SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 4. Juni 2015 ( 1 )

Rechtssache C‑650/13

Thierry Delvigne

gegen

Commune de Lesparre-Médoc

und

Préfet de la Gironde

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal d’instance de Bordeaux [Frankreich])

„Art. 10 EUV und 14 Abs. 3 EUV — Art. 20 Abs. 2 Buchst. b AEUV — Art. 223 Abs. 1 AEUV — Art. 39 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Akt zur Einführung der Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments — Geltungsbereich des Unionsrechts — Repräsentative Demokratie — Unmittelbare Repräsentation — Teilnahme am demokratischen Leben der Union — Europäisches Parlament — Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament — Grundrechtseinschränkung — Nationales Recht, das die lebenslängliche Aberkennung der bürgerlichen und politischen Rechte vorsieht — Milderes Strafgesetz, das auf Personen, die vor seinem Inkrafttreten letztinstanzlich verurteilt wurden, nicht anwendbar ist — Gleichbehandlung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten — Unzulässigkeit“

1. 

Dem Gerichtshof werden im Kontext eines gerichtlichen Verfahrens, das die Streichung einer Privatperson aus dem Wählerverzeichnis zum Gegenstand hat, der als Nebenfolge einer Verurteilung wegen Mordes ihr aktives und passives Wahlrecht auf unbestimmte Zeit aberkannt wurde, zwei Fragen vorgelegt, die die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften, die diese Sachlage ermöglichen, mit dem Unionsrecht betreffen, wobei speziell zwei Artikel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) angeführt werden, die wiederum zwei Grundrechte betreffen: das Recht auf rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes (Art. 49 Abs. 1 Satz 3) und das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 39 Abs. 2) ( 2 ).

2. 

Wie häufig in Fällen, in denen eine Anwendung der Bestimmungen der Charta auf einen Rechtsakt einer nationalen Behörde in Betracht kommt (Art. 51 Abs. 1), ist auch hier – im Wesentlichen gestützt auf die Rechtsausführungen im Urteil Åkerberg Fransson ( 3 ) – die Vorfrage zu prüfen, ob es sich um nationale Rechtsvorschriften handelt, die bei der Durchführung des Rechts der Union erlassen wurden.

3. 

Ich werde eine differenzierte Antwort auf diese Vorfrage vorschlagen, die es mir ermöglichen wird, mich sodann ausschließlich mit der im Rahmen der zweiten Frage aufgeworfenen Problematik zu beschäftigen, nämlich der Beachtung des Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament durch die nationalen Rechtsvorschriften, diesmal mit erheblicher Unterstützung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Internationales Recht

4.

Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“

B – Unionsrecht

1. Vertrag über die Europäische Union

5.

Art. 10 EUV bestimmt:

„(1)   Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie.

(2)   Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.

(3)   Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen.

…“

6.

Art. 14 Abs. 3 EUV lautet: „Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt.“

2. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

7.

Art. 20 AEUV hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

(2)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

b)

in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;

Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.“

8.

Nach Art. 22 Abs. 2 AEUV besitzt „[u]nbeschadet des Artikels 223 Absatz 1 und der Bestimmungen zu dessen Durchführung … jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist.“

3. Charta der Grundrechte der Europäischen Union

9.

Art. 39 der Charta lautet:

„(1)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.

(2)   Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“

10.

Art. 49 Abs. 1 der Charta bestimmt: „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“

11.

Art. 51 der Charta hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.

(2)   Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“

12.

In Art. 52 der Charta heißt es:

„(1)   Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

(2)   Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, erfolgt im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen.

(3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

…“

4. Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments ( 4 )

13.

Art. 1 des Aktes von 1976 lautet:

„(1)   In jedem Mitgliedstaat werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt.

(3)   Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“

14.

Nach Art. 8 des Aktes von 1976 bestimmt sich „[v]orbehaltlich der Vorschriften dieses Akts … das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften“.

C – Französisches Recht

15.

Nach Art. 28 des durch das Gesetz Nr. 1810-02-12 vom 12. Februar 1810 eingeführten Code pénal (Strafgesetzbuch, im Folgenden: altes Strafgesetzbuch) führt die Verurteilung wegen einer Straftat zum Verlust der bürgerlichen Rechte; darunter ist nach Art. 34 des alten Strafgesetzbuchs der Entzug des Stimmrechts, des Wahlrechts, der Wählbarkeit und allgemein sämtlicher bürgerlicher und politischer Rechte zu verstehen.

16.

Das alte Strafgesetzbuch wurde mit Wirkung vom 1. März 1994 durch das Gesetz Nr. 92‑1336 vom 16. Dezember 1992 über das Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs und die Änderung bestimmter strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Vorschriften aufgehoben.

17.

Art. 370 des Gesetzes vom 16. Dezember 1992 (im Folgenden: Gesetz von 1992) sieht in seiner durch Art. 13 des Gesetzes Nr. 94‑89 vom 1. Februar 1994 geänderten Fassung vor, dass unbeschadet der Bestimmungen von Art. 702‑1 des Strafverfahrensgesetzbuchs die aus einer letztinstanzlichen strafrechtlichen Verurteilung vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes resultierenden Strafen der Aberkennung der bürgerlichen, zivilen und familiären Rechte sowie das Verbot, Geschworener zu sein, bestehen bleiben.

18.

Art. 702‑1 des Strafverfahrensgesetzbuchs bestimmt in seiner durch das Gesetz Nr. 2009‑1436 vom 24. November 2009 – Strafvollzugsgesetz – geänderten Fassung, dass jeder, dessen Haupt- oder Nebenstrafe die Form eines Entzugs, eines Verbots oder eines Ausschlusses hat, die Gerichte um ihre vollständige oder teilweise Aufhebung ersuchen kann.

19.

Nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 77‑729 vom 7. Juli 1977 betreffend die Wahlen von Vertretern im Europäischen Parlament richten diese sich nach dem Wahlgesetzbuch.

20.

In Kapitel 1 von Titel I des Ersten Buchs des Wahlgesetzbuchs, das die Voraussetzungen dafür regelt, Wähler zu sein, bestimmt Art. L 2, dass Wähler ist, wer Franzose im Alter von über 18 Jahren und im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte ist, sofern bei ihm kein gesetzlicher Ausschlussgrund vorliegt.

21.

Gemäß Art. L 6 des Wahlgesetzbuchs kann eine Person, der durch die Gerichte in Anwendung der Gesetze das Wahlrecht aberkannt worden ist, während des im Urteil festgelegten Zeitraums nicht im Wählerverzeichnis eingetragen werden.

II – Sachverhalt

22.

Das Vorabentscheidungsersuchen geht auf ein gerichtliches Verfahren zurück, das Herr Delvigne gegen die Verwaltungsentscheidung angestrengt hat, mit der sein Ausschluss aus dem Wählerverzeichnis infolge der Aberkennung des Wahlrechts als Nebenstrafe seiner endgültigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen Mordes angeordnet wurde.

23.

Zum Zeitpunkt der endgültigen Verurteilung von Herrn Delvigne am 30. März 1988 ordnete das alte französische Strafgesetzbuch die lebenslängliche Aberkennung des Wahlrechts für strafrechtlich Verurteilte an. Durch das Gesetz von 1992 wurde der automatische und unbefristete Charakter dieser Nebenstrafe abgeschafft, jedoch nur für nach dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs verhängte Strafen.

24.

Herr Delvigne focht seinen Ausschluss aus dem Wählerverzeichnis beim Tribunal d’instance de Bordeaux an und regte ein Vorabentscheidungsersuchen an, da die nationale Regelung zu einer Ungleichbehandlung führe, die nicht mit der Charta vereinbar sei. Das Tribunal d’instance hat diesem Begehren stattgegeben und das vorliegende Ersuchen gestellt.

III – Vorlagefragen

25.

Die am 9. Dezember 2013 vom Tribunal d’instance de Bordeaux vorgelegten Fragen haben folgenden Wortlaut:

Ist Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einem durch ein nationales Gesetz aufrechterhaltenen – und im Übrigen unbestimmten und unverhältnismäßigen – Verbot entgegensteht, eine mildere Strafe zugunsten von Personen anzuwenden, die vor Inkrafttreten des milderen Strafgesetzes, des Gesetzes Nr. 94‑89 vom 1. Februar 1994, verurteilt wurden?

Ist der auf die Wahlen zum Europäischen Parlament anwendbare Art. 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, keine allgemeine, unbestimmte und automatische Versagung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte vorzusehen, damit es nicht zu einer Ungleichbehandlung der Angehörigen der Mitgliedstaaten kommt?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

26.

Herr Delvigne, die Commune de Lesparre-Médoc, die deutsche, die britische, die spanische und die französische Regierung sowie das Europäische Parlament und die Kommission haben sich beteiligt und schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie alle haben an der mündlichen Verhandlung am 20. Januar 2015 teilgenommen. Dort wurden die Parteien gemäß Art. 61 Abs. 1 und 2 der Verfahrensordnung zur Beantwortung verschiedener Fragen aufgefordert: 1. Stellt Art. 370 des Gesetzes von 1992 einen Fall der Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar? 2. Welches sind die „dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta, denen die Einschränkungen des Wahlrechts infolge einer strafrechtlichen Verurteilung entsprechen? 3. Speziell an die französische Regierung wurde die Frage gerichtet, welche Personen in den Anwendungsbereich von Art. 370 des Gesetzes von 1992 fallen, und unter welchen Voraussetzungen sie eine vollständige oder teilweise Aufhebung der Aberkennung des Wahlrechts erreichen können. 4. Speziell an Herrn Delvigne wurde die Frage gerichtet, ob er die vollständige oder teilweise Aufhebung der Aberkennung des Wahlrechts beantragt hat und, wenn ja, mit welchem Ergebnis.

V – Vorbringen

A – Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

27.

Die französische Regierung trägt zunächst vor, der Vorlagebeschluss sei offensichtlich unzulässig, da darin die Gründe, aus denen die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich sein sollten, nicht angegeben würden und er keine ausreichenden Angaben zum rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang, in dem sich die Fragen stellten, enthalte.

28.

Die spanische und die französische Regierung meinen, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der gestellten Fragen nicht zuständig. Die französische Regierung führt aus, die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften lägen außerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts, da die in Rede stehende Bestimmung den Charakter einer strafrechtlichen Übergangsvorschrift habe, mit der Ziele verfolgt würden, die nicht unter das Unionsrecht fielen. Die spanische Regierung weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zuständig seien.

29.

Die deutsche Regierung ist der Auffassung, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der ersten Frage nicht zuständig, da das vorlegende Gericht keine Angaben mache, die den Schluss zuließen, dass Gegenstand des Ausgangsverfahrens die Auslegung oder Anwendung einer anderen Unionsvorschrift als der in der Charta enthaltenen sei.

30.

Sowohl Herr Delvigne als auch die Kommission und, nur in Bezug auf die zweite Frage, das Europäische Parlament bejahen die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Die Kommission ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführten, wenn sie Bestimmungen mit allgemeiner oder individueller Geltung zur Festlegung der Inhaber des aktiven und passiven Wahlrechts für das Europäische Parlament erließen. Das Unionsrecht und insbesondere Art. 8 des Aktes von 1976 verpflichte sie, hierzu von ihrer Zuständigkeit Gebrauch zu machen, und in diesem Sinne seien die in der Charta anerkannten Rechte für sie bindend.

31.

Das Europäische Parlament ist der Ansicht, die Charta sei anwendbar, so dass die zweite Frage zu beantworten sei. In Anbetracht von Art. 14 Abs. 3 EUV, Art. 223 Abs. 1 AEUV und den Art. 1 Abs. 3 und 8 des Aktes von 1976 hätte Frankreich das Unionsrecht im Sinne der Charta anwenden müssen, als es nationale Vorschriften über das Wahlrecht für das Europäische Parlament erlassen habe. Bei diesen Vorschriften handele es sich um andere Bestimmungen des Unionsrechts als die der Charta, und auf ihrer Grundlage treffe Frankreich eine konkrete, aus dem Unionsrecht abgeleitete Verpflichtung, die darin bestehe, die allgemeine Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments zu gewährleisten. Überdies heiße es zwar in Art. 8 des Aktes von 1976, dass sich das Wahlverfahren nach den innerstaatlichen Vorschriften richte, doch fielen diese unter das Unionsrecht. Der Umstand, dass das französische Recht das Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament durch Verweisung auf die Bestimmungen des Wahlgesetzbuchs für die übrigen in Frankreich durchgeführten Wahlen regele, bedeute nicht, dass die Durchführung der Europawahlen eine nicht der Union zugewiesene Zuständigkeit darstelle.

B – Zur ersten Frage

32.

Herr Delvigne meint, Art. 49 der Charta stehe einer Regelung wie der in Art. 370 des Gesetzes von 1992 entgegen, die eine bestimmte Rückwirkung eines milderen Strafgesetzes verhindere und dadurch eine Situation der Ungleichheit zwischen den vor und nach 1994 verurteilten Personen herbeiführe.

33.

Die Commune de Lesparre-Médoc, die britische und die französische Regierung – hilfsweise – sowie die Kommission führen aus, Art. 49 Abs. 1 der Charta stehe der Anwendung der Rechtsvorschriften, um die es im Ausgangsverfahren gehe, nicht entgegen, da die weniger strenge Regelung zum Zeitpunkt der endgültigen Verurteilung von Herrn Delvigne nicht in Kraft gewesen sei. Dies ergebe sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 der Charta als auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

C – Zur zweiten Frage

34.

Herr Delvigne meint, dass auch Art. 39 der Charta der Bestimmung von Art. 370 des Gesetzes von 1992 entgegenstehe, da sie zu einer Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit führe, und macht insoweit eine Verletzung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK geltend.

35.

Die Commune de Lesparre-Médoc ist der Ansicht, eine Ungleichbehandlung liege nicht vor, da die im Wahlgesetz vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von 1992 vorgesehene Strafe auf jeden Unionsbürger, der in Frankreich habe wählen wollen, unter denselben Bedingungen anwendbar gewesen sei.

36.

Die französische Regierung schlägt hilfsweise vor, zu antworten, dass Art. 39 der Charta es den Mitgliedstaaten nicht verbiete, bei einer Verurteilung wegen einer schweren Straftat eine Aberkennung des Wahlrechts auf unbestimmte Zeit vorzusehen, sofern die Möglichkeit bestehe, dies rückgängig zu machen. Zunächst führt die französische Regierung aus, dass eine allgemeine und unbefristete Aberkennung im nationalen Recht nicht vorgesehen sei. Zum einen betreffe die Aberkennung Personen, die wie Herr Delvigne zu einer Freiheitsstrafe zwischen fünf Jahren und lebenslänglich verurteilt worden seien; es handele sich nicht um eine automatische und von der Dauer oder der Schwere der Straftat unabhängige Strafe. Zum anderen könne der von der Aberkennung Betroffene ihre Aufhebung beantragen, was Herr Delvigne offenbar nicht getan habe.

37.

Sodann trägt die französische Regierung vor, Art. 52 Abs. 1 der Charta ermächtige die Mitgliedstaaten, unter Voraussetzungen, die bei der in Rede stehenden nationalen Regelung erfüllt seien, die Ausübung der durch die Charta verliehenen Rechte und Freiheiten einzuschränken.

38.

Die deutsche Regierung schlägt vor, zu antworten, dass Art. 39 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sei, dass der Grundsatz der allgemeinen Wahl den Verlust des Wahlrechts aus zwingenden Gründen wie dem zulasse, zu gewährleisten, dass mit der Vertretung der Wählerschaft keine rechtskräftig verurteilten Personen betraut würden. Ein derartiger Grund könne die Aberkennung des Wahlrechts im Fall einer endgültigen strafrechtlichen Verurteilung unter der Voraussetzung rechtfertigen, dass die Regelung hinreichend nach der Schwere der Strafe und der Zeitdauer der Aberkennung differenziere, wobei es den nationalen Gerichten obliege, zu prüfen, ob die angewendeten Vorschriften diesen Anforderungen entsprächen.

39.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs ist der Ansicht, die Mitgliedstaaten seien durch Art. 39 der Charta nicht daran gehindert, eine Maßnahme zu treffen, die wie die im Ausgangsverfahren angewandte nicht zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten unterscheide. Es sei klar, dass das Unionsrecht kein Wahlrecht anerkenne, das gegenüber dieser Maßnahme auf einer anderen Grundlage als einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit angeführt werden könne. Der Gerichtshof habe erstens entschieden, dass die Mitgliedstaaten dafür zuständig seien, das Wahlrecht für die Europawahlen zu regeln, und Art. 39 könne nicht anders ausgelegt werden, wolle man nicht Gefahr laufen, die Zuständigkeiten der Union unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EUV zu erweitern. Zweitens könne sich Herr Delvigne nicht auf Art. 39 Abs. 1 der Charta berufen, da er französischer Staatsangehöriger sei und nicht als europäischer Bürger die Freizügigkeit in Anspruch genommen habe. In Art. 39 spiegelten sich die durch die Art. 20 AEUV und 22 AEUV verliehenen Rechte wider, und er werde in den Grenzen und unter den Voraussetzungen angewandt, die diese Bestimmungen vorsähen. So sei das durch Art. 39 der Charta anerkannte Recht Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, vorbehalten. Der Umstand, dass Unionsbürger in Ausnahmefällen ihre Unionsbürgerschaft gegenüber dem Mitgliedstaat geltend machen könnten, dessen Staatsangehörigkeit sie besäßen, wirke sich auf das Diskriminierungsverbot im Bereich des Wahlrechts nicht aus.

40.

Das Europäische Parlament führt aus, Art. 39 der Charta enthalte subjektive Rechte, die zugunsten des Einzelnen begründet worden seien. Das darin anerkannte Wahlrecht werde nicht nur den Unionsbürgern garantiert, die in einem Mitgliedstaat wählten, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, sondern auch den Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem die Wahl stattfinde.

41.

Hierzu führt das Europäische Parlament erstens aus, Art. 39 umfasse, wie sich aus seinem Wortlaut und den Erläuterungen zur Charta ergebe, zwei verschiedene Grundrechte, nämlich ein Recht der Unionsbürger, deren Wohnsitz sich in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besäßen, befinde, dort bei den Europawahlen zu wählen (Abs. 1), und darüber hinaus das Recht, die Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl zu wählen (Abs. 2).

42.

Zweitens werde die Tragweite von Art. 39 Abs. 2 nicht durch den Ausdruck „unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“ eingeschränkt, denn die Unionsbürgerschaft, an die dieses Recht anknüpfe, impliziere einen Status, der seine Rechtswirkungen auch bei Fehlen eines grenzüberschreitenden Elements entfalte.

43.

Drittens sollte Art. 39 Abs. 2 der Charta, damit ihm praktische Wirksamkeit zukomme, so verstanden werden, dass er ein subjektives Recht enthalte, das Art. 14 Abs. 3 EUV ergänze. In diesem Sinne implizierten die allgemeinen Wahlen, die der zentrale Begriff bei der Definition des Wesens dieses Rechts seien, ein grundsätzlich allgemeines persönliches Recht, das einen unbedingten Schutz nicht nur der Unionsbürger voraussetze, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsstaat wählten, sondern auch der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem die Wahl stattfinde.

44.

Jede Einschränkung des Wahlrechts bei den Europawahlen stelle einen Eingriff in das durch die Charta garantierte allgemeine Wahlrecht der Unionsbürger dar, und nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sowie der Rechtsprechung dürften die Mitgliedstaaten ein Recht nur unter bestimmten Voraussetzungen einschränken. Im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Einschränkung unverhältnismäßig, wenn sie kumulativ, allgemein, automatisch und ohne Differenzierung anhand der Schwere des Verstoßes erfolge. Sie könne hingegen als verhältnismäßig angesehen werden, wenn sie auf bestimmte hinreichend differenzierte Verstöße angewendet werde und die Möglichkeit ihrer Überprüfung bestehe, wobei diese Verhältnismäßigkeitsprüfung vom nationalen Gericht im Licht des von dieser Möglichkeit gemachten Gebrauchs vorzunehmen sei.

45.

Schließlich hebt die Kommission zunächst hervor, dass entgegen der vom vorlegenden Gericht offenbar vertretenen Auffassung die Bestimmungen, auf die die Streichung von Herrn Delvigne aus dem Wählerverzeichnis gestützt werde, nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung von Staatsangehörigen verschiedener Mitgliedstaaten, sondern von verschiedenen Wählerkategorien führten. Dieser Unterschied müsse anhand des Erfordernisses der allgemeinen Wahlen zum Europäischen Parlament gewürdigt werden.

46.

Aufgrund dessen spricht sich die Kommission für die Beantwortung des Ersuchens in dem auch vom Europäischen Parlament befürworteten Sinne aus.

VI – Würdigung

47.

Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens wurden aus zwei ganz verschiedenen Perspektiven Einwände erhoben. Einerseits ist der Vorlagebeschluss, wie die Parteien mit unterschiedlichem Nachdruck hervorheben, derart lapidar formuliert, dass es nicht leicht fällt, die Erfüllung der in der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Darstellung des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens, in den sich die dem Gerichtshof gestellten Fragen einfügen, und an die Untermauerung der Gründe, aus denen seine Antwort für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich ist, zu bejahen.

48.

Andererseits ist, was mir wesentlich relevanter erscheint, aus der Perspektive der Zulässigkeit auch ein Zuständigkeitsproblem aufgeworfen worden. Erörtert wird nämlich, ob die Fragen des vorlegenden Gerichts, die die Beachtung verschiedener in der Charta enthaltener Grundrechte durch einen Mitgliedstaat betreffen, vom Gerichtshof beantwortet werden können. Dies wird insofern erörtert, als es sich – worauf einige Parteien hingewiesen haben – nicht um bei der Durchführung des Rechts der Union ergangene Rechtsakte handelt, mit den logischen Folgen, die sich daraus für die Zuständigkeit des Gerichtshofs ergeben. Auf diese beiden Fragen ist vorab gesondert einzugehen.

A – Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

49.

Wie soeben ausgeführt wurde, ist die französische Regierung der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen, so wie es formuliert worden sei, offensichtlich unzulässig sei. Angesichts der unzureichenden Darstellung des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens, in den sich die Fragen des vorlegenden Gerichts einfügten, sei es nicht möglich, die Hintergründe des Ausgangsrechtsstreits genau nachzuvollziehen, so dass weder der Gerichtshof in der Lage sei, eine für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, noch die Mitgliedstaaten und die übrigen interessierten Parteien die Möglichkeit hätten, im Einklang mit Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs schriftliche Erklärungen einzureichen.

50.

Mit Ausnahme der Parteien des Ausgangsverfahrens stimmen alle Verfahrensbeteiligten der Kritik der französischen Regierung mehr oder weniger zu, wenn sie auch nicht so weit gehen, dass sie beantragen, das Ersuchen aus diesem Grund für unzulässig zu erklären.

51.

Zu diesen Einwänden ist zunächst zu sagen, dass dem Gerichtshof nur selten ein derart lapidar begründetes und gleichzeitig im Hinblick auf das speziell aufgeworfene Problem der Auslegung des Unionsrechts so anschauliches Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt worden ist.

52.

Das vorlegende Gericht hat sich nämlich praktisch darauf beschränkt, dem Gerichtshof den Wortlaut zu übermitteln, mit dem Herr Delvigne im Ausgangsverfahren seine Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der auf den Fall anwendbaren nationalen Regelung mit den Art. 39 und 49 der Charta dargelegt hat, all dies bemerkenswert knapp und fast ohne Begründung. Geht man nur von diesem Aspekt aus, lässt sich die Stichhaltigkeit einiger der Vorwürfe gegen den Vorlagebeschluss nicht leugnen.

53.

Zugleich sind die beiden Fragen, die dem Gerichtshof vorgelegt werden, trotz ihrer lapidaren Wiedergabe letztlich so einfach und aus sich selbst heraus so anschaulich, dass es keiner großen Anstrengung des Vorstellungsvermögens bedarf, um die hier in Rede stehenden Grundrechtsfragen hinreichend zu „rekonstruieren“, damit dem vorlegenden Gericht zumindest eine Antwort gegeben werden kann. Die Ausführungen der Regierung des Vereinigten Königreichs in Nr. 2 ihrer schriftlichen Erklärungen zeigen, dass es tatsächlich nicht schwerfällt, die vom Tribunal d’instance aufgeworfene inhaltliche Problematik richtig zu erfassen.

54.

Andererseits scheint im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren aufgeworfene inhaltliche Problematik, bei der Grundrechte betroffen sind, aus der Sicht und mit den prozessualen Instrumenten des nationalen Rechts bereits geklärt worden zu sein. Nunmehr werden zwei Bestimmungen der Charta den Maßnahmen der Behörden des betreffenden Mitgliedstaats entgegengehalten, da davon ausgegangen wird, dass sie implizit und unter Bezugnahme auf die Wahlen zum Europäischen Parlament in Anwendung des Unionsrechts erlassen worden sind. Unter diesen Umständen, und ohne damit die Mängel des Vorlagebeschlusses entschuldigen zu wollen, bin ich der Ansicht, dass mit besonderer Sorgfalt zu prüfen ist, ob die genannten Mängel den Gerichtshof tatsächlich daran hindern, die Vorlagefragen zu beantworten. Denn es darf nicht vergessen werden, dass nach ständiger Rechtsprechung die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts nur möglich ist, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 5 ).

55.

In Anbetracht dessen bin ich der Auffassung, dass die Angaben und Erwägungen des vorlegenden Gerichts ausreichen, um das bei der Anwendung der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften und konkreter von Art. 370 des Gesetzes von 1992 bestehende Problem der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht herausarbeiten zu können.

56.

Zur ersten Frage hat das Tribunal d’instance ausgeführt, dass mit diesem Artikel „die lebenslängliche Aberkennung der bürgerlichen Rechte aufgrund einer letztinstanzlich vor dem 1. März 1994 ausgesprochenen strafrechtlichen Verurteilung aufrechterhalten wurde“, und sodann festgestellt, dass Herr Delvigne – im Rahmen einer Beurteilung, die sich das Gericht zu eigen macht, wenn es„[seinem] Antrag … stattgibt“, ein Ersuchen um Vorabentscheidung zu stellen ( 6 ) – „die Auffassung [vertritt], dass dieser Artikel gegen mehrere Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 3 [des Ersten Zusatzprotokolls zur] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten verstoße“.

57.

Es handelt sich dabei nicht um eine Feststellung, die jeder Begründung entbehrt, denn das vorlegende Gericht stellt klar, dass es „hauptsächlich [um] die Ungleichbehandlung [geht], die daraus gegenüber Personen entstehe, die nach dem 1. März 1994 verurteilt worden seien und zu deren Gunsten ein milderes Gesetz zur Anwendung komme, da er selbst letztinstanzlich am 30. März 1988 verurteilt worden sei, und [um] den sich daraus ergebenden Widerspruch zwischen der französischen und der Gemeinschaftsnorm“.

58.

Die „mehrere[n] Bestimmungen der Charta“, auf die sich Herr Delvigne allgemein berufen hat, hat das Tribunal d’instance de Bordeaux im Rahmen der Formulierung der ersten Frage, die es dem Gerichtshof vorlegt, auf Art. 49 beschränkt, indem es fragt, ob diese konkrete Vorschrift „einem durch ein nationales Gesetz aufrechterhaltenen – und im Übrigen unbestimmten und unverhältnismäßigen – Verbot entgegensteht, eine mildere Strafe zugunsten von Personen anzuwenden, die vor Inkrafttreten des milderen Strafgesetzes, des Gesetzes Nr. 94‑89 vom 1. Februar 1994, verurteilt wurden“.

59.

Nicht sehr viel anschaulicher, sondern eher das Gegenteil, ist der Beschluss in Bezug auf die zweite Frage. Die in ihm enthaltenen Erwägungen sind deshalb aber nicht völlig ungeeignet, um dem rechtlichen Problem Ausdruck zu verleihen, auf das im Ausgangsverfahren eine Antwort gegeben werden muss. So stellt das Gericht, kurz bevor es seine beiden Fragen formuliert, fest, dass „dem Gerichtshof der Europäischen Union die beiden … Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen [sind], von denen sich die eine auf ein zeitliches Kriterium bezieht und die andere mit einem Staatsangehörigkeitskriterium verknüpft ist“. In der Tat taucht das „Staatsangehörigkeitskriterium“ nur im Wortlaut der zweiten Frage auf, mit der gefragt wird, ob „der auf die Wahlen zum Europäischen Parlament anwendbare Art. 39 der Charta … dahin auszulegen [ist], dass er die Mitgliedstaaten … verpflichtet, keine allgemeine, unbestimmte und automatische Versagung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte vorzusehen, damit es nicht zu einer Ungleichbehandlung der Angehörigen der Mitgliedstaaten kommt“.

60.

Der Vorlagebeschluss ermöglicht es daher, die beiden relevanten Rechtsprobleme hinreichend herauszuarbeiten, zu denen der Gerichtshof um Stellungnahme ersucht wird, damit das Tribunal d’instance feststellen kann, ob die im Ausgangsverfahren anwendbare nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Zum einen geht es darum, ob unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles die rückwirkende Anwendung eines milderen Strafgesetzes gemäß Art. 49 der Charta ausgeschlossen werden kann. Zum anderen geht es darum, ob im Einklang mit Art. 39 der Charta die endgültige Aberkennung des Wahlrechts als Nebenstrafe möglich ist.

61.

Infolgedessen bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof in der Lage ist, das vom vorlegenden Gericht in Bezug auf die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu lösende Problem in hinreichendem Maß zu erfassen, und ihm insoweit die Entscheidung dieses Rechtsstreits ermöglichen kann, indem er ihm eine sachdienliche Auslegung des Unionsrechts liefert.

62.

Meines Erachtens erfüllt das Vorabentscheidungsersuchen daher unter dem Blickwinkel der gerügten formalen Unzulänglichkeit des Vorlagebeschlusses die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die gegen seine Zulässigkeit erhobenen Einwände zurückzuweisen.

B – Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs: Tragweite der Charta unter den konkreten Umständen

63.

Die Parteien haben sich auch in unterschiedlicher und vielfältiger Weise zu der Frage geäußert, ob die nationalen Behörden „bei der Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta gehandelt haben, mit den daraus resultierenden Folgen für die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts. In einigen Fällen, wie dem der deutschen Regierung, wurde bei der Beantwortung dieser Frage zwischen den geltend gemachten Grundrechten, dem Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 39 der Charta) und dem Recht auf Anwendung des milderen späteren Strafgesetzes (Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta), unterschieden. Ich halte aus den noch darzulegenden Gründen diese differenzierte Prüfung unter den konkreten Umständen für geboten. Zuvor ist aber kurz auf die Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung durch den Gerichtshof einzugehen.

1. Zur Tragweite der Klausel, nach der die Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt (Art. 51 Abs. 1 der Charta) – Fragestellung

64.

Der soeben wiedergegebene Wortlaut hat von Anfang an Auslegungsprobleme aufgeworfen und zu erheblichen Diskussionen in der Lehre ( 7 ) geführt, die zum Teil durch ein gewisses Spannungsverhältnis verschärft wurden, das man zwischen der früheren Rechtsprechung und dem Wortlaut jener Bestimmung zu erkennen glaubte ( 8 ).

65.

Im Urteil in der Rechtssache Åkerberg Fransson ( 9 ) wurde die frühere ständige Rechtsprechung bestätigt und ausgeführt, dass „im Wesentlichen … die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert.“ ( 10 )

66.

In Rn. 21 dieses Urteils hat der Gerichtshof den Grundsatz aufgestellt, dass „die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, [so dass] keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“

67.

Schließlich werden in Rn. 29 des Urteils ebenfalls grundsätzliche Erwägungen zu den nach nationalem Recht zu entscheidenden Sachverhalten angestellt, die nicht „vollständig durch das Unionsrecht bestimmt [werden]“. In einem solchen Fall steht es den nationalen Behörden frei, „nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“ ( 11 ).

68.

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in diesem Punkt auf das Urteil Melloni verweist, in dessen Rn. 60 er unter Bezugnahme auf Art. 53 der Charta und damit auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, höhere Schutzstandards einzuführen, ausgeführt hat, dass „Art. 53 der Charta [bestätigt], dass es den nationalen Behörden und Gerichten, wenn ein Unionsrechtsakt nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich macht, weiterhin freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“ ( 12 ).

69.

Der „Geltungsbereich des Unionsrechts“ wird daher so definiert, dass er „alle unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ umfasst. Gleichzeitig darf die Anwendung der Charta nicht zu einer Erweiterung der der Union durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen, denn wie im Urteil Åkerberg Fransson ( 13 ) ausgeführt wird, werden gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV „durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert ... Ebenso dehnt die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 2 den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“ ( 14 )

70.

Hiervon ausgehend ist sodann zu klären, ob es sich im vorliegenden Fall um eine „unionsrechtlich geregelte Fallgestaltung“ handelt.

2. Zur Notwendigkeit einer gesonderten Prüfung dieser Frage

71.

Wie ich soeben ausgeführt habe, bin ich der Ansicht, dass die Frage, ob die Maßnahme der nationalen Behörden „bei der Durchführung des Rechts der Union“ erlassen wurde, differenziert nach Maßgabe jedes einzelnen der geltend gemachten Grundrechte zu beantworten ist.

72.

Meine dahin gehende Antwort bedarf der Erläuterung. Es mag in der Tat nicht offensichtlich erscheinen, dass eine bestimmte Situation, die innerhalb eines Mitgliedstaats entstanden ist, je nachdem, um welche Bestimmung es geht, aus der Sicht der Charta prüfbar und zugleich nicht prüfbar ist.

73.

Unter den konkreten Umständen entsteht jedoch eine besondere Situation, die gerade den Anlass für den im Ausgangsverfahren gestellten Antrag bildet. Der von Herrn Delvigne gerügten Situation könnte nämlich auf zwei verschiedenen und im Grunde alternativen Wegen abgeholfen werden: Einerseits durch die Feststellung, dass das Strafrecht, das auf ihn tatsächlich angewandt wurde – und wird –, das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament einschränkt (Art. 39 der Charta). Andererseits durch die alternative Beurteilung, dass jedenfalls das spätere Strafrecht, das nicht auf ihn angewandt wurde, im Einklang mit der in Art. 49 der Charta enthaltenen Garantie (Recht auf rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes) auf ihn hätte angewandt werden müssen. Beide Wege könnten, wie man sieht, am Ende zu demselben Ergebnis führen.

74.

Die Probleme, die sich aus der Prüfung ergeben, ob es sich um einen Fall der Durchführung des Unionsrechts handelt, stellen sich je nach dem geltend gemachten Begehren in ganz unterschiedlicher Weise, d. h. je nachdem, ob das Begehren in der Feststellung besteht, dass das auf ihn angewandte Gesetz das Wahlrecht – wesentlich – beeinträchtigt, oder in einer bestimmten rückwirkenden Anwendung eines Strafgesetzes, das nicht auf ihn angewandt wurde.

75.

Ich werde daher getrennt und in der Reihenfolge, in der das nationale Gericht sie stellt, auf die Frage eingehen, ob der Fall eines bei der Durchführung des Rechts der Union erlassenen nationalen Rechts vorliegt.

3. Zur Frage, ob das in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta anerkannte Recht auf rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes einer unter den konkreten Umständen ergangenen strafrechtlichen Verurteilung wirksam entgegengehalten werden kann

76.

Insoweit ist daran zu erinnern, dass im vorliegenden Fall eine Gesetzesänderung im nationalen Strafrecht erfolgt ist, die sich zweifellos als Fall einer reformatio in mitius einstufen lässt, dass aber ihre Anwendung auf vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ausgesprochene Verurteilungen ausgeschlossen wurde. Bevor gegebenenfalls die Tragweite der in der Charta anerkannten Garantie geprüft wird und insbesondere die Frage, ob sie sich auch auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der genannten Reform bereits ergangene endgültige Verurteilungen erstreckt, muss – wie ich soeben dargelegt habe – geprüft werden, ob die in Rede stehende strafrechtliche Verurteilung „bei der Durchführung des Rechts der Union“ erfolgt ist. Sollte dies nicht der Fall sein, ist klar, dass nicht auf die verschiedenen möglichen Fragen zur inhaltlichen Tragweite dieses Grundrechts eingegangen werden könnte ( 15 ).

77.

Ich kann sogleich vorausschicken, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Weiteres den Schluss zulässt, dass dies nicht der Fall war. Es sei daran erinnert, dass der Gerichtshof im bereits angeführten Urteil Åkerberg Fransson im Zusammenhang mit einer Problematik, die unbestreitbare Ähnlichkeit mit dem vorliegenden Fall aufweist, und konkret bei der Prüfung, ob eine strafrechtliche Garantie wie der Grundsatz ne bis in idem für eine wegen eines Verstoßes gegen die Mehrwertsteuervorschriften verhängte Strafe gilt, einen Fall der Durchführung des Rechts der Union in dem Umstand gesehen hat, dass das in Rede stehende Strafverfahren „teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer“ stand ( 16 ).

78.

In gleicher Weise stellte der Gerichtshof bei dieser Gelegenheit fest, dass dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ein Recht zugrunde lag, das bei der Durchführung des Unionsrechts erlassen wurde, da dieses die Mitgliedstaaten „verpflichtet …, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen“ ( 17 ), wie sich einerseits aus Art. 4 Abs. 3 EUV und andererseits aus der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Sechsten Richtlinie ergibt.

79.

Diese Bestimmungen wurden ergänzt durch „Art. 325 AEUV[, der die Mitgliedstaaten] verpflichtet, zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen[;] insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet“ ( 18 ).

80.

Der Gerichtshof führte aus: „Da die Eigenmittel der Union gemäß dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2007/436/EG … über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften … u. a. die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt.“ ( 19 )

81.

Letztlich ging es in der Rechtssache Åkerberg Fransson um einen Fall, in dem ein Mitgliedstaat zum Erlass der legislativen und administrativen Maßnahmen verpflichtet war, die erforderlich waren, um einer unionsrechtlichen Verpflichtung nachzukommen.

82.

In klarem Gegensatz zu dem früheren Fall gibt es hier keine unionsrechtlichen Bestimmungen – auf die sich auch niemand berufen hat –, die in vergleichbarer Weise wie in jener Rechtssache die Strafgewalt des Mitgliedstaats untermauern und aktivieren könnten. Vielmehr fand die Ausübung der Strafgewalt durch den Mitgliedstaat in einem Bereich statt, der völlig außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt, konkret bei der Ahndung eines Mordes. Es gibt daher im vorliegenden Fall kein Unionsrecht, das die Feststellung erlauben würde, dass die Strafe bei seiner Durchführung verhängt wurde.

83.

Aus diesem Blickwinkel bleibt mir nur noch hinzufügen, dass der Umstand, dass ein anderes Verständnis der Tragweite des Rechts auf die reformatio in mitius – wie von Herrn Delvigne vorgeschlagen – zur Anwendung der nach seiner Verurteilung erfolgten Gesetzesreform auf ihn, letztlich mit Konsequenzen für seine Ausübung des Wahlrechts, hätte führen können, nicht ausreicht, um an der vorstehenden Schlussfolgerung etwas zu ändern.

84.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eine bloße mittelbare Beeinflussung eines in den Geltungsbereich der Union fallenden Sachgebiets nicht für die Annahme ausreicht, dass die Situation, auf die die nationale Vorschrift anzuwenden ist, die diese Beeinflussung zur Folge hat, durch dieses Recht geregelt ist ( 20 ).

85.

In gleicher Weise hat der Gerichtshof ferner festgestellt, dass „der Begriff der ‚Durchführung des Rechts der Union‘ im Sinne von Art. 51 der Charta einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“ ( 21 ). Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt: „Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“ ( 22 )

86.

Letztlich und auf derselben Linie lässt der Umstand, dass eine Rückwirkung dieser Reform den kollateralen und in gewisser Weise zufälligen Effekt einer Wiedererlangung des Wahlrechts hätte haben können, nicht die Feststellung zu, dass Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta diese Situation „regelt“, dass also die Maßnahme der nationalen Behörden letztlich bei der Durchführung des Rechts der Union ergangen ist.

87.

Ich bin daher der Auffassung, dass eine nationale Bestimmung wie die hier in Rede stehende, die eine bestimmte Rückwirkung einer nicht bei der Durchführung des Rechts der Union erlassenen strafrechtlichen Regelung ausschließt, ebenfalls nicht den Charakter einer bei der Durchführung des Rechts der Union erlassenen nationalen Regelung hat.

88.

Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof unter den konkreten Umständen für die Entscheidung über die Vereinbarkeit der vom Tribunal d’instance angeführten nationalen Regelung mit Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta nicht zuständig ist.

4. Zur Frage, ob das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, so wie es in Art. 39 Abs. 2 der Charta anerkannt ist, einer nationalen strafrechtlichen Regelung entgegengehalten werden kann, die einen endgültigen Verlust des Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vorsieht

89.

Mit seiner zweiten Frage möchte das Tribunal d’instance de Bordeaux wissen, ob die endgültige, ursprünglich gegen Herrn Delvigne nach Maßgabe der zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlung geltenden Strafgesetze ausgesprochene – und von ihm weiterhin „verbüßte“ – Aberkennung des Wahlrechts mit der Charta vereinbar ist.

90.

Erneut stellt sich die Frage, ob die Voraussetzung vorliegt, unter der die Handlungen der Behörden der Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Vorschriften unterliegen. Erneut stellt sich im Wesentlichen die Frage, ob die Anwendung der in Rede stehenden strafrechtlichen Regelung durch Unionsrecht geregelt oder bestimmt wurde.

91.

Der Schluss, zu dem man in diesem Fall kommen muss, ist eindeutig ein anderer. Der bei Herrn Delvigne aufgrund der französischen Rechtsvorschriften, die, wie sich zeigen wird, nach Maßgabe des Rechts der Union die Wahlen zum Europäischen Parlament regeln – unter Bezugnahme auf das allgemeine nationale Wahlrecht (Art. 2 des Gesetzes 77‑729 vom 7. Juli 1977), das seinerseits auf das Strafrecht Bezug nimmt (Art. L 2 des Wahlgesetzbuchs) –, eingetretene Verlust des Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist die Folge von Rechtsvorschriften, die bei der Durchführung des Rechts der Union ergangen sind.

92.

Meines Erachtens besteht im vorliegenden Fall eine klare Verbindung zwischen der streitigen nationalen Regelung und dem Recht der Union. Diese Verbindung resultiert vor allem daraus, dass in das Primärrecht eine Zuständigkeit für den Erlass der Vorschriften aufgenommen wurde, die erforderlich sind, um die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments „nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ zu ermöglichen. Art. 223 Abs. 1 AEUV bestimmt in Fortführung – wenn auch mit Abweichungen – seines unmittelbaren Vorgängers, des Art. 190 EG, dass das Europäische Parlament „einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen“ zu erstellen hat, um dieses Ziel zu verwirklichen, während der Rat dafür zuständig ist, diese Bestimmungen „einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments“ zu erlassen, wenngleich die fraglichen Bestimmungen erst „nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft [treten]“ ( 23 ).

93.

Diese Regelung in Art. 223 Abs. 1 AEUV setzt voraus, dass dem Gesetzgeber der Union zur Regelung der Wahl ihrer Abgeordneten zwei Optionen zur Verfügung stehen: die Einführung eines einheitlichen Verfahrens oder die Aufstellung gemeinsamer Grundsätze. Unabhängig von den Unterschieden zwischen der einen und der anderen Option ist für den vorliegenden Fall von Bedeutung, dass beide eine Materie zum Gegenstand haben, die in den Zuständigkeitsbereich der Union fällt, wobei dem Unionsgesetzgeber insoweit zumindest die Eigenschaft als „Mitgesetzgeber“ zukommt.

94.

Es ist klar, dass der Unionsgesetzgeber, indem er entweder ein Verfahren für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments schafft oder allgemeine Grundsätze aufstellt, auf deren Grundlage diese Wahl durchzuführen ist, an der Ausübung einer besonderen Zuständigkeit beteiligt ist, die vielleicht als „geteilt“ eingestuft werden könnte, ihn aber in jedem Fall unmittelbar einbezieht. Die in Rede stehende Zuständigkeit erscheint in zweifacher Hinsicht „geteilt“: zum einen, da die Initiative für die Bestimmungen zur Regelung dieses Verfahrens und ihre Ausarbeitung oder gegebenenfalls die Eingrenzung der allgemeinen Grundsätze, die ihm zugrunde liegen müssen, ausschließlich in die Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen, während den Mitgliedstaaten die Entscheidung über das „Inkrafttreten“ dieser Bestimmungen vorbehalten ist; zum anderen, weil nach der Schaffung eines einheitlichen Verfahrens oder, alternativ, der Aufstellung allgemeiner Grundsätze für das europäische Wahlverfahren immer ein Spielraum für die Ausübung der eigenen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Regelung der Wahlen zum Europäischen Parlament bleiben wird.

95.

Die erste Schlussfolgerung, die aus der vorstehenden Erwägung zu ziehen ist, besteht darin, dass nach dem AEUV bereits eine bestimmte Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers existiert, die die Zurückweisung des Vorwurfs ermöglicht, die Anwendung der Charta könne eine Änderung der Zuständigkeiten der Union in dem durch Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verbotenen Sinne zur Folge haben. Und an dieser Schlussfolgerung ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bestimmung des Art. 223 Abs. 1 AEUV bekanntlich nicht umgesetzt worden ist.

96.

Das mit Art. 223 Abs. 1 AEUV angestrebte Verfahren ist nämlich noch nicht eingeführt worden ( 24 ). Aber in dem Mandat, das diese Bestimmung enthält, kommt – auch wenn seine Umsetzung noch aussteht – der Wille des Primärgesetzgebers zum Ausdruck, die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments zu einer „unionsrechtlich geregelten Fallgestaltung“ im Sinne des Urteils Åkerberg Fransson zu machen, wenn auch nicht ausschließlich, sondern unter Beteiligung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im Kontext des von der Union geregelten einheitlichen Verfahrens bzw. der von ihr aufgestellten allgemeinen Grundsätze.

97.

Das Interesse der Union an dem Verfahren zur Bestimmung der Mitglieder des Europäischen Parlaments erfuhr bereits mit der erstmaligen unmittelbaren und allgemeinen Wahl der europäischen Abgeordneten durch die Bürger der Mitgliedstaaten eine qualitative Änderung ( 25 ). Hierzu bedurfte es zunächst des Erlasses des Aktes von 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, nach dessen Art. 1 Abs. 3 die Wahl „allgemein, unmittelbar, frei und geheim“ erfolgt.

98.

Der Akt von 1976 sah allerdings nicht viel mehr vor, denn in seinem Art. 8 heißt es: „Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.“ Jedenfalls setzte die allgemeine und unmittelbare Wahl des Europäischen Parlaments voraus, dass die Zusammensetzung dieser Kammer die der Parlamente der Mitgliedstaaten abbildete und widerspiegelte. Nicht vergessen werden darf auch, dass der Gerichtshof, gestützt auf diesen Akt, der Klage der Partei „Les Verts“ in seinem Urteil Les Verts/Parlament ( 26 ) stattgab und dabei die Verträge erstmals als Verfassungsurkunde qualifizierte.

99.

Durch die allmähliche Zunahme der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments und die wachsende Annäherung seiner institutionellen und politischen Stellung an die der nationalen Parlamente in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist die Notwendigkeit, dass sein Wahlverfahren seiner Eigenschaft als Vertretungsorgan des Willens der Bürger „der Union“ gerecht wird, immer dringlicher geworden. So gesehen lässt sich – wie ich es in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Åkerberg Fransson ausgedrückt habe – kaum bestreiten, dass es sich hier um ein „spezifische[s] Interesse der Union“ daran handelt, dass „die Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Unionsrecht … mit dem Grundrechtsverständnis der Union im Einklang steht“ ( 27 ).

100.

Auf derselben Linie und in Abkehr von der zuvor in Art. 189 EG enthaltenen Formulierung werden in Art. 14 Abs. 2 EUV und im Einklang damit in Art. 39 Abs. 1 der Charta die Abgeordneten des Europäischen Parlaments nicht mehr als „Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ bezeichnet, sondern viel unmittelbarer als „Vertreter der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ ( 28 ).

101.

Es ist klar, dass das Europäische Parlament in dieser neuen Eigenschaft als Kammer, die unmittelbar die Interessen der Unionsbürger vertritt, kaum noch die schlichte Summe von Abgeordneten sein kann, die nach nationalen Wahlverfahren mit möglicherweise völlig verschiedenen Ansätzen und Prämissen gewählt werden. Die einheitliche Vertretung der Bürger erfordert die Einführung eines einheitlichen oder zumindest auf allgemeinen Grundsätzen beruhenden Wahlverfahrens. Dies scheint mir der Sinn des Art. 223 Abs. 1 AEUV zu sein.

102.

Dass das nunmehr in dieser Vorschrift enthaltene Mandat nie im oben genannten Sinne verwirklicht worden ist, macht es erforderlich, dass die Union sich weiterhin der Hilfe der nationalen Wahlverfahren bedient, wie es der Akt von 1976 vorsieht. Zwar liegt die Festlegung des Inkrafttretens eines solchen Verfahrens – noch – in den Händen der Mitgliedstaaten. Auch wenn sie dadurch gewissermaßen die Zuständigkeit für die Festlegung dieses Inkrafttretens besitzen, verfügen sie aber nicht mehr über die ihnen früher zustehende unbedingte Zuständigkeit zur Regelung des Verfahrens für die Wahl der in ihrem Wahlbezirk wählbaren europäischen Abgeordneten. Daher ist die heute noch notwendige fast vollständige Verweisung auf die nationalen Wahlverfahren nicht die Folge des Bestehens einer derart weitgehenden eigenen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich, sondern das Ergebnis der Notwendigkeit, die Lücke zu schließen, die andernfalls aufgrund der Nichterfüllung des in Art. 223 Abs. 1 AEUV niedergelegten Mandats entstünde.

103.

Als ein Punkt, der hier von Bedeutung ist, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen jedenfalls, dass die zweite Frage des Tribunal d’instance zweifelsohne einen Bereich betrifft, in dem die Durchführung des Rechts der Union unumgänglich ist.

104.

Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts zuständig, da es sich um einen Bereich der Durchführung des Rechts der Union handelt. Jedoch bedarf diese Schlussfolgerung aufgrund der beschränkten Tragweite der Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers für die Regelung der Wahlen zum Europäischen Parlament einer wichtigen Klarstellung.

105.

Die Ausführungen des Gerichtshofs in der bereits angeführten Rn. 29 des Urteils Åkerberg Fransson dürfen nämlich nicht außer Acht gelassen werden: In Situationen, die durch das nationale Recht geregelt sind und die „nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt [werden]“, steht es den nationalen Behörden frei, „nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“ ( 29 ).

106.

In diesem Sinne ist nach meinen bisherigen Ausführungen klar, dass das gesamte Wahlrecht, das die Wahlen zum Europäischen Parlament regeln muss, weder tatsächlich noch rechtlich durch das Unionsrecht „vollständig bestimmt“ wird. Das heißt, auch wenn Art. 223 Abs. 1 AEUV umgesetzt wird, erstreckt sich die Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers nicht auf das gesamte die Wahlen zum Europäischen Parlament betreffende Recht, sondern nur auf die Schaffung eines einheitlichen Verfahrens oder einiger gemeinsamer Grundsätze. Diese Situation würde bereits implizieren, dass das hierzu ergangene nationale Recht durch das Unionsrecht nicht „vollständig bestimmt“ wird. Dies gilt umso mehr in einer Situation, in der Art. 223 Abs. 1 AEUV nicht umgesetzt worden ist. Aufgrund dessen verfügen die Mitgliedstaaten über einen Spielraum für die Anwendung von der Charta abweichender – und, wie sich aus dem Urteil Melloni ( 30 ) ergibt, höherer – Schutzstandards, natürlich immer unter der am Ende des vorstehenden Absatzes genannten Voraussetzung.

107.

Als Zwischenergebnis halte ich daher fest, dass nationale Rechtsvorschriften wie die hier in Rede stehenden, die unmittelbar oder durch Verweisung die Wahlen zum Europäischen Parlament regeln, Rechtsvorschriften sind, die „bei der Durchführung“ des Rechts der Union erlassen wurden, unabhängig davon, dass sie nicht im Sinne von Rn. 29 des Urteils Åkerberg Fransson und mit den dort angegebenen Folgen durch das Unionsrecht „vollständig bestimmt“ werden.

C – Zur Beantwortung der Frage

1. Vorbemerkung

108.

Nach ihrem Wortlaut scheint sich die Frage des vorlegenden Gerichts auf Art. 39 Abs. 1 der Charta zu konzentrieren, denn nur in diesem Absatz wird auf den Gleichheitssatz Bezug genommen, wenn auch nur, um sicherzustellen, dass die Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, unter denselben Bedingungen an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können wie die Staatsangehörigen des Wohnsitzstaats. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Gleichheit, auf die sich Herr Delvigne berufen hat und auf die sich das Tribunal d’instance in seinem Vorlagebeschluss bezieht, nicht die von Art. 39 Abs. 1 der Charta ist, sondern die seines Abs. 2.

109.

Das vorlegende Gericht fragt genau, ob „der auf die Wahlen zum Europäischen Parlament anwendbare Art. 39 der Charta … dahin auszulegen [ist], dass er die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, keine allgemeine, unbestimmte und automatische Versagung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte vorzusehen, damit es nicht zu einer Ungleichbehandlung der Angehörigen der Mitgliedstaaten kommt“. Die Bezugnahme auf die „allgemeine, unbestimmte und automatische Versagung“ evoziert, wie wir sehen werden, unmittelbar die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Aberkennung des Wahlrechts in rein innerstaatlichen Kontexten ( 31 ), d. h. zur Definition des Wahlrechts als politisches Recht selbst. Wenn das Tribunal d’instance von einer „Ungleichbehandlung der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ spricht, bezieht es sich daher meines Erachtens ausschließlich auf die französischen Staatsangehörigen und nicht auf diese im Verhältnis zu den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten.

110.

Somit ist die Aufmerksamkeit auf Abs. 2 des Art. 39 der Charta zu richten, also auf die Ausübung des Wahlrechts im engeren Sinne, denn die Grundrechtsfrage, die sich im Fall von Herrn Delvigne stellt, besteht nicht darin, ob die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können, sei es in Frankreich oder in anderen Mitgliedstaaten. Die Frage besteht darin, ob für ihn als Unionsbürger die angewandte nationale Regelung mit einem Grundrecht vereinbar ist, das die Charta allen europäischen Bürgern auch für den Fall zuerkennt, dass sie es in dem Mitgliedstaat ausüben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

111.

Nach dieser Eingrenzung der Frage ist darauf hinzuweisen, dass sie ihren Ursprung in einem Prozess hat, in dem es um die Streichung von Herrn Delvigne aus dem Wählerverzeichnis infolge seiner im Jahr 1988 erfolgten Verurteilung zu einer Hauptstrafe von zwölf Jahren Haft geht, mit der als Nebenstrafe die lebenslängliche Aberkennung des Wahlrechts verbunden war. Herr Delvigne möchte im Ausgangsverfahren erreichen, dass auf ihn rückwirkend die strafrechtlichen Vorschriften angewandt werden, mit denen 1992 der automatische und unbefristete Charakter dieser Nebenstrafe abgeschafft wurde, allerdings nur für Verurteilungen nach dem Inkrafttreten dieser Rechtsvorschriften.

2. Zur Beachtung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament durch das nationale Recht (Art. 39 Abs. 2 der Charta)

112.

Vorliegend geht es um den endgültigen Verlust des Wahlrechts infolge einer bestimmten Verurteilung. Es handelt sich insbesondere um einen Sachverhalt, der sich als „Einschränkung“ der Ausübung eines Grundrechts im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta einstufen lässt. Nach dieser Vorschrift muss eine solche Einschränkung „gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt [des betreffenden Rechts] achten“, und sie muss jedenfalls unter Wahrung des „Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ vorgenommen werden, „erforderlich“ sein und „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.

113.

Es ist zu prüfen, ob nach der einschlägigen Rechtsprechung unter den konkreten Umständen die Voraussetzungen vorliegen, unter denen die in Rede stehende Einschränkung als mit den Anforderungen der Charta vereinbar angesehen werden kann.

114.

Es ist unstreitig, dass die Einschränkung gesetzlich vorgesehen war, da sie sich aus der gemeinsamen Anwendung des Code pénal, des Gesetzes von 1992 und des Wahlgesetzbuchs ergibt. Fraglich ist, ob sie auch den Wesensgehalt des Wahlrechts achtet. Insoweit ist der deutschen Regierung beizupflichten, dass ein „schematischer und dauerhafter“ Verlust des aktiven oder passiven Wahlrechts bei einer strafrechtlichen Verurteilung den Wesensgehalt der allgemeinen Wahl verletzen würde, da er die Ausübung dieses Rechts für bestimmte Unionsbürger unmöglich machen würde ( 32 ).

115.

Im Kontext der Charta fungiert die Achtung des Wesensgehalts der darin anerkannten Rechte als letzte und unüberwindbare Schranke jeder möglichen Einschränkung der Ausübung dieser Rechte, als eine „Schranken-Schranke“ ( 33 ). Letztlich führt die Nichtbeachtung des Wesensgehalts dazu, dass das in Rede stehende Grundrecht „als solches nicht wiederzuerkennen“ ist, so dass dann nicht von einer „Einschränkung“ der Ausübung eines Rechts, sondern schlicht und einfach von seiner „Abschaffung“ gesprochen werden muss.

116.

Überträgt man die vorstehende Erwägung auf den vorliegenden Fall, muss in Anbetracht des Charakters der in Rede stehenden Einschränkung letztlich geklärt werden, ob sie verhältnismäßig ist, denn wenn sie es nicht wäre, würde sie die Schranke verletzen, die nach der Charta für jede mögliche Einschränkung von Grundrechten besteht, d. h. ihren Wesensgehalt.

117.

Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit oder Unverhältnismäßigkeit der geprüften Einschränkung ist von der großen Vielfalt auszugehen, die es in diesem Bereich in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen gibt; diese sind so verschiedenartig, dass aus der Sicht des Unionsrechts nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Mitgliedstaaten abgestellt werden kann und folglich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK.

118.

Eine rechtsvergleichende Prüfung zeigt in der Tat große Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aberkennung des Wahlrechts infolge einer strafrechtlichen Sanktion ( 34 ), und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat als kleinsten gemeinsamen Nenner, der im Kontext von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK zulässig ist, die Möglichkeit einer lebenslangen Aberkennung des Wahlrechts zugelassen, sofern diese Aberkennung nicht das Ergebnis eines Systems ist, das auf allgemeinen und automatischen sowie undifferenziert anwendbaren Kriterien beruht. Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stehen dem Rechtsvorschriften entgegen, mit denen einer großen Zahl von Personen das Wahlrecht „undifferenziert“ und „automatisch …, unabhängig von der Dauer der Strafe und ungeachtet der Natur oder der Schwere des von ihnen begangenen Verstoßes und ihrer persönlichen Situation“ aberkannt wird, und er kommt zu dem Schluss, dass „eine solche allgemeine, automatische und undifferenzierte Einschränkung eines in der Konvention verankerten Rechts, das von grundlegender Bedeutung ist, über einen akzeptablen Wertungsspielraum, so weit dieser auch sein mag, hinausgeht und mit Art. 3 des Protokolls Nr. 1 unvereinbar ist“ ( 35 ).

119.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte misst der Möglichkeit einer Überprüfung der entziehenden Maßnahme ganz besondere Bedeutung bei; er hat ausgeführt, dass ein nationales System, das die Wiedererlangung des Wahlrechts mittels eines drei Jahre nach Verbüßung der Hauptstrafe gestellten Antrags und unter der Voraussetzung des Nachweises dauerhafter guter Führung vorsah, nicht von einer mit der EMRK unvereinbaren übermäßigen Strenge sei ( 36 ).

120.

Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten eine strafrechtliche Verurteilung als möglichen Grund für die Aberkennung des Wahlrechts vorsehen können, ohne dass dies zur Unvereinbarkeit mit dem Recht der Union führen würde, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Aberkennung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte statthaft ist. Dies ergibt sich eindeutig aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der im Einklang damit stets darauf hingewiesen hat, dass „die Vertragsstaaten bei der Festlegung von Bedingungen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht über ein weites Ermessen verfügen. Diese Bedingungen dürfen die betreffenden Rechte jedoch nicht dergestalt schmälern, dass sie in ihrem Wesen beeinträchtigt werden und ihre Wirksamkeit verlieren. Sie müssen einen legitimen Zweck verfolgen, und die eingesetzten Mittel dürfen nicht unverhältnismäßig sein …“ ( 37 )

121.

Meiner Ansicht nach ist die nationale Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht grundsätzlich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unvereinbar, denn auch wenn die Wirksamkeit der Überprüfungsmöglichkeit in der mündlichen Verhandlung ernsthaft in Zweifel gezogen worden ist, sieht das französische Recht doch die Möglichkeit einer Überprüfung der lebenslangen Aberkennung des Wahlrechts vor. Dies ist offenbar in Art. 702‑1 des Strafverfahrensgesetzbuchs in seiner durch das Gesetz Nr. 2009‑1436 vom 24. November 2009 über den Strafvollzug geänderten Fassung geregelt, wonach jeder, dessen Haupt- oder Nebenstrafe die Form eines Entzugs, eines Verbots oder eines Ausschlusses hat, die Gerichte um ihre vollständige oder teilweise Aufhebung ersuchen kann.

122.

Allein dieser Umstand dürfte in Verbindung mit der Tatsache, dass nicht sicher ist, dass es sich hier um eine allgemeine, automatische sowie undifferenziert anwendbare Regelung in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandeten Sinne handelt, da sie offenbar nicht auf alle Straftaten angewandt wird, sondern nur auf solche von gewisser Schwere, die Unvereinbarkeit der Regelung mit dem Recht der Union grundsätzlich ausschließen, stets vorbehaltlich einer gerichtlichen Kontrolle.

123.

Nach alledem wird letztlich das vorlegende Gericht zu beurteilen haben, ob sich die im nationalen Recht vorgesehenen Möglichkeiten einer Überprüfung als hinreichend praktikabel erweisen, um de facto ausschließen zu können, dass die Aberkennung des Wahlrechts am Ende von unabänderlicher Dauer ist, so dass sie unverhältnismäßig ist und in den Wesensgehalt des Rechts eingreift. Beurteilungsgesichtspunkte können dabei die mehr oder wenige große tatsächliche Schwierigkeit des Überprüfungsverfahrens im Hinblick auf die Voraussetzungen für seine Einleitung, die Angemessenheit der Kosten unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeit, für einen Rechtsbeistand oder eine rechtliche Vertretung Prozesskostenhilfe in Anspruch zu nehmen, sowie die Praxis der über den Antrag auf Überprüfung entscheidenden Behörden in Bezug auf die Strenge der Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung darstellen.

124.

Im Ergebnis bin ich daher der Ansicht, dass Art. 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, sofern sie keine allgemeine, unbefristete und automatische Aberkennung des Wahlrechts ohne hinreichend praktikable Überprüfungsmöglichkeit vorsehen; Letzteres zu beurteilen ist insbesondere Sache des nationalen Gerichts.

VII – Ergebnis

125.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu antworten:

1.

Der Gerichtshof ist unter den konkreten Umständen für die Entscheidung über die Vereinbarkeit der vom Tribunal d’instance angeführten nationalen Regelung mit dem in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Recht nicht zuständig.

2.

Art. 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union steht nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, sofern sie keine allgemeine, unbefristete und automatische Aberkennung des Wahlrechts ohne hinreichend praktikable Überprüfungsmöglichkeit vorsehen; Letzteres zu beurteilen ist insbesondere Sache des nationalen Gerichts.


( 1 )   Originalsprache: Spanisch.

( 2 )   Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden vom „Wahlrecht“ sprechen.

( 3 )   RechtssacheC‑617/10, EU:C:2013:105.

( 4 )   Im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 über den Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (ABl. L 278, S. 1), geändert durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und vom 23. September 2003 (ABl. L 283, S. 1). Im Folgenden: „Akt von 1976“.

( 5 )   Vgl. die Urteile Rüffler (C‑544/07, EU:C:2009:258, Rn. 38), Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 29) und Di Donna (C‑492/11, EU:C:2013:428, Rn. 25).

( 6 )   Diese Feststellung reicht meiner Meinung nach aus, um den Zweifel zu beseitigen, den die Kommission in Nr. 20 ihrer schriftlichen Erklärungen zum Ausdruck gebracht hat, in der sie darauf hinweist, dass die Formulierung der Vorlagefragen mit dem Vorschlag von Herrn Delvigne identisch sei, woraus sich ergebe, dass verschiedene Ausführungen zu den französischen Rechtsvorschriften nicht die „endgültige Auffassung des vorlegenden Gerichts“ zu diesem Punkt wiedergäben. Da dieses Gericht dem Antrag von Herrn Delvigne „stattgibt“, ist meiner Ansicht nach davon auszugehen, dass es die von ihm zur Stützung seines Antrags auf ein Vorabentscheidungsersuchen vorgetragenen Gründe übernimmt und sich diese Gründe insoweit auch zu eigen gemacht hat.

( 7 )   Vgl. z. B. Groussot, X., Pech, L., und Petursson, G. T., „The Scope of Application of EU Fundamental Rights on Member States’ Action: In Search of Certainty in EU Adjudication“, Eric Stein Working Paper 1/2011, Nusser, J., Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, Mohr Siebeck, Tübingen, 2011, S. 54 ff., Kokott, J., und Sobotta, C., „The Charter of Fundamental Rights of the European Union after Lisbon“, EUI Working Papers, Academy of European Law, Nr. 6, 2010, Alonso García, R., „The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union“, European Law Journal, Nr. 8, 2002, Eeckhout, P., „The EU Charter of Fundamental Rights and the federal question“, 39 Common Market Law Review, 2002, Jacqué, J. P., „La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne: aspects juridiques généraux“, REDP, Bd. 14, Nr. 1, 2002, Egger, A., „EU-Fundamental Rights in the National Legal Order: The Obligations of Member States Revisited“, Yearbook of European Law, Bd. 25, 2006, Rosas, A., und Kaila, H., „L’application de la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne par la Cour de justice – un premier bilan“, Il Diritto dell’Unione Europea, 1/2011, sowie Weiler, J., und Lockhart, N., „‚Taking rights seriously‘ seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence – Part I“, Nr. 32, Common Market Law Review, 1995.

( 8 )   So einerseits die Urteile Wachauf (C‑5/88, EU:C:1989:321) und Bostock (C‑2/92, EU:C:1994:116) und andererseits die Urteile ERT (C‑260/89, EU:C:1991:254) und Familiapress (C‑368/95, EU:C:1997:325), im Gegensatz zu den Urteilen Maurin (C‑144/95, EU:C:1996:235), Kremzow (C‑299/95, EU:C:1997:254) und Annibaldi (C‑309/96, EU:C:1997:631).

( 9 )   RechtssacheC‑617/10, EU:C:2013:105.

( 10 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19). Der Gerichtshof führt sodann die Urteile ERT (C‑260/89, EU:C:1991:254, Rn. 42), Kremzow (C‑299/95, EU:C:1997:254, Rn. 15), Annibaldi (C‑309/96, EU:C:1997:631, Rn. 13), Roquette Frères (C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 25), Sopropé (C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 34), Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 72) und Vinkov (C‑27/11, EU:C:2012:326, Rn. 58) an.

( 11 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29).

( 12 )   Urteil Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).

( 13 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 23).

( 14 )   Zum letzten Punkt im gleichen Sinne Urteil Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 71).

( 15 )   Allgemein Lascuraín Sánchez, J. A., Sobre la retroactividad penal favorable, Civitas, Madrid, 2000.

( 16 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 24).

( 17 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25).

( 18 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26).

( 19 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26).

( 20 )   Urteil Annibaldi (C‑309/96, EU:C:1997:631, Rn. 21 bis 23).

( 21 )   Urteil Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24).

( 22 )   Urteil Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 25) unter Bezugnahme auf die Urteile Annibaldi (C‑309/96, EU:C:1997:631, Rn. 21 bis 23), Iida (C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 79) und Ymeraga u. a. (C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 41).

( 23 )   Allgemein zu Art. 190 EG und Art. 223 Abs. 1 AEUV González Alonso, L. N., „El Parlamento Europeo ante las elecciones de junio de 2009: reflexiones a la luz del Tratado de Lisboa“, Revista Unión Europea Aranzadi, Mai 2009, S. 7 bis 13.

( 24 )   Es hat nicht an Versuchen des Europäischen Parlaments gefehlt, diesen Auftrag zu erfüllen. Hinzuweisen ist auf einen ersten Bericht zum Vorschlag zur Änderung des Aktes von 1976, den der Abgeordnete Andrew Duff am 28. April 2011 vorgelegt hat (PE 440.210v04-00) und in dem die Einführung paneuropäischer Wahllisten, die Einführung eines einzigen Wahlbezirks für das gesamte Unionsgebiet, die Verpflichtung, die Präsenz von Frauen auf den Listen sicherzustellen, sowie die Zuweisung von Sitzen anhand des modifizierten proportionalen Systems nach d’Hondt vorgeschlagen wurden, ein Vorschlag, der, da er im Ausschuss für konstitutionelle Fragen keine ausreichende Mehrheit fand, einen zweiten Bericht desselben Abgeordneten vom 2. Februar 2012 zur Folge hatte, der im Ausschuss für konstitutionelle Fragen ebenfalls keine ausreichende Mehrheit fand und daher nicht im Plenum behandelt wurde. Nach diesen gescheiterten Versuchen wurde eine Entschließung vom 22. November 2012 zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 angenommen (P7_TA[2012]0462, Berichterstatter war der Abgeordnete Carlo Casini). Mit dieser Entschließung billigte das Parlament die Richtlinie 2013/1/EU des Rates vom 20. Dezember 2012 zur Änderung der Richtlinie 93/109/EG über die Einzelheiten der Ausübung des passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. 2013, L 26, S. 27). Diese Änderung konzentriert sich auf die Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen Mitgliedstaaten sowie die Eintragung europäischer Bürger, die keine Staatsangehörigen sind, in das Wählerverzeichnis. Am 10. Juni 2013 verabschiedete das Europäische Parlament ferner eine Empfehlung zu dem Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (PE 513.240v01-00); dieser Entwurf stützt sich wiederum auf eine andere Entschließung des Plenums des Europäischen Parlaments vom 13. März 2013 (P7_TA[2013]0082). Später, im Juli 2013, erließ das Parlament eine Entschließung über verbesserte praktische Vorkehrungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 (P7_TA[2013]0323), in der eine Erweiterung der Befugnisse des Parlaments bei der Wahl des Präsidenten der Kommission vorgesehen ist.

( 25 )   Zur Bedeutung, die die Lehre damals dieser Neuerung beimaß, siehe z. B. Lodge, J., „The significance of direct elections for the European Parliament’s role in the European Community and the drafting of a common electoral law“, Common Market Law Review 16, 1979, S. 195 bis 208, Paulin, B., und Forman, J., „L’élection du Parlement Européen au suffrage universel direct“, Cahiers de Droit Européen 5‑6, 1976, S. 506 bis 536, Charpentier, J., u. a., La signification politique de l’élection du parlement européen au suffrage universel direct, Centre Européen Universitaire de Nancy, Nancy, 1978.

( 26 )   Rechtssache294/83 (EU:C:1986:166, Rn. 23).

( 27 )   Schlussanträge Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2012:340, Nr. 40), Hervorhebung nur hier.

( 28 )   In diesem Punkt hat der Unionsbürgerstatus bedeutende Fortschritte gemacht im Hinblick auf seine Bestimmung, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen“, auf die der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 74) hingewiesen hat. Wie Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (C‑145/04, EU:C:2006:231, Nr. 68) ausgeführt hat, besagte damals überdies keine Gemeinschaftsbestimmung „offen und direkt, dass [das Wahlrecht bei den Europawahlen] zu denen gehört, die die Unionsbürger nach Artikel 17 Absatz 2 EG haben“. Er fügte hinzu: „Allerdings setzt Artikel 19 Absatz 2 EG die Zubilligung des Rechts an die Unionsbürger in gewisser Weise dadurch voraus, dass er den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats das Wahlrecht bei den Europäischen Wahlen in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, unter denselben Bedingungen zubilligt wie den Staatsangehörigen dieses Staates. Weiter ließen sich hierfür [die] Artikel 189 EG und 190 EG anführen, nach denen das Europäische Parlament aus Vertretern der ‚Völker‘ und daher (zumindest) der Bürger ‚der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten‘ besteht.“

( 29 )   Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29).

( 30 )   Urteil Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).

( 31 )   Rechtssachen Hirst/Vereinigtes Königreich (Nr. 2) [GK] Nr. 74026/01, 2005‑IX, Frodl/Österreich, Nr. 20201/04, Scoppola/Italien (Nr. 3) [GK], Nr. 126/05, sowie Greens und MT/Vereinigtes Königreich, Nrn. 60041/08 und 60054/08.

( 32 )   Nr. 31 der schriftlichen Erklärungen der deutschen Regierung.

( 33 )   Zu diesem Konzept De Otto, I., „La regulación del ejercicio de los derechos fundamentales. La garantía de su contenido esencial en el artículo 53.1 de la Constitución“, Obras Completas, Universidad de Oviedo und Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Oviedo, 2010, S. 1471 bis 1513. In der deutschen Lehre, die für den in Rede stehenden Begriff verantwortlich ist, vgl. statt aller Häberle, P., Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., C. F. Müller, Karlsruhe, 1983, und Schneider, L., Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, Duncker & Humblot, Berlin, 1983.

( 34 )   Diese Vielfalt wurde bereits 1993 im Vorschlag der Kommission für die spätere Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. L 329, S. 34), festgestellt. In der Lehre z. B. Rottinghaus, B., Incarceration and Enfranchisement: International Practices, Impact and Recommendations for Reform, International Foundation for Election Systems, Washington DC 2003, Ewald, A., und Rottinghaus, B., Criminal Disenfranchisement in an International Perspective, Cambridge University Press, 2009.

( 35 )   Rechtssachen Hirst/Vereinigtes Königreich (Nr. 2) [GK] Nr. 74026/01, Rn. 82, 2005‑IX, Frodl/Österreich, Nr. 20201/04, Rn. 25, Scoppola/Italien (Nr. 3) [GK], Nr. 126/05, Nr. 96.

( 36 )   Rechtssache Scoppola/Italien (Nr. 3) [GK], Nr. 126/05, Nr. 109.

( 37 )   Rechtssache Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 94).