Rechtssache C‑366/13

Profit Investment SIM SpA

gegen

Stefano Ossi u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione)

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EG) Nr. 44/2001 — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Begriff ‚widersprechende Entscheidungen‘ — Gegen mehrere Beklagte, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind, gerichtete Klagen, die nicht denselben Gegenstand haben — Voraussetzungen für eine Vereinbarung über die Zuständigkeit — Gerichtsstandsklausel — Begriff ‚Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag‘ — Prüfung des Fehlens einer wirksamen vertraglichen Beziehung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 20. April 2016

  1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung Nr. 44/2001 – Zuständigkeitsvereinbarung – Schriftformerfordernis – In einem Emissionsprospekt von Schuldverschreibungen enthaltene Gerichtsstandsklausel – Erforderlichkeit, die Übernahme dieser Klausel in dem von den Parteien bei der Emission der Wertpapiere auf dem Primärmarkt unterzeichneten Vertrag zu erwähnen oder darin ausdrücklich auf den Prospekt Bezug zu nehmen – Wirksamkeit dieser Klausel gegenüber einem Dritten, der Wertpapiere von einem Finanzmittler erworben hat – Voraussetzungen

    (Verordnung Nr. 44/2001 des Rates, Art. 23 Abs. 1 Buchst. a)

  2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung Nr. 44/2001 – Zuständigkeitsvereinbarung – Gerichtsstandsvereinbarung – Formerfordernisse – In einer internationalen Handelsbräuchen entsprechenden Form geschlossene Vereinbarung – Begriff – In einem Emissionsprospekt von Schuldverschreibungen enthaltene Gerichtsstandsklausel – Einbeziehung – Voraussetzungen

    (Verordnung Nr. 44/2001 des Rates, Art. 23 Abs. 1 Buchst. c)

  3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung Nr. 44/2001 – Besondere Zuständigkeiten – Zuständigkeit für Klagen aus Vertrag – Begriff – Klagen auf Nichtigerklärung eines Vertrags und auf Rückgewähr der auf dessen Grundlage gezahlten Beträge – Einbeziehung

    (Verordnung Nr. 44/2001 des Rates, Art. 5 Nr. 1 Buchst. a)

  4. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung Nr. 44/2001 – Mehrere Beklagte – Zuständigkeit des Gerichts eines der Beklagten – Voraussetzung – Zusammenhang – Bestehen einer Gefahr widersprechender Entscheidungen – Tragweite – Klagen, deren Gegenstand und Grundlage sich unterscheiden und die nicht voneinander abhängig oder miteinander unvereinbar sind – Potenzielle Auswirkung des Ergebnisses der ersten Klage auf das der zweiten Klage – Nicht ausreichende Auswirkung, um die Entscheidungen als widersprechend zu qualifizieren

    (Verordnung Nr.o44/2001 des Rates, Art. 6 Nr. 1)

  1.  Art. 23 der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass dem Schriftformerfordernis in dieser Bestimmung im Fall der Aufnahme einer Gerichtsstandsklausel in einen Emissionsprospekt von Schuldverschreibungen nur dann genügt ist, wenn in dem von den Parteien bei der Emission der Wertpapiere auf dem Primärmarkt unterzeichneten Vertrag die Übernahme dieser Klausel erwähnt oder ausdrücklich auf den Prospekt Bezug genommen wird.

    Das Vorliegen einer echten Willenseinigung der Parteien ist nämlich eines der Ziele von Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und deshalb muss das erkennende Gericht prüfen, ob die in Rede stehende Klausel tatsächlich Gegenstand einer Willenseinigung zwischen den Parteien war, die klar und deutlich zum Ausdruck gekommen ist.

    Des Weiteren ist Art. 23 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass eine Gerichtsstandsklausel in einem Emissionsprospekt von Schuldverschreibungen, der vom Emittenten der fraglichen Wertpapiere erstellt wurde, einem Dritten, der die Wertpapiere von einem Finanzmittler erworben hat, entgegengehalten werden kann, wenn nachgewiesen wird, dass die Klausel im Verhältnis zwischen dem Emittenten und dem Finanzmittler wirksam ist, dass der Dritte durch die Zeichnung der in Rede stehenden Wertpapiere auf dem Sekundärmarkt in die nach dem anwendbaren nationalen Recht mit diesen Wertpapieren verbundenen Rechte und Pflichten des Finanzmittlers eingetreten ist, und dass der betreffende Dritte die Möglichkeit hatte, von dem die Klausel enthaltenden Prospekt Kenntnis zu erlangen. Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

    (vgl. Rn. 27, 29, 36, 37, 51, Tenor 1)

  2.  Art. 23 der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass die Aufnahme einer Gerichtsstandsklausel in einen Emissionsprospekt von Schuldverschreibungen als eine einem internationalen Handelsbrauch entsprechende Form angesehen werden kann, die es ermöglicht, die Zustimmung der Person zu vermuten, der sie entgegengehalten wird, sofern insbesondere nachgewiesen wird, dass zum einen die im betreffenden Geschäftszweig tätigen Wirtschaftsteilnehmer beim Abschluss derartiger Verträge allgemein und regelmäßig ein solches Verhalten zeigen und zum anderen entweder die Parteien zuvor untereinander oder mit anderen im betreffenden Geschäftszweig tätigen Parteien regelmäßige Handelsbeziehungen unterhielten oder das in Rede stehende Verhalten hinreichend bekannt ist, um als ständige Übung angesehen werden zu können. Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist Sache des nationalen Gerichts.

    Zu den Gesichtspunkten, denen das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang Rechnung zu tragen hat, gehört insbesondere der Umstand, dass der Prospekt vorab von der nationalen Börse des Landes der Emission der Schuldverschreibungen genehmigt und der Öffentlichkeit auf deren Website zur Verfügung gestellt wurde. Zudem hat das vorlegende Gericht zu berücksichtigen, dass der Dritte, der die Wertpapiere von einem Finanzmittler erworben hat und dem die Gerichtsstandsklausel entgegengehalten wird, ein im Bereich der Finanzinvestments tätiges Unternehmen ist und ob er in der Vergangenheit Handelsbeziehungen zu den anderen betreffenden Parteien unterhielt. Das nationale Gericht hat auch zu prüfen, ob die Emission von Schuldverschreibungen auf dem Markt in diesem Tätigkeitsbereich allgemein und regelmäßig mit einem Prospekt einhergeht, der eine Gerichtsstandsklausel enthält, und ob eine solche Praxis hinreichend bekannt ist, um als ständige Übung eingestuft werden zu können.

    (vgl. Rn. 49-51, Tenor 1)

  3.  Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass Klagen auf Nichtigerklärung eines Vertrags und auf Rückgewähr von Beträgen, die auf der Grundlage dieses Vertrags ohne Rechtsgrund gezahlt wurden, unter die Wendung „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Vorschrift fallen.

    Die Zuständigkeit des nationalen Gerichts zur Entscheidung über die mit einem Vertrag zusammenhängenden Fragen schließt nämlich zum einen die Zuständigkeit ein, das Vorliegen der den Vertrag selbst begründenden Umstände zu beurteilen, da eine solche Beurteilung unerlässlich ist, damit das angerufene nationale Gericht seine Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 44/2001 prüfen kann. Sinn und Zweck dieser Verordnung gebieten es somit, die Bestimmungen ihres Art. 5 dahin auszulegen, dass das Gericht, das über einen Rechtsstreit aus einem Vertrag zu befinden hat, die wesentlichen Voraussetzungen seiner Zuständigkeit – auch von Amts wegen – anhand von schlüssigen und erheblichen Gesichtspunkten nachprüfen kann, die eine Partei vorträgt und aus denen sich das Bestehen oder Nichtbestehen des Vertrags ergibt.

    Zum anderen wird in Bezug auf den Zusammenhang zwischen einer Klage auf Nichtigerklärung und der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge ohne die freiwillig eingegangene vertragliche Beziehung zwischen den Parteien die Verpflichtung nicht erfüllt werden und kein Rückgewähranspruch bestehen. Dieser Kausalzusammenhang zwischen dem Rückgewähranspruch und der vertraglichen Beziehung reicht aus, um die Klage auf Rückgewähr zu den Fällen zu zählen, in denen ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden.

    (vgl. Rn. 54, 55, 58, Tenor 2)

  4.  Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass im Fall der Erhebung von zwei Klagen gegen mehrere Beklagte, deren Gegenstand und Grundlage sich unterscheiden und die nicht voneinander abhängig oder miteinander unvereinbar sind, nicht schon dann die Gefahr widersprechender Entscheidungen im Sinne dieser Vorschrift besteht, wenn sich die Begründetheit einer der Klagen auf den Umfang des Interesses auswirken könnte, zu dessen Wahrung die andere Klage eingereicht worden ist.

    Hinsichtlich, genauer, einer Nichtigkeits- und Rückgewährklage einerseits und einer Haftungsklage andererseits reicht der bloße Umstand, dass sich das Ergebnis des einen Verfahrens auf das des anderen auswirken kann – insbesondere in Form der potenziellen Auswirkung des im Rahmen der ersten Klage zu erstattenden Betrags auf die Bewertung des etwaigen Schadens im Rahmen der zweiten Klage –, nicht aus, um die im Rahmen der beiden Verfahren zu treffenden Entscheidungen als „widersprechend“ im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren. Diese besondere Zuständigkeitsvorschrift ist nämlich, da mit ihr von der in Art. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellten Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten abgewichen wird, eng auszulegen, so dass eine Auslegung über die in der Verordnung ausdrücklich vorgesehenen Fälle hinaus unzulässig ist.

    (vgl. Rn. 63, 66, 67, Tenor 3)