URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. Juli 2014 ( *1 )

„Seeverkehr — Freier Dienstleistungsverkehr — Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 — Anwendbarkeit auf Transporte, die von EWR-Vertragsstaaten aus oder in diese mit Schiffen durchgeführt werden, die unter der Flagge eines Drittlands fahren — Arbeitskampfmaßnahmen in Häfen eines solchen Staates zugunsten von auf diesen Schiffen beschäftigten Drittstaatsangehörigen — Keine Auswirkung der Staatsangehörigkeit dieser Arbeitnehmer und Schiffe auf die Anwendbarkeit des Unionsrechts“

In der Rechtssache C‑83/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbetsdomstol (Schweden) mit Entscheidung vom 14. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2013, in den Verfahren

Fonnship A/S

gegen

Svenska Transportarbetareförbundet,

Facket för Service och Kommunikation (SEKO)

und

Svenska Transportarbetareförbundet

gegen

Fonnship A/S

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, M. Ilešič (Berichterstatter), T. von Danwitz, C. G. Fernlund, J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Januar 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Fonnship A/S, vertreten durch L. Boman, advokat,

von Svenska Transportarbetareförbundet und Facket för Service och Kommunikation (SEKO), vertreten durch I. Otken Eriksson, advokat,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und U. Persson als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch S. Chala und E.‑M. Mamouna als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren, L. Nicolae und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis und M. Moustakali als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. April 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern (ABl. L 378, S. 1, und Berichtigung ABl. 1988, L 117, S. 33).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Fonnship A/S (im Folgenden: Fonnship), einer Gesellschaft norwegischen Rechts, einerseits und Svenska Transportarbetareförbundet (schwedischer Transportarbeiterverband, im Folgenden: ST) und Facket för Service och Kommunikation (Gewerkschaft für Dienstleistungen und Kommunikation, im Folgenden: SEKO), zwei schwedischen Gewerkschaften, andererseits sowie zwischen ST und Fonnship wegen Arbeitskampfmaßnahmen, die die Erbringung der Dienstleistungen gestört haben sollen, die mittels eines Schiffes, das Fonnship gehört und unter panamaischer Flagge fährt, erbracht wurden.

Rechtlicher Rahmen

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum

3

Art. 7 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) sieht vor:

„Rechtsakte, auf die in den Anhängen zu diesem Abkommen … Bezug genommen wird oder die darin enthalten sind, sind für die Vertragsparteien verbindlich und Teil des innerstaatlichen Rechts oder in innerstaatliches Recht umzusetzen, und zwar wie folgt:

a)

Ein Rechtsakt, der einer EWG-Verordnung entspricht, wird als solcher in das innerstaatliche Recht der Vertragsparteien übernommen.

…“

4

Art. 47 EWR-Abkommen bestimmt:

„(1)   Die Artikel 48 bis 52 gelten für die Beförderungen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr.

(2)   Die besonderen Bestimmungen für sämtliche Verkehrsträger sind in Anhang XIII enthalten.“

5

Anhang XIII des EWR-Abkommens bezieht in seinen Abschnitt V („Seeverkehr“) die Verordnung Nr. 4055/86 ein.

Verordnung Nr. 4055/86

6

Den Erwägungsgründen 7 bis 9 der Verordnung Nr. 4055/86 ist zu entnehmen, dass „… die Tätigkeit der nicht der Konferenz angehörenden Linienreedereien unbehindert sein sollte, solange sie den Grundsatz des lauteren Wettbewerbs … beachten“, dass „… die Mitgliedstaaten … ihr Festhalten am freien Wettbewerb [bekräftigen], der eines der wesentlichen Merkmale des Massengutverkehrs … darstellt …“, und dass „… Drittländer … die Reedereien der Gemeinschaft mit immer neuen Beschränkungen [konfrontieren] …“.

7

Nach dem zwölften Erwägungsgrund dieser Verordnung „[erscheint es a]ufgrund der Struktur der Seeschifffahrt der Gemeinschaft … angebracht, dass die Bestimmungen dieser Verordnung auch für außerhalb der Gemeinschaft ansässige Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sowie für Reedereien mit Sitz außerhalb der Gemeinschaft gelten, sofern diese von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten kontrolliert werden und ihre Schiffe nach den dort geltenden Rechtsvorschriften registriert sind“.

8

Art. 1 Abs. 1 bis 3 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs in der Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern gilt für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Dienstleistungsnehmers.

(2)   Diese Verordnung gilt auch für außerhalb der Gemeinschaft ansässige Staatsangehörige der Mitgliedstaaten und für Reedereien mit Sitz außerhalb der Gemeinschaft, die von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats kontrolliert werden, sofern deren Schiffe in diesem Mitgliedstaat nach den dort geltenden Rechtsvorschriften registriert sind.

(3)   Die Bestimmungen der Artikel 55 bis 58 … des [EWG-]Vertrags [später Art. 55 EG-Vertrag, dann Art. 45 EG, bzw. später Art. 56 und 57 EG-Vertrag, dann nach Änderung Art. 46 und 47 EG, bzw. später Art. 58 EG-Vertrag, dann Art. 48 EG) in dem für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitraum] finden auf das von dieser Verordnung geregelte Sachgebiet Anwendung.“

Schwedisches Recht

9

Die schwedische Verfassung garantiert vorbehaltlich der gesetzlich vorgesehenen Beschränkungen das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen.

10

Das Lag (1976:580) om medbestämmande i arbetslivet (Gesetz [1976:580] über die Mitbestimmung im Arbeitsleben) vom 10. Juni 1976 enthält die auf dem Gebiet der Vereinigungs- und Verhandlungsfreiheit, der Tarifverträge, der Vermittlung bei kollektiven Arbeitskonflikten und der Friedenspflicht geltenden Regeln sowie Bestimmungen, die das Recht zur Durchführung kollektiver Arbeitskampfmaßnahmen begrenzen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11

Fonnship ist eine norwegische Gesellschaft mit Sitz in Fonnes (Norwegen). Im für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitraum, d. h. zwischen 2001 und 2003, war sie Eigentümerin des Schiffes M/S Sava Star (im Folgenden: Sava Star).

12

Dieses Schiff ist ein Massengutfrachter, der während dieses Zeitraums hauptsächlich Fahrten zwischen EWR-Vertragsstaaten durchführte. Er war im Schiffsregister von Panama eingetragen und fuhr somit unter panamaischer Flagge. Seine Besatzung bestand aus vier Offizieren, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, und zwei Matrosen mit russischer Staatsangehörigkeit. Fonnship war der Arbeitgeber der Besatzung.

13

Nach Angaben von Fonnship wurden die Gehälter dieser Besatzungsmitglieder durch einen Tarifvertrag geregelt, der zwischen ihr und einer russischen Gewerkschaft mit dem (in englischer Übersetzung lautenden) Namen „Murmansk Area Committee of Seamen’s Union“ geschlossenen worden war. Diese Löhne, die sich auf ungefähr 550 US-Dollar (USD) pro Monat für die Matrosen beliefen, hätten denen von der International Transport Workers’ Federation (Internationale Transportarbeiter-Föderation) empfohlenen entsprochen bzw. seien sogar höher gewesen.

14

Da sie jedoch der Auffassung war, dass die Löhne der Besatzung der Sava Star nicht fair seien, forderte ST am 26. Oktober 2001, als dieses Schiff im Hafen von Holmsund (Schweden) lag, dass ein von der International Transport Workers’ Federation gebilligter Tarifvertrag (sogenanntes „Special Agreement“) von Fonnship geschlossen werden solle. Nachdem Fonnship dies abgelehnt hatte, wurden Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet, die u. a. darin bestanden, die Be- und Entladung des Schiffes zu behindern.

15

Am Montag, dem 29. Oktober 2001, wurde zwischen Fonnship und ST ein Tarifvertrag in Form eines „Special Agreement“ geschlossen (im Folgenden: Vereinbarung von 2001). Fonnship zahlte gemäß einer Bestimmung dieser Vereinbarung über die Aufnahmegebühr und die Beiträge zu einem Solidaritätsfonds 1794 USD an ST. Der Kapitän der Sava Star verfasste ein Protestschreiben, und die Besatzungsmitglieder unterzeichneten ein Dokument, indem sie angaben, die von ST durchgeführten Aktionen nicht zu billigen. Das Schiff konnte daraufhin den Hafen von Holmsund verlassen.

16

Am 29. Januar 2002 erhob Fonnship Klage gegen ST vor dem Arbetsdomstol auf Rückzahlung von 1794 USD und Schadensersatz in Höhe von ungefähr 10000 USD für den durch die oben genannten Arbeitskampfmaßnahmen entstandenen Schaden.

17

Am 8. März 2002 erhob ST Klage gegen Fonnship vor dem Arbetsdomstol auf Schadensersatz in Höhe von 10000 USD für den Verstoß gegen die Vereinbarung von 2001. ST zufolge hatte sich Fonnship, als das Schiff am 5. März 2002 im Hafen von Reykjavik (Island) lag, unter Verstoß gegen die Vereinbarung von 2001 geweigert, bestimmte Dokumente an eine von einer Gewerkschaft bevollmächtigte Peron zu übermitteln, und dieser Person verboten, mit der Besatzung in Kontakt zu treten.

18

Am 18. Februar 2003 lag die Sava Star im Hafen von Köping (Schweden). Zu diesem Zeitpunkt war die Vereinbarung von 2001 ausgelaufen. SEKO verlangte genauso, wie ST es 2001 gemacht hatte, von Fonnship die Unterzeichnung eines „Special Agreement“. Nach dem Auslösen von Arbeitskampfmaßnahmen wurde ein solcher Tarifvertrag am 19. Februar 2003 abgeschlossen (im Folgenden: Vereinbarung von 2003). Fonnship zahlte gemäß der Vereinbarung von 2003 an SEKO 1794 USD als „Service Fees“ und als Beiträge zu einem Solidaritätsfonds. Die Besatzungsmitglieder unterzeichneten ein Protestschreiben. Daraufhin konnte das Schiff den genannten Hafen verlassen.

19

Am 11. März 2003 erhob Fonnship Klage gegen SEKO vor dem Arbetsdomstol auf Rückzahlung von 1794 USD und Schadensersatz in Höhe von 6000 Euro für den durch die oben genannten Arbeitskampfmaßnahmen entstandenen Schaden.

20

Am 17. Juni 2003 erhob ST Klage gegen Fonnship vor dem Arbetsdomstol auf Schadensersatz in Höhe von ungefähr 256000 USD, da sie während des Anwendungszeitraums der Vereinbarung von 2001 nicht den darin vorgesehenen Lohn gezahlt habe. Dieser Betrag entspreche der Differenz zwischen dem Lohn, den Fonnship der Besatzung gezahlt habe, und demjenigen, der sich aus dieser Vereinbarung ergebe.

21

Im Rahmen der vier vor dem Arbetsdomstol anhängigen Verfahren macht Fonnship geltend, dass sie nicht an die Vereinbarungen von 2001 und 2003 gebunden gewesen sei und dass ST und SEKO ihr gegenüber schadensersatzpflichtig seien und nicht umgekehrt. Hierzu beruft sie sich zum einen auf die Nichtigkeit dieser beiden Vereinbarungen, indem sie sich sowohl auf die fehlende Zustimmung als auch auf das Vorliegen missbräuchlicher Klauseln stützt, und zum anderen auf die Rechtswidrigkeit der Arbeitskampfmaßnahmen, die zur Unterzeichnung der genannten Vereinbarungen geführt hätten.

22

Der Arbetsdomstol ist der Auffassung, dass die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Arbeitskampfmaßnahmen für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten entscheidend sei und dass er für die Beantwortung dieser Frage zu entscheiden habe, ob das schwedische Recht im Bereich von Arbeitskampfmaßnahmen mit den Regeln des Unionsrechts zur Dienstleistungsfreiheit vereinbar sei. Da zwischen den Parteien jedoch streitig ist, ob diese Regeln in einer Situation wie der in diesen Rechtsstreitigkeiten, in der das in Rede stehende Schiff unter panamaischer Flagge fährt, einschlägig sind, ist nach Ansicht dieses Gerichts vorab die Frage nach der Anwendbarkeit des Unionsrechts zu prüfen.

23

Unter diesen Umständen hat der Arbetsdomstol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Regelung des EWR‑Abkommens über den freien Verkehr von Dienstleistungen (Seeverkehrsdienstleistungen) – der eine entsprechende Regelung im EG-Vertrag gegenübersteht – auf ein Unternehmen mit Sitz in einem Staat der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) anwendbar, soweit es um die Tätigkeit dieses Unternehmens in Form von Transporten zu einem EG-Mitgliedstaat oder einem EFTA-Staat mit einem Schiff geht, das in einem Drittland außerhalb der EG bzw. des EWR registriert ist und unter dessen Flagge fährt?

Zur Vorlagefrage

24

Die Bestimmungen der Verordnung Nr. 4055/86 sind nach Art. 7 Buchst. a EWR-Abkommen sowie seines Anhangs XIII integraler Bestandteil der Rechtsordnung sämtlicher EWR-Vertragsstaaten. Diese Verordnung und diese Bestimmungen des EWR-Abkommens enthalten die Regeln über die Anwendbarkeit des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen EWR-Vertragsstaaten und zwischen diesen und Drittstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteile Corsica Ferries [France], C‑49/89, EU:C:1989:649, Rn. 13, Kommission/Italien, C‑295/00, EU:C:2002:100, Rn. 9, sowie Sea-Land Service und Nedlloyd Lijnen, C‑430/99 und C‑431/99, EU:C:2002:364, Rn. 30).

25

Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt, welchen Wirtschaftsteilnehmern der freie Dienstleistungsverkehr zugutekommt.

26

Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob Art. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 dahin auszulegen ist, dass sich eine Gesellschaft mit Sitz in einem EWR-Vertragsstaat, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt und mittels dessen Seeverkehrsdienstleistungen von einem EWR-Vertragsstaat aus oder in diesen erbracht werden, für die Ausübung dieser wirtschaftlichen Tätigkeit auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen kann.

27

Fonnship, die griechische Regierung und die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass diese Frage zu bejahen sei. Die EFTA‑Überwachungsbehörde schließt sich dieser Auffassung an, weist aber darauf hin, dass zu überprüfen sei, ob die Gesellschaft, die sich auf den freien Dienstleistungsverkehr berufe, im vorliegenden Fall Fonnship, tatsächlich der Erbringer der in Rede stehenden Dienstleistungen sei.

28

Nach Ansicht von ST und SEKO ist die Frage zu verneinen. Wenn ein Schiff unter der Flagge dieses Drittlands fahre, wiesen die Arbeitsbedingungen der Besatzung eines Schiffes und die für die Verbesserung dieser Bedingungen durchgeführten Arbeitskampfmaßnahmen keinen Anknüpfungspunkt mit dem Unionsrecht auf und könnten daher nicht anhand dieses Rechts geprüft werden.

29

ST und SEKO bestreiten im Übrigen, dass Fonnship als Erbringerin von Seeverkehrsdienstleistungen mit Sitz im EWR angesehen werden könne. Sie verfügten über Hinweise, wonach Fonnship den Betrieb der Sava Star im Wesentlichen an eine andere Gesellschaft übertragen habe, die, obwohl sie eine Gesellschaft norwegischen Rechts sei, von einer Gesellschaft mit Sitz in Panama kontrolliert werde.

30

Nach Ansicht der schwedischen Regierung ist Art. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 in Bezug auf Gesellschaften mit Sitz im EWR, die auf Flaggen von Drittländern zurückgriffen, um sich den im EWR üblichen Arbeitsbedingungen zu entziehen, mit Bedacht auszulegen.

31

Wenn die Besatzungsmitglieder des in Rede stehenden Schiffes Staatsangehörige von Drittländern seien, könne dieser Umstand auch die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 4055/86 auf Transporte ausschließen, die mit diesem Schiff durchgeführt würden.

32

Zunächst ist festzustellen, dass aus dem Wortlaut und der Struktur von Art. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 hervorgeht, dass dieser Artikel bei der Definition des persönlichen Anwendungsbereichs des freien Dienstleistungsverkehrs im Bereich des Seeverkehrs von EWR‑Vertragsstaaten aus oder in diese zwei Kategorien von Personen benennt, denen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, dieser freie Dienstleistungsverkehr zugutekommt, und zwar zum einen die Staatsangehörigen eines EWR‑Vertragsstaats, die im EWR ansässig sind, und zum anderen die Staatsangehörigen eines EWR‑Vertragsstaats, die in einem Drittland ansässig sind, sowie die Reedereien mit Sitz in einem Drittland, die von Staatsangehörigen eines EWR-Vertragsstaats kontrolliert werden.

33

Sodann geht aus den Erwägungsgründen 7 bis 9 und 12 der Verordnung Nr. 4055/86 sowie den vorbereitenden Arbeiten dazu, wie sie in den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen dargestellt werden, hervor, dass sich der Unionsgesetzgeber durch die Einbeziehung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem Drittland ansässig sind oder dort eine Reederei kontrollieren, in diesen persönlichen Anwendungsbereich vergewissern wollte, dass ein bedeutender Teil der von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats gehaltenen Handelsflotte unter die von dieser Verordnung eingeführte Liberalisierung des Seeverkehrs fällt, so dass die Reeder der Mitgliedstaaten u. a. den von Drittländern auferlegten Beschränkungen besser entgegentreten können.

34

Schließlich hat der Gesetzgeber ein Anknüpfungserfordernis formuliert, indem er durch den Gebrauch der Wendung „sofern deren Schiffe in diesem [EWR-Vertrags]staat nach den dort geltenden Rechtsvorschriften registriert sind“ in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4055/86 vorgesehen hat, dass die Staatsangehörigen eines EWR‑Vertragsstaats, die von einer in einem Drittland gelegenen Niederlassung aus operieren, vom freien Dienstleistungsverkehr ausgeschlossen sind, wenn ihre Schiffe nicht unter der Flagge dieses Staates fahren.

35

Das Fehlen eines ähnlichen Erfordernisses für die Staatsangehörigen eines EWR-Vertragsstaats, die von einer im EWR gelegenen Niederlassung aus operieren, in Abs. 1 dieses Artikels zeigt, dass der Gesetzgeber der Ansicht war, dass diese Kategorie von Personen von selbst eine ausreichend enge Verbindung mit dem EWR‑Recht aufweist, um in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung einbezogen zu werden, und zwar unabhängig von der Flagge ihrer Schiffe (vgl. in diesem Sinne Urteil Corsica Ferries, C‑18/93, EU:C:1994:195, Rn. 29).

36

In Anbetracht dieser Unterscheidung ist in den Fällen, in denen sich ein im EWR ansässiger Staatsangehöriger eines EWR-Vertragsstaats oder eine Gesellschaft mit Sitz im EWR im Rahmen eines Rechtsstreits über die Frage, ob Seeverkehrsdienstleistungen, die mittels eines Schiffes durchgeführt werden, das unter der Flagge eines Drittlands fährt, unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen, auf Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 beruft, zu prüfen, ob dieser Staatsangehörige oder diese Gesellschaft als Erbringer dieser Dienstleistungen angesehen werden können.

37

Es kann nämlich keine Situationen geben, in denen einer Reederei mit Sitz in einem Drittland, die Seeverkehrsdienstleistungen von EWR‑Vertragsstaaten aus oder in diese mittels Schiffen erbringt, die unter der Flagge eines Drittlands fahren, obwohl sie das in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4055/86 genannte Anknüpfungserfordernis nicht erfüllt, der freie Dienstleistungsverkehr zugutekommt, indem sie sich darauf durch eine Gesellschaft mit Sitz im EWR, die sie kontrolliert, unter dem Vorwand beruft, dass diese Gesellschaft der Erbringer der in Rede stehenden Dienstleistungen sei, obwohl es in Wirklichkeit diese Reederei ist, die diese erbringt.

38

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 44 bis 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss eine Gesellschaft, damit sie als Erbringerin von Seeverkehrsdienstleistungen angesehen werden kann, das Schiff, mit dem dieser Transport durchgeführt wird, betreiben.

39

Im vorliegenden Fall hat Fonnship in Erwiderung auf die oben in Rn. 29 genannten Behauptungen von ST und SEKO vorgetragen, dass sie selbst die Sava Star in dem relevanten Zeitraum betrieben habe. Es fällt ausschließlich in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu beurteilen.

40

Angenommen, aus dieser Beurteilung geht hervor, dass Fonnship als Erbringerin der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Seeverkehrsdienstleistungen anzusehen ist, und sofern unstreitig ist, dass die Empfänger dieser Dienstleistungen im vorliegenden Fall in einem anderen EWR‑Vertragsstaat als dem Königreich Norwegen ansässig waren, wäre das vorlegende Gericht veranlasst, zu dem Ergebnis zu kommen, dass diese Gesellschaft für die Entscheidung dieser Rechtsstreitigkeiten nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 in deren persönlichen Anwendungsbereich fällt.

41

In diesem Fall müsste jede Beschränkung, die geeignet gewesen ist, ohne objektive Rechtfertigung die Erbringung dieser Dienstleistungen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt werden. Wenn sie nämlich anwendbar ist, setzt die Verordnung Nr. 4055/86 im Wesentlichen die Regeln des Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr und die dazu ergangene Rechtsprechung um (Urteile Kommission/Frankreich, C‑381/93, EU:C:1994:370, Rn. 13 und 16, Kommission/Italien, EU:C:2002:100, Rn. 9 und 10, Sea-Land Service und Nedlloyd Lijnen, EU:C:2002:364, Rn. 31 und 32, Geha Naftiliaki u. a., C‑435/00, EU:C:2002:661, Rn. 20 und 21, sowie Kommission/Spanien, C‑18/09, EU:C:2010:58, Rn. 12). Diese Rechtsprechung bezieht diejenige mit ein, die durch das Urteil Laval un Partneri (C‑341/05, EU:C:2007:809) zur Vereinbarkeit von Arbeitskampfmaßnahmen mit dem freien Dienstleistungsverkehr begründet wurde.

42

Die Anwendung der Verordnung Nr. 4055/86 wird in keiner Weise durch den Umstand berührt, dass das Schiff, das die in Rede stehenden Transporte zur See durchführt und auf dem die Arbeitnehmer beschäftigt sind, zu deren Gunsten die genannten Maßnahmen durchgeführt werden, unter der Flagge eines Drittstaats fährt, noch dadurch, dass die Besatzungsmitglieder des Schiffes wie im vorliegenden Fall Staatsangehörige eines Drittlands sind.

43

Für die Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 reicht es nämlich aus, dass der Erbringer der Seeverkehrsdienstleistung Staatsangehöriger eines EWR‑Vertragsstaats ist, der in einem anderen EWR‑Vertragsstaat als dem des Empfängers dieser Dienstleistung ansässig ist.

44

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 der Verordnung Nr. 4055/86 dahin auszulegen ist, dass sich eine Gesellschaft mit Sitz in einem EWR-Vertragsstaat, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt und mittels dessen Seeverkehrsdienstleistungen von einem Vertragsstaat dieses Abkommens aus oder in diesen erbracht werden, auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen kann, vorausgesetzt, dass diese Gesellschaft wegen ihres Betriebs dieses Schiffes als Erbringerin dieser Dienstleistungen angesehen werden kann und dass deren Empfänger in anderen Vertragsstaaten dieses Abkommens als dem ansässig sind, in dem diese Gesellschaft ihren Sitz hat.

Kosten

45

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern ist dahin auszulegen, dass sich eine Gesellschaft mit Sitz in einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt und mittels dessen Seeverkehrsdienstleistungen von einem Vertragsstaat dieses Abkommens aus oder in diesen erbracht werden, auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen kann, vorausgesetzt, dass sie wegen ihres Betriebs dieses Schiffes als Erbringerin dieser Dienstleistungen angesehen werden kann und dass deren Empfänger in anderen Vertragsstaaten dieses Abkommens als dem ansässig sind, in dem diese Gesellschaft ihren Sitz hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Schwedisch.