SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 17. Dezember 2015 ( 1 )
Rechtssache C‑550/14
Envirotec Denmark ApS
gegen
Skatteministeriet
(Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret [Dänemark])
„Steuerrecht — Mehrwertsteuer — Art. 198 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG — Steuerschuld des Erwerbers bei der Lieferung von Goldmaterial oder Halbfertigerzeugnissen — Goldbarren aus einer Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände“
I – Einleitung
1. |
„Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, sinniert Gretchen in Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ zum Verhältnis von Schmuck und natürlicher Schönheit ( 2 ). Wie wäre ihr wohl zumute und welche weiteren Gedanken würden sie bewegen, wenn das Gold der Kette und der Ohrringe, in denen sie sich so gut gefällt, u. a. aus den Zähnen anderer Menschen stammte? So nämlich könnte es sich in der vorliegenden Rechtssache ergeben, welche die mehrwertsteuerliche Behandlung einer Lieferung von Goldbarren zum Thema hat, die aus vielerlei wiederverwerteten Goldgegenständen zusammengesetzt sind und aus denen wiederum Schmuck und anderes hergestellt werden soll. |
2. |
Gold findet auch im Mehrwertsteuerrecht der Union besondere Aufmerksamkeit. Eine der Sonderregelungen für Gold ist Gegenstand des vorliegenden dänischen Vorabentscheidungsersuchens. Der Gerichtshof wird hier zu klären haben, wer Schuldner der Mehrwertsteuer in einem Fall ist, in dem nicht „frische“, sondern recycelte Goldbarren den Eigentümer wechseln. Diese Frage würde Gretchen allerdings wohl weniger bewegen. |
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
3. |
Die Erhebung der Mehrwertsteuer in den Mitgliedstaaten der Union wird durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ( 3 ) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) geregelt. Die bis zum 31. Dezember 2006 geltende Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ( 4 ) (im Folgenden: Sechste Richtlinie) ist im Ausgangsrechtsstreit zwar nicht anzuwenden. Sie enthielt aber bereits die im vorliegenden Fall entscheidenden Bestimmungen, deren Entstehungsgeschichte deshalb ebenfalls zu beachten ist. |
4. |
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen der Steuer die „Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt“. |
5. |
Zum Steuerschuldner bestimmt Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Fassung, die im Ausgangsrechtsstreit anzuwenden ist ( 5 ): „Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert […], außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“ |
6. |
Art. 198 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht insoweit als Ausnahme vor: „(1) […] (2) Wird eine Lieferung von Goldmaterial oder Halbfertigerzeugnissen mit einem Feingehalt von mindestens 325 Tausendsteln oder eine Lieferung von Anlagegold im Sinne des Artikels 344 Absatz 1 durch einen Steuerpflichtigen bewirkt, der eine der in den Artikeln 348, 349 und 350 vorgesehenen Wahlmöglichkeiten in Anspruch genommen hat, können die Mitgliedstaaten festlegen, dass die Steuer vom Erwerber geschuldet wird. (3) Die Mitgliedstaaten legen die Verfahren und Voraussetzungen für die Anwendung der Absätze 1 und 2 fest.“ |
7. |
Der 55. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie führt hierzu aus: „Um Steuerhinterziehungen zu verhindern, gleichzeitig aber die mit der Lieferung von Gold ab einem bestimmten Feingehalt verbundenen Finanzierungskosten zu verringern, ist es gerechtfertigt, den Mitgliedstaaten zu gestatten, den Erwerber als Steuerschuldner zu bestimmen.“ |
8. |
Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 199 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:
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9. |
Der genannte Anhang VI enthält u. a. folgende Positionen:
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10. |
Schließlich bestimmt zum Recht auf Vorsteuerabzug, das für erworbene Waren geltend gemacht werden kann, Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie: „Soweit die Gegenstände […] für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
[…]“ |
B – Nationales Recht
11. |
In Dänemark wird eine Mehrwertsteuer nach dem dänischen Mehrwertsteuergesetz erhoben. § 46 Abs. 1 dieses Gesetzes regelt zur Bestimmung des Steuerschuldners: „Die Steuer wird vom Steuerpflichtigen geschuldet, der im Inland Gegenstände steuerpflichtig liefert […] Die Steuer wird jedoch vom Empfänger der Waren […] geschuldet, wenn […]
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III – Ausgangsrechtsstreit
12. |
Der Ausgangsrechtsstreit betrifft die dänische Mehrwertsteuerschuld der Gesellschaft Envirotec Denmark ApS (im Folgenden: Envirotec) für das letzte Quartal 2011. |
13. |
In jenem Quartal erwarb Envirotec von einer weiteren dänischen Gesellschaft 24 Barren, die einen durchschnittlichen Goldgehalt von 500 bis 600 Tausendsteln aufwiesen. Neben dem Gold enthielten die Barren verschiedene andere Materialien wie z. B. Zähne, Gummi, PVC, Kupfer, Amalgam, Quecksilber und Blei. Die Verkäuferin hatte die Barren nämlich aus Industrieabfällen sowie altem Schmuck, Besteck, Uhren etc. zusammengeschmolzen. Um das in den Barren enthaltene Gold zur Herstellung weiterer goldhaltiger Erzeugnisse verwenden zu können, mussten daher zunächst die anderen Bestandteile der Barren abgeschieden werden. |
14. |
Für den Kauf der 24 Barren wurden Envirotec insgesamt 1099695 dänische Kronen (rund 150000 Euro) an Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt, die Envirotec auch an die Verkäuferin bezahlte. Diesen Betrag führte die Verkäuferin jedoch nie an die dänische Steuerverwaltung ab. Später wurde die Verkäuferin wegen Mittellosigkeit liquidiert. |
15. |
Envirotec verlangt nunmehr von der dänischen Steuerverwaltung die Erstattung der an die Verkäuferin entrichteten Mehrwertsteuer, indem sie insoweit ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend macht. Die dänische Steuerverwaltung ist jedoch der Auffassung, dass nicht die Verkäuferin, sondern Envirotec selbst gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 4 des dänischen Mehrwertsteuergesetzes die Mehrwertsteuer für das Geschäft schuldet. Folglich könne Envirotec auch den Mehrwertsteuerbetrag, den sie zu Unrecht an die Verkäuferin gezahlt habe, nicht als abzugsfähige Vorsteuer geltend machen. Envirotec hingegen hält die dänische Vorschrift zur Übertragung der Steuerschuld auf den Erwerber, die auf der Basis von Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurde, in ihrem speziellen Fall nicht für anwendbar. |
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
16. |
Das mittlerweile mit dem Rechtsstreit befasste Østre Landsret hält im Ausgangsrechtsstreit die Auslegung des Unionsrechts für entscheidend und hat dem Gerichtshof am 28. November 2014 gemäß Art. 267 AEUV die folgende Frage vorgelegt: Sind Barren, die in einer zufälligen groben Verschmelzung verschiedener verschrotteter goldhaltiger Metallgegenstände bestehen, von den Begriffen „Goldmaterial oder Halbfertigerzeugnisse“ im Sinne des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst? |
17. |
Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben das Königreich Dänemark, die Republik Estland und die Europäische Kommission im März 2015 schriftliche Stellungnahmen abgegeben. |
V – Rechtliche Würdigung
18. |
Das vorlegende Gericht will mit seiner Vorlagefrage im Wesentlichen wissen, ob die Barren, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sind, in den Anwendungsbereich des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten u. a. bei der Lieferung von „Goldmaterial oder Halbfertigerzeugnissen mit einem Feingehalt von mindestens 325 Tausendsteln“ vorsehen, dass die Mehrwertsteuer vom Erwerber der Gegenstände – und nicht wie sonst üblich vom Lieferanten – geschuldet wird. |
19. |
Ich bin der Auffassung, dass die Vorlagefrage zu bejahen ist. Denn Barren, die aus einer Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände wie solchen im Ausgangsrechtsstreit bestehen, erfüllen als „Goldmaterial“ die Voraussetzungen einer Anwendung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dies ergibt sich aus der Auslegung von Wortlaut, Kontext und Zielsetzung der Vorschrift, wie ich im Folgenden darlegen werde. |
A – Wortlaut
20. |
Zunächst bietet der Wortlaut aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie kein einheitliches Bild für die Bedeutung des Begriffs „Goldmaterial“. |
21. |
So verwendet die dänische Sprachfassung den Begriff „råmetal“, der sich im Deutschen mit „Rohmetall“ übersetzen lässt ( 6 ). Hierunter ist nach gewöhnlichem Sprachgebrauch das reine, unbearbeitete Metall zu verstehen. In dieselbe Richtung deutet der Begriff „d’or sous forme de matière première“ in der französischen Sprachfassung. |
22. |
Nach einem solchen engen Verständnis würden unter den Begriff des Goldmaterials im Sinne des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur Goldbarren subsumiert werden können, die aus Feingold, also zu nahezu 100 % aus Gold, bestehen. Eine Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände zu einem Barren mit einem Goldgehalt von nur 500 bis 600 Tausendsteln, wie er dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegt, wäre danach nicht vom Begriff des Goldmaterials umfasst. |
23. |
Auf der anderen Seite enthalten etwa die deutsche Sprachfassung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie mit „Goldmaterial“ und die englische mit „gold material“ von vornherein Begriffe, die weiter formuliert sind als die Bedeutung von Rohmetall und von ihrem Wortsinn her nicht auf Feingold beschränkt sind. Unter „Goldmaterial“ kann nämlich jegliches Material verstanden werden, das zu einem Teil aus Gold besteht, also auch die vorliegende Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände. |
24. |
Weichen die verschiedenen Sprachfassungen einer Regelung des Unionsrechts wie vorliegend voneinander ab, so kann ihre Bedeutung nach ständiger Rechtsprechung nicht allein aufgrund des Wortlauts, sondern nur mit Hilfe ihres Kontextes und ihrer Zielsetzung ermittelt werden ( 7 ). |
B – Kontext
25. |
Zunächst könnte also der Kontext des Begriffs „Goldmaterial“ in Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei der Beantwortung der Frage behilflich sein, ob ein Barren, der aus einer Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände besteht, unter diesen Begriff fällt. |
1. Anforderung zum Mindestfeingehalt in Art. 198 Abs. 2
26. |
Die Vorschrift gilt für die Lieferung von „Goldmaterial oder Halbfertigerzeugnissen mit einem Feingehalt von mindestens 325 Tausendsteln“. Wenn sich der Satzteil „mit einem Feingehalt von mindestens 325 Tausendsteln“ nicht nur auf die „Halbfertigerzeugnisse“, sondern auch auf das „Goldmaterial“ bezieht, müsste dieser Begriff zwangsläufig nicht nur Feingold, sondern auch Material mit einem geringeren Goldgehalt umfassen, wie es vorliegend vorhanden ist. |
27. |
Nimmt man jedoch an, dass sich jener Satzteil allein auf die Halbfertigerzeugnisse bezieht, so würde das Erfordernis eines Mindestfeingehalts nicht für Goldmaterial gelten. Hieraus könnte zum einen geschlossen werden, dass jeglicher Feingehalt für die Annahme von Goldmaterial ausreicht. Da dies jedoch sehr weitgehend wäre, könnte das Fehlen eines expliziten Erfordernisses für den Feingehalt bei Goldmaterial auch dafür sprechen, dass allein Feingold unter den Begriff des Goldmaterials zu subsumieren ist. |
28. |
Auf welche Begriffe sich jener Satzteil zum Mindestfeingehalt aber nun bezieht, lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig entnehmen. Zumindest die deutsche, die englische und die französische Sprachfassung lassen nämlich beide Interpretationen zu. |
29. |
Auch der 55. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie hilft hier nicht weiter. Zwar spricht er im Rahmen der Beschreibung der Zielsetzung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie zusammenfassend von den Gegenständen, die durch die Regelung erfasst werden, als „Gold ab einem bestimmten Feingehalt“. Daraus kann jedoch nicht zwingend geschlossen werden, dass sowohl für Goldmaterial als auch für Halbfertigerzeugnisse der Mindestfeingehalt von 325 Tausendsteln gelten soll. Diese Anforderung des 55. Erwägungsgrundes der Mehrwertsteuerrichtlinie wäre nämlich auch dann erfüllt, wenn unter Goldmaterial nur Feingold, also Material zum Beispiel ab einem Feingehalt von 995 Tausendsteln ( 8 ), zu verstehen wäre. |
30. |
Somit kann im Ergebnis der Anforderung zum Mindestfeingehalt in Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht entnommen werden, ob der Begriff des Goldmaterials die vorliegend umstrittenen Barren umfasst. |
2. Erfassung von Goldabfall durch Art. 199 Abs. 1 Buchst. d
31. |
Ebenfalls zur Auslegung des Kontextes von Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie hatte Envirotec im Ausgangsrechtsstreit die Auffassung vertreten, dass keiner der Begriffe dieser Vorschrift Schrott bzw. Abfall, der aus Gold besteht, erfassen könne, um den es sich aber im vorliegenden Fall handele. Denn die Verlagerung der Steuerschuld auf den Erwerber werde bei Goldabfall durch die erst später eingeführte spezielle Bestimmung des Art. 199 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelt. |
32. |
Insoweit geht das vorlegende Gericht offenbar davon aus, dass sich die im Ausgangsrechtsstreit entscheidende Vorschrift des § 46 Abs. 1 Nr. 4 des dänischen Mehrwertsteuergesetzes nicht auf die letztgenannte Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie, sondern allein auf Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie stützt, der Gegenstand der Vorlagefrage ist. Folglich macht es für den Ausgangsrechtsstreit einen Unterschied, ob die Verlagerung der Steuerschuld auf den Erwerber für die vorliegenden Barren von der einen oder von der anderen Ermächtigung der Mehrwertsteuerrichtlinie abgedeckt wird. |
33. |
In dieser Hinsicht trifft es nun zwar zu, dass die von Envirotec angeführte Vorschrift eine Reihe von Tatbeständen enthält, die nach ihrem Wortlaut auch recycelte goldhaltige Gegenstände betreffen, da Gold zu den dort mehrfach aufgeführten „Nichteisenmetallen“ zählt. Der Anwendungsbereich des Art. 199 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie ist aber eben nicht auf Gold beschränkt, sondern erfasst u. a. sämtliche übrigen Nichteisenmetalle. Somit könnte die vorliegend auszulegende Norm des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie als lex specialis im Hinblick auf Gold angesehen werden, die deshalb auch für Goldabfall gilt. |
34. |
Allerdings ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 199 Abs. 1 Buchst. d, der u. a. Abfälle von Nichteisenmetallen betrifft, ein Hinweis darauf, dass die vorliegend auszulegende Vorschrift des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie gerade keine Goldabfälle erfassen soll. |
35. |
Die Vorgängerbestimmung ( 9 ) des Art. 199 Abs. 1 Buchst. d in der Sechsten Richtlinie wurden erst nach der Vorgängervorschrift ( 10 ) des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Richtlinie 2006/69/EG eingeführt. Diese Änderungsrichtlinie 2006/69/EG ist aber so ausgestaltet, als ginge der Unionsgesetzgeber zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass für Goldabfall noch keine Regelung zur Verlagerung der Steuerschuld auf den Erwerber bestand, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Vorgängervorschrift des hier auszulegenden Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ja bereits in Kraft war. |
36. |
Durch die Änderungsrichtlinie 2006/69/EG wurde nämlich eine Reihe von Ermächtigungen der Mitgliedstaaten ( 11 ) aufgehoben, vom bestehenden Mehrwertsteuerrecht der Union abzuweichen ( 12 ). Wie sich aus dem 8. Erwägungsgrund und der Entstehungsgeschichte ( 13 ) der Richtlinie 2006/69/EG ergibt, sollte die Aufhebung all jene Ermächtigungen betreffen, die durch die Bestimmungen der neuen Richtlinie nunmehr abgedeckt und daher in Zukunft entbehrlich sein würden. Als Erstes nennt Anhang II der Richtlinie 2006/69/EG insoweit eine Entscheidung des Rates, die dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland gestattete, ein spezielles Steuererhebungssystem einzuführen, um Betrug und Steuerumgehung bei „Lieferungen von Gold, Goldmünzen oder Goldabfall“ zu verhindern ( 14 ). |
37. |
Der Umstand nun, dass diese Ermächtigung erst mit der Richtlinie 2006/69/EG aufgehoben wurde, spricht dafür, dass der Unionsgesetzgeber infolge dieser Änderungsrichtlinie auch von einer Rechtsänderung im Hinblick auf die Lieferungen von Gold auszugehen schien. Da sich die damals neu geschaffene Regelung des jetzigen Art. 199 Abs. 1 Buchst. d vor allem auf Schrott und Abfall bezog, könnte hieraus der Schluss gezogen werden, dass Goldabfall – entsprechend dem Vortrag von Envirotec – allein von jener Regelung, nicht aber von Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst wird. |
38. |
Für sich genommen besitzt dieses Argument, das sich auf die Entstehungsgeschichte einer anderen Norm als der vorliegend zu untersuchenden stützt, jedoch noch keine große Überzeugungskraft. Da die besagte Ermächtigung des Vereinigten Königreichs auch nicht im ursprünglichen Entwurf der Richtlinie 2006/69/EG zur Aufhebung vorgesehen war ( 15 ), besteht zudem die Möglichkeit, dass sie im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nur deshalb hinzugefügt worden ist, weil entdeckt worden war, dass sie bereits nach damals geltendem Recht obsolet war. |
39. |
Folglich kann aus der Existenz einer Sonderregelung für Abfälle aus Nichteisenmetallen in Art. 199 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie im Ergebnis nicht zweifelsfrei auf den Anwendungsbereich des vorliegend zu behandelnden Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie geschlossen werden. |
3. Zollrechtliche Einordnung
40. |
Soweit schließlich im Ausgangsrechtsstreit ergänzend die zollrechtliche Tarifierung angeführt worden ist, kann dieser Vergleich nicht überzeugen. Die Kombinierte Nomenklatur ( 16 ), die Einteilungen von Waren enthält, die in erster Linie zur Festlegung des jeweiligen Zollsatzes dienen ( 17 ), verfolgt andere Ziele als die vorliegend auszulegende Bestimmung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie. |
41. |
Sofern der Gerichtshof zur Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits ergänzend auf die Verwendung von Begriffen in der Kombinierten Nomenklatur Bezug genommen hat, geschah dies nur im Hinblick auf den anzuwendenden Steuersatz ( 18 ). Bei der Bestimmung des Steuersatzes ergibt sich aber aus Art. 98 Abs. 3 ein gewisser Zusammenhang zur Kombinierten Nomenklatur aus der Mehrwertsteuerrichtlinie selbst ( 19 ). |
42. |
Ein solcher Zusammenhang mit den Definitionen der Kombinierten Nomenklatur ist für die vorliegend auszulegende Bestimmung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie jedoch nicht vorhanden. Weder handelt es sich dabei um eine Bestimmung des Steuersatzes, noch enthält die Vorschrift – und somit anders als etwa Art. 148 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie – eine explizite Bezugnahme auf die Kombinierte Nomenklatur. |
4. Ergebnis zur Auslegung des Kontextes
43. |
Nach alledem lässt sich dem Kontext des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht zweifelsfrei entnehmen, ob ein Barren, der aus einer Verschmelzung verschiedener goldhaltiger Metallgegenstände besteht, unter den Begriff des Goldmaterials zu subsumieren ist. Die Antwort auf diese Frage muss folglich in der Zielsetzung dieser Vorschrift gefunden werden. |
C – Zielsetzung
44. |
Ausweislich des 8. Erwägungsgrundes der Richtlinie 98/80/EG, mit dem die Vorgängerbestimmung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführt wurde ( 20 ), dient die Regelung sowohl der „Vorbeugung von Steuerhinterziehung“ als auch der Verringerung der „Finanzierungsbelastung“. In vergleichbarer Weise äußert sich nunmehr der 55. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie. Der Entstehungsgeschichte der Richtlinie 98/80/EG sind darüber hinaus keine weiteren Ziele dieser Regelung zu entnehmen ( 21 ). |
1. Vorbeugung von Steuerhinterziehung
45. |
Der Vorbeugung von Steuerhinterziehung dient die Regelung insoweit, als die Verlagerung der Steuerschuld vom Lieferanten auf den Erwerber der Gegenstände verhindert, dass der Fiskus aufgrund des Auseinanderfallens von Steuerschuldner und Vorsteuerabzugsberechtigtem betrogen werden kann. |
46. |
Wie dies möglich ist ( 22 ), lässt sich am vorliegenden Fall nachvollziehen. Envirotec macht Vorsteuerabzug im Hinblick auf Mehrwertsteuer geltend, die sie an ihre Lieferantin gezahlt, jene aber nie an die Steuerverwaltung abgeführt hat. Hätten Envirotec und ihre Lieferantin dabei in betrügerischer Absicht zusammengewirkt, so hätten sie den Fiskus um den Betrag der geltend gemachten Vorsteuer bewusst erleichtern können. Denn Envirotec hätte vom Fiskus eine Zahlung in Höhe der Mehrwertsteuer erhalten, der Fiskus von der Lieferantin aber keine korrespondierende Steuer einziehen können. Schuldet hingegen bei einem Umsatz der Erwerber des Gegenstands anstelle des Lieferanten die Mehrwertsteuer, ist ein solcher Betrug nicht möglich. Steuerschuld und Recht auf Vorsteuerabzug fallen dann nämlich in einer Person zusammen, so dass der Fiskus kein Geld auskehren muss. |
47. |
Dementsprechend hat auch der Rat zuletzt im 4. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/42/EU ( 23 ) zum Ausdruck gebracht, dass „die Bestimmung des Empfängers eines Gegenstands oder einer Dienstleistung als Steuerschuldner (Reverse Charge) in bestimmten Fällen eine wirksame Maßnahme ist, um dem Mehrwertsteuerbetrug in spezifischen Branchen Einhalt zu gebieten“. |
48. |
Diese Branchen hat der Unionsgesetzgeber in den Art. 198 bis 199a der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegt. Branchenbezogen geht es dort um den Handel mit Gold, das Baugewerbe, die Abfallwirtschaft und den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten. Der Katalog des Art. 199a wurde mittlerweile aufgrund der Richtlinie 2013/43/EU ( 24 ) durch weitere Branchen ergänzt, wie z. B. den Handel mit Mobilfunkgeräten, Mikroprozessoren, Kleincomputern, Edelmetallen oder auch Getreide. Der Unionsgesetzgeber scheint hier, wie sich aus dem 4. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, stets darauf zu reagieren, wenn sich in der Praxis in bestimmten Branchen Betrugsfälle feststellen lassen. |
49. |
Soweit es um den Handel mit Waren geht, haben die meisten der Gegenstände, für die eine Verlagerung der Steuerschuld auf den Erwerber vorgesehen werden kann, eine gewisse abstrakte Gemeinsamkeit. Sie haben nämlich im Verhältnis zu ihrer Größe einen hohen Marktwert. Denn das Risiko eines Mehrwertsteuerbetrugs mit Hilfe des Handels von Gegenständen ist tendenziell umso größer, je werthaltiger und leichter transportierbar die gehandelten Gegenstände sind, wie insbesondere die Republik Estland hervorgehoben hat. |
50. |
Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung ist die vorliegend zu untersuchende Regelung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in einer Weise auszulegen, die den besonderen Risiken Rechnung trägt, die aus Sicht des Unionsgesetzgebers mit dem Goldhandel im Hinblick auf möglichen Mehrwertsteuerbetrug einhergehen. Dieses Risiko hängt – wie auch der 55. Erwägungsgrund hervorhebt – entscheidend mit dem Goldfeingehalt eines Gegenstands zusammen. Ist dieser hoch, so besteht auch ein betrugsanfälliges Verhältnis zwischen der Größe des Gegenstands und seinem Marktwert. |
51. |
Somit besteht erstens kein Grund, unter den Begriff des Goldmaterials im Sinne des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie allein Feingold zu subsumieren, wenn die Bestimmung gleichzeitig zumindest Halbfertigerzeugnisse zweifelsfrei bereits ab einem Feingehalt von 325 Tausendsteln erfasst. Diese Anforderung an den Mindestfeingehalt muss sich zweitens nicht nur auf Halbfertigerzeugnisse, sondern auch auf Goldmaterial beziehen, um nur Material von hohem Wert zu erfassen. Drittens schließlich ist es mit der Funktion dieser Vorschrift nicht zu vereinbaren, bei Goldmaterial zwischen „frischen“ Legierungen und Gold-„Abfall“ zu differenzieren, da hiervon aufgrund des wertentscheidenden Feingehalts die Betrugsanfälligkeit von Geschäften mit goldhaltigen Gegenständen nicht abhängen dürfte. |
2. Verringerung der Finanzierungsbelastung
52. |
Diese Auslegung wird durch die zweite Zielsetzung der Vorschrift bestätigt, die in der Verringerung der Finanzierungsbelastung besteht. |
53. |
Wie die Kommission in ihrem Vorschlag für die Vorgängerbestimmung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausgeführt hat ( 25 ), dient die Verlagerung der Steuerschuld vom Lieferanten auf den Erwerber auch dem Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen des inländischen gegenüber dem innergemeinschaftlichen Handel. Denn bei grenzüberschreitenden Umsätzen zwischen Steuerpflichtigen ist nach dem System der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Handels der Erwerber stets der Steuerschuldner ( 26 ). Dies erspart ihm eine Vorfinanzierung der Mehrwertsteuer, die ihn bei rein nationalen Umsätzen belasten würde, weil er seinem jeweiligen Goldlieferanten zunächst den Preis zuzüglich Mehrwertsteuer zahlen müsste, sich diese Mehrwertsteuer aber erst später im Wege einer Steuererklärung vom Fiskus erstatten lassen könnte. Indem auch für nationale Umsätze die Steuerschuld des Erwerbers vorgesehen wurde, konnten insoweit gleiche Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. |
54. |
Die Kommission betonte in ihrem Vorschlag, dass diese Problematik zwar nicht auf Gold beschränkt, aber aufgrund des „sehr hohen Werts von Gold“ in diesen Fällen nicht hinnehmbar sei ( 27 ). Entscheidend für diese Zielrichtung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist somit wiederum die Werthaltigkeit der gehandelten Gegenstände und damit ihr Goldfeingehalt. |
3. Beschränkung auf steuerpflichtige Erwerber
55. |
Des Weiteren ergibt sich aus den beschriebenen Zielrichtungen des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie implizit, dass die Vorschrift ausschließlich Lieferungen an steuerpflichtige Erwerber erfassen soll. Denn nur diese verfügen gemäß Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie über das Recht auf Vorsteuerabzug. Nur Lieferungen an Erwerber mit dem Recht auf Vorsteuerabzug bergen aber die Gefahr von Mehrwertsteuerbetrug und können die beschriebene Vorfinanzierungsbelastung des Erwerbers zur Folge haben. |
56. |
Diese Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat in seinem Wortlaut jedoch keinen expliziten Ausdruck gefunden ( 28 ). Sie muss daher im Rahmen der Definition der Gegenstände, die von dieser Regelung erfasst werden, sichergestellt werden und beeinflusst damit auch die Auslegung der Begriffe „Goldmaterial“ und „Halbfertigerzeugnisse“. |
57. |
Dabei sind „Halbfertigerzeugnisse“ bereits nach ihrem Wortlaut nur solche Gegenstände, die in aller Regel nur von Steuerpflichtigen im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erworben werden. Denn Halberzeugnisse sind von Endprodukten zu unterscheiden. Während Endprodukte direkt an einen Endverbraucher verkauft werden können, müssen Halberzeugnisse zuvor noch weiterverarbeitet werden ( 29 ). |
58. |
Gleiches muss aber vor dem Hintergrund der beschriebenen Ziele der Regelung auch für den Begriff „Goldmaterial“ gelten. Darunter kann nicht sämtliches Material fallen, das einen Goldfeingehalt von 325 Tausendsteln aufweist, sondern nur solches, das kein Endprodukt darstellt und sich somit nicht für eine Lieferung an nichtsteuerpflichtige Endverbraucher eignet. |
4. Ergebnis der teleologischen Auslegung
59. |
Der Begriff „Goldmaterial“ umfasst damit nach Sinn und Zweck des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie jegliches Material, das zur weiteren Verarbeitung und nicht für den Endverbrauch bestimmt ist, jedoch kein Halbfertigerzeugnis darstellt, sofern es einen Goldfeingehalt von mindestens 325 Tausendsteln aufweist. |
60. |
Da die vorliegenden Barren nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zur Herstellung von Produkten weiterverarbeitet werden und einen Feingehalt von mindestens 500 Tausendsteln aufweisen, fallen sie somit unter den Begriff des Goldmaterials im Sinne dieser Bestimmung, sofern sie keine Halbfertigerzeugnisse darstellen. |
D – Abgrenzung zwischen Goldmaterial und Halbfertigerzeugnis
61. |
Zuletzt bleibt damit für den vorliegenden Fall noch die Frage zu klären, wie sich der Begriff des Goldmaterials von dem der Halbfertigerzeugnisse unterscheidet, die in dieser Bestimmung ebenfalls genannt werden. |
62. |
Dieser Frage kommt im Rahmen des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar keine entscheidende Bedeutung zu, weil wie gesehen das Ziel dieser Vorschrift in beiden Fällen erfordert, dass der Gegenstand einen Feingehalt von mindestens 325 Tausendsteln aufweist und es sich dabei nicht um ein Endprodukt handelt. Gleichwohl sind beide Begriffe voneinander abzugrenzen, insbesondere für den Fall, dass der Gerichtshof entgegen meiner Auffassung annehmen sollte, dass vom Begriff „Goldmaterial“ allein Feingold erfasst ist. |
63. |
Nach dem gewöhnlichen Wortsinn, der den Begriffen Goldmaterial und Halbfertigerzeugnisse innewohnt, sind diese nach dem Bearbeitungsgrad im Hinblick auf das Endprodukt zu unterscheiden. Danach bezeichnet „Goldmaterial“ Gegenstände, in denen allein das enthaltene Gold – unabhängig von seiner im Einzelnen vorliegenden Form – für den weiteren Produktionsprozess relevant ist. Unter „Halbfertigerzeugnissen“ sind hingegen Gegenstände zu verstehen, die bereits eine Bearbeitung hin zum Endprodukt erfahren haben, wie etwa für die Zwecke des Endprodukts bereits geformtes Material; im Fall von Gold können dies zum Beispiel Rohlinge für Ringe sein. |
64. |
Da bei den vorliegenden Barren allein das darin enthaltene Gold zur Weiterverarbeitung gewonnen werden soll, die Barren jedoch noch keine Vorgestaltung im Hinblick auf ein Endprodukt erhalten haben, handelt es sich bei ihnen folglich um Goldmaterial und nicht um Halbfertigerzeugnisse im Sinne des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie. |
65. |
Demgegenüber vermag es nicht zu überzeugen, wenn die dänische Steuerverwaltung im Ausgangsrechtsstreit aus Art. 2 Buchst. c der Entscheidung 2004/228/EG ( 30 ) ableiten will, Barren wie die vorliegenden fielen unter den Begriff des „Halbfertigerzeugnisses“. Nach dieser Entscheidung wird das Königreich Spanien ermächtigt, bei „Lieferungen von Halbzeug (z. B. Barren […]), das bei Verarbeitung, Herstellung oder Einschmelzen von Nichteisenmetallen […] gewonnen wird“, den Empfänger der Lieferung als Steuerschuldner vorzusehen. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass Barren, die aus dem Einschmelzen von Gold resultieren, auch im Rahmen des hier zu untersuchenden Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Halbfertigerzeugnisse“ anzusehen sind. Abgesehen davon, dass zumindest einige Sprachfassungen der beiden Bestimmungen – unter ihnen die deutsche – hier zwei unterschiedliche Begriffe verwenden, erfordert Art. 2 Buchst. c der Entscheidung 2004/228/EG anders als die vorliegend auszulegende Bestimmung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie gerade keine Abgrenzung zwischen den Begriffen „Material“ und „Halbfertigerzeugnis“. Somit kann dem Begriff „Halbzeug“ im Sinne der genannten Entscheidung durchaus eine weitere Bedeutung beigemessen werden als dem Begriff „Halbfertigerzeugnis“ in der vorliegend untersuchten Vorschrift. |
E – Ergebnis
66. |
Nach der Auslegung des Wortlauts, des Kontextes und der Zielsetzung des Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist deshalb festzustellen, dass Barren wie diejenigen des Ausgangsrechtsstreits als Goldmaterial die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung erfüllen. |
VI – Entscheidungsvorschlag
67. |
Deshalb schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Østre Landsret wie folgt zu antworten: Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie findet Anwendung auf Barren, die wie diejenigen des Ausgangsrechtsstreits aus einer zufälligen groben Verschmelzung verschiedener verschrotteter goldhaltiger Metallgegenstände bestehen und die einen Goldfeingehalt von über 500 Tausendsteln aufweisen. |
( 1 ) Originalsprache: Deutsch.
( 2 ) Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Szene „Abend“, letzte drei Verse (2802 bis 2804).
( 3 ) ABl. L 347, S. 1.
( 4 ) ABl. L 145, S. 1.
( 5 ) Dies ist die Fassung der Mehrwertsteuerrichtlinie, die zuletzt geändert wurde durch die Richtlinie 2010/88/EU des Rates vom 7. Dezember 2010 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf die Dauer der Verpflichtung, einen Mindestnormalsatz einzuhalten (ABl. L 326 S. 1).
( 6 ) Vgl. insoweit die dänische und die deutsche Sprachfassung des mittlerweile geltenden Art. 199a Abs. 1 Buchst. j der Mehrwertsteuerrichtlinie, der durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/43/EU des Rates vom 22. Juli 2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen (ABl. L 201, S. 4) eingeführt wurde.
( 7 ) Vgl. nur Urteile Bouchereau (30/77, EU:C:1977:172, Rn. 14), Rockfon (C‑449/93, EU:C:1995:420, Rn. 28) und Hedqvist (C‑264/14, EU:C:2015:718, Rn. 47).
( 8 ) Vgl. die Definition für Anlagegold in Art. 344 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
( 9 ) Die Vorgängerbestimmung des Art. 199 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie ist Art. 21 Abs. 2 Buchst. c Nr. iv in der Fassung von Art. 28g der Sechsten Richtlinie und wurde durch die Richtlinie 2006/69/EG vom 24. Juli 2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder -umgehung, zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (ABl. L 221, S. 9) eingeführt.
( 10 ) Die Vorgängerbestimmung von Art. 198 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist Art. 26b Teil F Satz 1 der Sechsten Richtlinie und beruht auf der Richtlinie 98/80/EG des Rates vom 12. Oktober 1998 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Anlagegold (ABl. L 281, S. 31).
( 11 ) Diese Ermächtigungen waren auf der Grundlage von Art. 27 der Sechsten Richtlinie ergangen.
( 12 ) Siehe Art. 2 in Verbindung mit Anhang II der Richtlinie 2006/69/EG.
( 13 ) Vgl. den Vorschlag der Kommission vom 16. März 2005 für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer, zur Unterstützung der Bekämpfung der Steuerhinterziehung und -umgehung und zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (KOM[2005] 89 endgültig), S. 4.
( 14 ) Als am 15. April 1984 erlassen geltende Entscheidung des Rates zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs, eine von der Sechsten Richtlinie abweichende Maßnahme zu treffen, deren Zweck es ist, durch die Einführung eines speziellen Steuererhebungssystems bestimmte Betrugsfälle oder Steuerumgehungen bei Lieferungen von Gold, Goldmünzen oder Goldabfall unter Steuerpflichtigen zu verhindern (ABl. L 264, S. 27).
( 15 ) Vgl. Vorschlag der Kommission (zitiert in Fn. 13), S. 11 und 12.
( 16 ) Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1).
( 17 ) Vgl. Art. 1 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 (zitiert in Fn. 16).
( 18 ) Vgl. Urteil Kommission/Spanien (C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 44).
( 19 ) Gemäß dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten für die Anwendung ermäßigter Steuersätze auf bestimmte Kategorien von Gegenständen die betreffenden Kategorien anhand der Kombinierten Nomenklatur abgrenzen.
( 20 ) Vgl. oben, Fn. 10.
( 21 ) Vgl. den Vorschlag der Kommission vom 27. Oktober 1992 für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gold (KOM[92] 441 endgültig), die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 28. April 1993 zu dem Vorschlag (ABl. C 161, S. 25) und das Protokoll der Sitzung des Europäischen Parlaments vom 7. März 1994 (ABl. C 91, S. 1), S. 15 und 16 sowie vom 10. März 1994 (ABl. C 91, S. 198), S. 209 und 239 bis 243.
( 22 ) Vgl. insoweit auch die Erläuterung im Vorschlag der Kommission vom 29. September 2009 für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung des Reverse Charge-Verfahrens auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen (KOM[2009] 511 endgültig), S. 3.
( 23 ) Richtlinie 2013/42/EU des Rates vom 22. Juli 2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechanismus bei Mehrwertsteuerbetrug (ABl. L 201, S. 1).
( 24 ) Zitiert in Fn. 6.
( 25 ) Siehe S. 13 des Vorschlags der Kommission (zitiert in Fn. 21).
( 26 ) Vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Nr. i), 138 und 200 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
( 27 ) Ebenda (Fn. 25).
( 28 ) Nur bei Anlagegold ergibt sich dies klar aufgrund des Verweises auf die Wahlmöglichkeiten, die in den Art. 348 bis 350 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen sind und die ihrerseits voraussetzen, dass der Leistungsempfänger selbst Steuerpflichtiger ist.
( 29 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Artrada u. a. (C‑124/03, EU:C:2004:674, Rn. 34) im Hinblick auf Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 92/46/EWG des Rates vom 16. Juni 1992 mit Hygienevorschriften für die Herstellung und Vermarktung von Rohmilch, wärmebehandelter Milch und Erzeugnissen auf Milchbasis (ABl. L 268, S. 1).
( 30 ) Entscheidung 2004/228/EG des Rates vom 26. Februar 2004 zur Ermächtigung Spaniens, eine von Artikel 21 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern abweichende Regelung anzuwenden (ABl. L 70, S. 37).