Art. 7 Abs. 1 letzter Satz EMRK festgelegten Garantien beurteilt werden (§§ 109 und 110).

( 31 ) Es kann sich jedoch herausstellen, dass sich die verurteilte Person in bestimmten Fällen bereits im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats befindet.

( 32 ) Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen darf das Strafrecht nicht rückwirkend angewandt werden. Der Grundsatz der Rückwirkung in mitius stellt eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar und verlangt, dass auf die verurteilte Person die günstigsten strafrechtlichen Vorschriften anzuwenden sind.

( 33 ) Vgl. auch die Erklärung des Rates der Europäischen Union zum mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Zweck der sozialen Wiedereingliederung, in der es heißt: „In Anbetracht des Umstands, dass die erfolgreiche soziale Wiedereingliederung einer verurteilten Person in einem Staat, zu dem sie die engsten Bindungen hat, den … Hauptzweck dieses Rahmenbeschlusses darstellt, und in der Überzeugung, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten die Einführung zusätzlicher Versagungsgründe, die auf die

Nichtvereinbarkeit der Anerkennung des Urteils mit dem Zweck der sozialen Wiedereingliederung abstellen, nicht erfordert, betont der Rat, dass der

Zweck der sozialen Wiedereingliederung für den Ausstellungsstaat bei jeder Entscheidung darüber, ob dem Vollstreckungsstaat das Urteil und die

Bescheinigung zu übermitteln sind, ein erstrangiges Kriterium darstellen sollte“ (vgl. Anlage II Teil I des Ratsdokuments 6070/1/09 REV 1) sowie Punkt 4.1 des Berichts der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Umsetzung der Rahmenbeschlüsse 2008/909/JI, 2008/947/JI und 2009/829/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen und von Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft durch die Mitgliedstaaten (COM[2014] 57 final).

( 34 ) Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen“ (KOM[2000] 495 endg.), in der die Kommission bereits erläuterte, dass „Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Haftvollzug, die sich am Verhalten des Häftlings orientieren, jenem Mitgliedstaat vorbehalten sein [sollten], der den Haftvollzug durchführt. … Die Behörden dieses Mitgliedstaats stehen in direktem Kontakt zum Häftling und können sein Verhalten daher am besten beurteilen“ (Punkt 9.1).

( 35 ) Dieser erklärt nämlich, dass die Anrechnung der Arbeitstage „eine zwingend geltende günstige Folge [darstellt], die allein auf dem Umstand beruht, dass der Verurteilte gemeinnützige Arbeiten verrichtet hat, während er seine Freiheitsstrafe verbüßte und sich in Haft befand“ (Hervorhebung nur hier).

( 36 ) Vgl. insbesondere Abschnitt 3.2.1.5 des Grünbuchs über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union (KOM[2004] 334 endgültig).

( 37 ) Hervorhebung nur hier.

( 38 ) Hervorhebung nur hier.

( 39 ) Hervorhebung nur hier.

( 40 ) Vgl. Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses.

( 41 ) Vgl. insoweit EGMR, 27. Juni 2006, Szabó/Schweden, CE:ECHR:2006:0627DEC002857803, S. 12.

( 42 ) Der Unionsgesetzgeber ließ sich von der Art der Bescheinigung nach Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) inspirieren.

( 43 ) Art. 5 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.

( 44 ) Dieser wird sich insbesondere vergewissern, dass die zu vollstreckende Entscheidung tatsächlich von der nach dem Recht des Ausstellungsstaats zuständigen Stelle erlassen wurde und tatsächlich in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt.

( 45 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

( 46 ) Rn. 33.

( 47 ) Vgl. insoweit EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 84.

( 48 ) C‑614/14, EU:C:2016:111.

( 49 ) Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 50 ) Vgl. Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses.

( 51 ) EGMR, 27. Juni 2006, Szabó/Schweden, CE:ECHR:2006:0627DEC002857803, Rn. 14.

( 52 ) Unter Berücksichtigung der Zuständigkeitsverteilung werden die Straferlässe nicht auf die Gesamtdauer der Inhaftierung angerechnet, sondern nacheinander auf jeden der Haftzeiträume im Ausstellungsstaat und im Vollstreckungsstaat.

( 53 ) Vgl. u. a. insoweit EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 107.

( 54 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

( 55 ) Rn. 33.

( 56 ) Vgl. Studie des IRCP mit dem Titel „Material detention condition, execution of custodial sentences and prisoner transfer in the EU Member States“, 2011. Vgl. auch Abschnitt 4.1.8 des in Fn. 36 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Grünbuchs der Kommission, wo diese ausführt, dass „die Unterschiede in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Mindesthaftdauer … Anwendungsprobleme hervorgerufen und sogar zur Ablehnung der Überstellung geführt [haben], da diese zu einer milderen Strafe oder sogar einer unverzüglichen Freilassung hätte führen können“. Diese Probleme sind in der Form bei der Anwendung des Überstellungsübereinkommens aufgetreten.

( 57 ) Ich rufe in Erinnerung, dass nach dieser Vorschrift „[d]ie zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats … die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats auf deren Ersuchen über die für eine etwaige vorzeitige oder bedingte Entlassung geltenden Bestimmungen [unterrichtet]. Der Ausstellungsstaat kann der Anwendung dieser Bestimmungen zustimmen oder die Bescheinigung zurückziehen.“

( 58 ) EGMR, 27. Juni 2006, Szabó/Schweden, CE:ECHR:2006:0627DEC002857803, S. 9. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, konnte sich der Betroffene berechtigterweise erhoffen, in Schweden entlassen zu werden, sobald zwei Drittel seiner zehnjährigen Haftstrafe verbüßt waren, d. h. nach sechs Jahren und acht Monaten. Aufgrund seiner Überstellung nach Ungarn hatte er erst nach Verbüßung von vier Fünftel dieser Strafe, d. h. nach acht Jahren, Anspruch auf eine bedingte Entlassung. Rechtlich wurde seine Sanktion demnach nicht verschärft, doch faktisch musste der Betroffene in Ungarn eine Haftstrafe verbüßen, die um ein Jahr und vier Monate länger war als die Haftstrafe, die er in Schweden hätte verbüßen müssen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste also prüfen, ob die Überstellung des Betroffenen nach Ungarn und die faktische Verlängerung der Dauer seiner Haft einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK darstellen konnten. Konkret war er der Ansicht, dass der zusätzliche Haftzeitraum, den der Betroffene Gefahr lief, in Ungarn zu verbüßen, 20 % der Dauer entsprach, auf die er sich in Schweden hätte einstellen können. Nachdem er betont hatte, dass ein Unterschied von einem Jahr und vier Monaten nicht unerheblich sei, hat er dennoch entschieden, dass die Haftdauer, die der Betroffene zu verbüßen haben werde, innerhalb der Grenzen der verhängten Strafe bleibe.