SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 23. Oktober 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑510/13

E.ON Földgáz Trade Zrt.

gegen

Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal

(Vorabentscheidungsersuchen der Kúria [Ungarn])

„Erdgasbinnenmarkt — Richtlinie 2003/55 — Richtlinie 2009/73 — Zeitlicher Geltungsbereich — Klagebefugnis einer juristischen Person, die ein Erdgasvertriebsunternehmen ist, zur Anfechtung einer Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde — Nationale, ausschließlich auf einem ‚rechtlichen Interesse‘ basierende Voraussetzung für die Klagebefugnis — Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz — Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

1. 

Mit ihrem Vorabentscheidungsersuchen stellt die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Auslegung der Richtlinien 2003/55/EG ( 2 ) und 2009/73/EG ( 3 ), die beide gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt enthalten.

2. 

Zunächst fragt das vorlegende Gericht nach der zeitlichen Anwendbarkeit beider Richtlinien in einem Fall, in dem die angegriffene nationale Entscheidung zu einem Zeitpunkt erlassen und angefochten wurde, als noch die Richtlinie 2003/55 anwendbar war, die Richtlinie 2009/73, durch die sie aufgehoben wurde, sich aber bereits in der Umsetzungsphase befand.

3. 

Ebenso und vornehmlich hat die Kúria Zweifel, ob eine Voraussetzung für die Klagebefugnis im ungarischen Verwaltungsprozess, nach der ein Kläger ein „rechtliches Interesse“ haben muss und ein wirtschaftlicher Schaden nicht ausreicht, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Im vorliegenden Fall hat ein Teilnehmer am ungarischen Erdgasmarkt, E.ON, eine Entscheidung der ungarischen nationalen Regulierungsbehörde angefochten, in der die Kriterien für die Entscheidung über Anträge auf langfristige Kapazitätsvergabe für eine Gasleitung festgelegt wurden. Die ungarischen Gerichte des ersten Rechtszugs sind der Ansicht, dass diese Entscheidung nicht das „rechtliche Interesse“ der Klägerin, sondern nur ihr wirtschaftliches Interesse berühre. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Sichtweise mit dem Unionsrecht bilden den Kern des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4.

Die Richtlinie 2003/55, auch bekannt als „Zweite Richtlinie“, verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einrichtung einer oder mehrerer zuständiger Stellen mit der Aufgabe als Regulierungsbehörde für die Erdgaswirtschaft. In Art. 25 regelt die Richtlinie 2003/55 neben anderen Aspekten die Rechte der von den Entscheidungen dieser Behörden betroffenen Parteien. Für die Zwecke des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens sind die in den Abs. 5, 6 und 11 aufgeführten Rechte hervorzuheben:

„Artikel 25

Regulierungsbehörden

(1)   Die Mitgliedstaaten betrauen eine oder mehrere zuständige Stellen mit der Aufgabe als Regulierungsbehörde. Diese Behörden müssen von den Interessen der Erdgaswirtschaft vollkommen unabhängig sein. Sie haben durch Anwendung dieses Artikels zumindest die Aufgabe, Nichtdiskriminierung, echten Wettbewerb und ein effizientes Funktionieren des Markts sicherzustellen und ein Monitoring … durchzuführen …

(5)   Jeder Betroffene, der hinsichtlich der in den Absätzen 1, 2 und 4 und der in Artikel 19 genannten Punkte eine Beschwerde gegen einen Fernleitungs- oder Verteilernetzbetreiber oder den Betreiber einer LNG-Anlage hat, kann damit die Regulierungsbehörde befassen, die als Streitbeilegungsstelle innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Beschwerde eine Entscheidung trifft. Diese Frist kann um zwei Monate verlängert werden, wenn die Regulierungsbehörde zusätzliche Informationen anfordert. Mit Zustimmung des Beschwerdeführers ist eine weitere Verlängerung dieser Frist möglich. Eine solche Entscheidung ist verbindlich, bis sie gegebenenfalls aufgrund eines Rechtsbehelfs aufgehoben wird.

(6)   Jeder Betroffene, der hinsichtlich einer gemäß den Absätzen 2, 3 oder 4 getroffenen Entscheidung über die Methoden oder, soweit die Regulierungsbehörde eine Anhörungspflicht hat, hinsichtlich der vorgeschlagenen Methoden beschwerdeberechtigt ist, kann längstens binnen zwei Monaten bzw. innerhalb einer von den Mitgliedstaaten festgelegten kürzeren Frist nach Veröffentlichung der Entscheidung bzw. des Vorschlags für eine Entscheidung eine Beschwerde im Hinblick auf die Überprüfung der Entscheidung einlegen. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.

(11)   Beschwerden nach den Absätzen 5 und 6 lassen die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften möglichen Rechtsbehelfe unberührt.“

5.

Die Richtlinie 2003/55 wurde durch die Richtlinie 2009/73 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, auch bekannt als „Dritte Richtlinie“, aufgehoben. Für die Zwecke dieses Verfahrens ist auf folgende Bestimmungen von Art. 41 der genannten Richtlinie hinzuweisen:

„(11)   Jeder Betroffene, der in Bezug auf die von einem Betreiber im Rahmen dieser Richtlinie eingegangenen Verpflichtungen eine Beschwerde gegen einen Fernleitungs- oder Verteilernetzbetreiber oder den Betreiber einer Speicher- oder LNG-Anlage hat, kann damit die Regulierungsbehörde befassen, die als Streitbeilegungsstelle innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten nach Eingang der Beschwerde eine Entscheidung trifft. Diese Frist kann um zwei Monate verlängert werden, wenn die Regulierungsbehörde zusätzliche Informationen anfordert. Mit Zustimmung des Beschwerdeführers ist eine weitere Verlängerung dieser Frist möglich. Die Entscheidung der Regulierungsbehörde ist verbindlich, bis sie gegebenenfalls aufgrund eines Rechtsbehelfs aufgehoben wird.

(12)   Jeder Betroffene, der hinsichtlich einer gemäß diesem Artikel getroffenen Entscheidung über die Methoden oder, soweit die Regulierungsbehörde eine Anhörungspflicht hat, hinsichtlich der vorgeschlagenen Tarife bzw. Methoden beschwerdeberechtigt ist, kann längstens binnen zwei Monaten bzw. innerhalb einer von den Mitgliedstaaten festgelegten kürzeren Frist nach Veröffentlichung der Entscheidung bzw. des Vorschlags für eine Entscheidung eine Beschwerde im Hinblick auf die Überprüfung der Entscheidung einlegen. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.

(13)   Die Mitgliedstaaten schaffen geeignete und wirksame Mechanismen für die Regulierung, die Kontrolle und die Sicherstellung der Transparenz, um den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zum Nachteil insbesondere der Verbraucher sowie Verdrängungspraktiken zu verhindern. Diese Mechanismen tragen den Bestimmungen des Vertrags, insbesondere Artikel 82, Rechnung.

(14)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass bei Verstößen gegen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Geheimhaltungsvorschriften geeignete Maßnahmen, einschließlich der nach nationalem Recht vorgesehenen Verwaltungs- oder Strafverfahren, gegen die verantwortlichen natürlichen oder juristischen Personen ergriffen werden.

(15)   Beschwerden nach den Absätzen 11 und 12 lassen die nach dem Gemeinschaftsrecht und/oder dem nationalen Recht möglichen Rechtsbehelfe unberührt

(16)   Die von den Regulierungsbehörden getroffenen Entscheidungen sind im Hinblick auf die gerichtliche Überprüfung in vollem Umfang zu begründen. Die Entscheidung ist [der] Öffentlichkeit unter Wahrung der Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen zugänglich zu machen.

(17)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass auf nationaler Ebene geeignete Mechanismen bestehen, in deren Rahmen eine von einer Entscheidung der Regulierungsbehörde betroffene Partei das Recht hat, bei einer von den beteiligen Parteien und Regierungen unabhängigen Stelle Beschwerde einzulegen.“

6.

Die Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen ( 4 ), die durch die Verordnung (EG) Nr. 715/2009 ( 5 ) aufgehoben und ersetzt wurde, regelt die für die Netzbetreiber geltenden Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement. Konkret sieht Art. 5 unter der Überschrift „Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement“ Folgendes vor:

„(1)   Den Marktteilnehmern wird in allen in Artikel 6 Absatz 3 genannten maßgeblichen Punkten die größtmögliche Kapazität zur Verfügung gestellt, wobei auf die Netzintegrität und einen effizienten Netzbetrieb geachtet wird.

(2)   Die Fernleitungsnetzbetreiber veröffentlichen nicht diskriminierende und transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen und setzen diese um; diese müssen:

a)

angemessene ökonomische Signale für die effiziente und maximale Nutzung der technischen Kapazität liefern und Investitionen in neue Infrastruktur erleichtern;

b)

die Kompatibilität mit den Marktmechanismen einschließlich Spotmärkten und ‚Trading Hubs‘ sicherstellen und gleichzeitig flexibel und in der Lage sein, sich einem geänderten Marktumfeld anzupassen;

c)

mit den Netzzugangsregelungen der Mitgliedstaaten kompatibel sein.

(3)   Schließen Fernleitungsnetzbetreiber neue Transportverträge ab oder handeln sie laufende Verträge neu aus, so berücksichtigen diese Verträge folgende Grundsätze:

a)

Im Falle vertraglich bedingter Engpässe bietet der Fernleitungsnetzbetreiber ungenutzte Kapazität auf dem Primärmarkt zumindest auf ‚Day-ahead‘-Basis (für den folgenden Gastag) und als unterbrechbare Kapazität an;

b)

Netznutzer, die ihre ungenutzte, kontrahierte Kapazität auf dem Sekundärmarkt weiterverkaufen oder verpachten wollen, sind hierzu berechtigt. Die Mitgliedstaaten können eine Benachrichtigung oder Unterrichtung des Fernleitungsnetzbetreibers durch die Netznutzer verlangen.

(4)   Bleiben Kapazitäten im Rahmen bestehender Transportverträge ungenutzt und entsteht ein vertraglich bedingter Engpass, so wenden die Fernleitungsnetzbetreiber Absatz 3 an, es sei denn, dadurch würde gegen die Anforderungen bestehender Transportverträge verstoßen. Würde dadurch gegen bestehende Transportverträge verstoßen, so richten die Fernleitungsnetzbetreiber nach Rücksprache mit den zuständigen Behörden gemäß Absatz 3 ein Gesuch an die Netznutzer für die Nutzung der ungenutzten Kapazität auf dem Sekundärmarkt.

(5)   Im Falle physischer Engpässe wenden die Fernleitungsnetzbetreiber oder gegebenenfalls die Regulierungsbehörden nicht diskriminierende, transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen an.“

B – Nationales Recht

7.

Nach § 3 Abs. 1 des Polgári perrendtartásról szóló 1952. évi III. törvény (Gesetz Nr. III von 1952 über die Zivilprozessordnung) kann eine Klage beim Zivilgericht – sofern ein Gesetz nichts anderes verfügt – nur von einer am Streitfall beteiligten Partei eingebracht werden.

8.

Durch § 327 Abs. 1 Buchst. a und b der Zivilprozessordnung wird eine spezifische Bestimmung über das verwaltungsgerichtliche Verfahren eingeführt, nach der zur Anstrengung eines Verwaltungsprozesses die Partei des Verwaltungsverfahrens oder ein sonstiger Beteiligter des Verfahrens hinsichtlich einer ausgesprochen auf ihn bezogenen Bestimmung berechtigt sind.

II – Sachverhalt und nationales Verfahren

9.

Die Gesellschaft FGSZ Földgázszällító Zrt. ist der Betreiber des Gasfernleitungsnetzes in Ungarn. Nach geltendem nationalen Recht prüft die FGSZ (im Folgenden: Netzbetreiber) in der Reihenfolge ihres Eingangs Anträge auf langfristige Kapazitätsvergabe an Teilnehmer auf dem Gasmarkt. Hat der Netzbetreiber festgestellt, dass freie Kapazität zur Verfügung steht, entscheidet er über den Umfang der beantragten langfristigen Kapazitätsreserve und schließt mit dem Marktteilnehmer den entsprechenden langfristigen Kapazitätsvertrag.

10.

E.ON Földgáz Trade Zrt. (im Folgenden: E.ON) ist ein Teilnehmer auf dem ungarischen Gasmarkt. Aus den Akten ergibt sich, dass E.ON bei dem Netzbetreiber Anträge auf langfristige Kapazitätsvergabe für mehr als ein Gasjahr für die HAG (Hungaria-Austria-Gasleitung) stellte. Da die Anträge die für das Gasjahr verfügbaren freien Kapazitäten überschritten, bat der Netzbetreiber die ungarische Regulierungsbehörde um Stellungnahme.

11.

Mit der Entscheidung Nr. 98/2010 vom 22. Februar 2010 änderte die ungarische Regulierungsbehörde die zu diesem Zeitpunkt geltende Entscheidung und verpflichtete den Netzbetreiber zur Beachtung des auf Anträge auf langfristige Kapazitätsvergabe für die Hungaria-Austria-Gasleitung im Gasjahr 2010/2011 anzuwendenden Kriteriums. Durch die neue Entscheidung erhält der Netzbetreiber die Befugnis, bei Anträgen für mehr als ein Jahr die Vergabe des auf das Gasjahr 2010/2011 entfallenden Anteils für bis zu 80 % der freien Leitungskapazität der Gasleitung zu ermöglichen. Die verbleibenden 20 % der freien Leitungskapazität der Gasleitung bleiben der Jahresvergabe für das Gasjahr 2010/2011 vorbehalten. Die Behörde meint, dass ein Reservenüberschuss von mehr als einem Jahr den Wettbewerb beschränken und den Markteintritt anderer Marktteilnehmer erschweren könnte.

12.

E.ON focht die Entscheidung Nr. 98/2010 der Behörde beim Fővárosi Bíróság teilweise an, der am 27. März 2010 in erster Instanz über die Klage entschied und seine Entscheidung auf die fehlende Klagebefugnis der Klägerin stützte. Nach Ansicht dieses Gerichts habe E.ON weder einen Dienstleistungsvertrag oder eine Vereinbarung zur Gewährleistung des Zugangs zu den Ressourcen vorgelegt noch mit dem Netzbetreiber einen Vertrag abgeschlossen. Nach ungarischem Verfahrensrecht sowie der Rechtsprechung der Kúria reiche ein wirtschaftlicher Schaden für die Begründung der Klagebefugnis nicht aus.

13.

E.ON legte gegen die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs ein Rechtsmittel bei der Kúria ein, die mit Beschluss vom 2. Juli 2013 dem Gerichtshof das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat.

III – Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.

Am 29. September 2013 ist das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV mit folgenden Fragen bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen:

1.   Sind die in Art. 25 der Richtlinie 2003/55/EG enthaltenen Bestimmungen, die den Kreis der zur Einlegung eines Rechtsbehelfs Berechtigten festlegen, im Fall einer während der Geltung dieser Richtlinie ergangenen Behördenentscheidung, anwendbar oder sind in dem anhängigen Gerichtsverfahren die Bestimmungen des Art. 41 der während des Gerichtsverfahrens in Kraft getretenen Richtlinie 2009/73/EG zu beachten, weil die Vorschriften dieser Richtlinie ihrem Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 zufolge ab 3. März 2011 anzuwenden sind?

2.   Falls die Richtlinie von 2009 anzuwenden ist: Kann bei einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ein Betriebs- und Handelsreglement (Netzkodex) genehmigt oder sein Inhalt festgelegt wird, der Inhaber einer Vertriebslizenz, der – wie im vorliegenden Rechtsstreit – über ein wirtschaftliches Interesse verfügt, als „betroffene Partei“ im Sinne des Art. 41 Abs. 17 dieser Richtlinie angesehen werden oder ist nur der Netzbetreiber, der befugt ist die Genehmigung des Netzkodexes zu beantragen, betroffene Partei?

3.   Falls die Richtlinie von 2003 anzuwenden ist: Fallen die Genehmigung bzw. die Änderung des Netzkodexes in seinem die Prüfung von Anträgen auf Kapazitätsvergabe betreffenden Teil, wie sie im vorliegenden Rechtsstreit erfolgt sind, unter die in Art. 25 Abs. 5 und 6 geregelten Tatbestände?

4.   Falls es sich um einen Tatbestand handelt, der unter Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie von 2003 fällt: Kann bei einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ein Netzkodex genehmigt oder sein Inhalt festgelegt wird, der Inhaber einer Vertriebslizenz, der – wie im vorliegenden Rechtsstreit – über ein wirtschaftliches Interesse verfügt, als „Betroffener“ angesehen werden oder ist nur der Netzbetreiber, der befugt ist, die Genehmigung des Kodex zu beantragen, betroffene Partei?

5.   Wie ist Art. 25 Abs. 11 der Richtlinie aus dem Jahr 2003 auszulegen, nach dem Beschwerden nach den Abs. 5 und 6 die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften möglichen Rechtsbehelfe unberührt lassen, wenn sich aus den Antworten auf die vorhergehenden Fragen ergibt, dass die Voraussetzungen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften enger sind als die, die sich aus der Richtlinie oder dem Gemeinschaftsrecht ergeben?

15.

Die Regierung der Republik Polen sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV – Prüfung

16.

Die fünf Fragen der Kúria reduzieren sich letztendlich auf zwei. Die erste betrifft die zeitliche Anwendbarkeit der Richtlinien 2003/55 und 2009/73 auf einen prozessualen Kontext. Die Antwort auf die erste Frage ermöglicht es, die restlichen vier Fragen in einer einzigen zusammenzufassen, um sich so auf die unionsrechtliche Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift, nach der Wirtschaftsteilnehmer des Gassektors nur klagebefugt sind, wenn sie ein „rechtliches Interesse“ haben, konzentrieren zu können. Ich werde beide Fragen getrennt behandeln.

A – Zur zeitlichen Anwendbarkeit der Richtlinien 2003/55 und 2009/73

17.

Die Kúria fragt den Gerichtshof, welche der beiden Richtlinien über den Erdgasmarkt auf einen Fall wie den vorliegenden anwendbar ist. Die Frage ist von Bedeutung, denn die Richtlinie 2009/73 enthält Verfahrensbestimmungen, die in der Richtlinie 2003/55 nicht vorhanden waren und die im Rahmen der Entscheidung über den vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis führen könnten.

18.

Nur die Kommission hat zu diesem Punkt Stellung genommen und sich für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/55, nicht aber der Richtlinie 2009/73 ausgesprochen. Der Zeitpunkt auf den abzustellen sei, sei der Erlass der Entscheidung der Regulierungsbehörde, also der 22. Februar 2010. Da die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2009/73 am 3. März 2011 geendet habe, zu dem gemäß Art. 53 der Richtlinie 2009/73 die Richtlinie 2003/55 aufgehoben worden sei, sei die im vorliegenden Fall einzig relevante Norm die Richtlinie 2003/55.

19.

Ich kann mich den Ausführungen der Kommission zum Referenzzeitpunkt, der der Tag des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts sei, nicht anschließen. Ich teile diesen Standpunkt nicht, denn die vorliegende Rechtssache wirft ein Problem der Klagebefugnis einer klagenden Partei auf, und bekanntermaßen ist sowohl nach den nationalen Rechtsordnungen als auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Fällen dieser Art relevanter Zeitpunkt die Einlegung des Rechtsmittels und nicht der Erlass des angefochtenen Rechtsakts ( 6 ). Ich bin daher der Ansicht, dass der Referenzzeitpunkt im vorliegenden Fall der 27. März 2010 ist, an dem nach Angaben der Kommission die Klage beim Fővárosi Bíróság erhoben wurde, und nicht der 22. Februar 2010.

20.

Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen war die Richtlinie 2003/55 am 27. März 2010 voll wirksam, während sich die Richtlinie 2009/73, wie sich aus der Akte ergibt, in Ungarn in der Umsetzungsphase befand. Die Kommission hat daher Recht, wenn sie ausführt, dass in der vorliegenden Rechtssache die Vorschriften der Richtlinie 2003/55 anwendbar sind.

21.

Nach dieser Feststellung könnte man sich fragen, ob die Richtlinie 2009/73 irgendeine Auswirkung auf die vorliegende Rechtssache hat, da es sich um einen Rechtsakt handelt, der bereits in Kraft war, wenngleich er sich noch in der Umsetzungsphase befand.

22.

Bekanntermaßen hat der Gerichtshof bei zahlreichen Gelegenheiten festgestellt, dass die Mitgliedstaaten, an die eine Richtlinie gerichtet ist, während der Frist für deren Umsetzung keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden ( 7 ). Da diese Verpflichtung zur Enthaltung sämtlichen nationalen Behörden obliegt, ist nach der Rechtsprechung davon auszugehen, dass sie sich auf den Erlass jeder allgemeinen oder spezifischen Maßnahme, die diese negative Folge haben könnte, bezieht ( 8 ).

23.

Die soeben angeführte Rechtsprechung bezieht sich aber auf positive Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die darauf gerichtet sind, das Ziel der Richtlinie ernstlich zu gefährden, und nicht auf das beim Inkrafttreten der Richtlinie bereits bestehende nationale Recht. Ziel der zitierten Rechtsprechung ist also kein anderes, als Maßnahmen zu verhindern, die nach dem Inkrafttreten der Richtlinie und vor dem Ablauf der Frist für ihre Umsetzung erlassen werden und deren Zweck darin besteht, rechtlich oder tatsächlich die Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele zu gefährden.

24.

In der vorliegenden Rechtssache geht es um eine Einzelfallentscheidung eines Gerichts, das eine ständige Rechtsprechung anwendet, nach der zur Bejahung der Klagebefugnis in einem Verwaltungsprozess ein rechtliches Interesse und nicht nur ein wirtschaftliches Interesse vorhanden sein muss. Es handelt sich also weder um eine Regelung noch um eine nationale Rechtsprechung, die spezifisch für die vorliegende Rechtssache geschaffen wurden.

25.

Darüber hinaus geht es in der vorliegenden Rechtssache um einen Sachverhalt, bei dem zwei Richtlinien zeitlich aufeinanderfolgen, so dass während der Umsetzungsperiode der Richtlinie 2009/73 bereits eine europäische Regelung vorhanden war, die anwendbar und vollständig in ungarisches Recht umgesetzt war.

26.

Vor diesem Hintergrund ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in der Vergangenheit bereits einige solcher Fälle entschieden hat. In der Rechtssache Hochtief ( 9 ) hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Verhandlungsverfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags, in dessen Verlauf die Frist zur Umsetzung einer neuen Richtlinie endete, unter Hinweis auf den Grundsatz der Rechtssicherheit festgestellt, dass diese Richtlinie nicht auf eine Entscheidung angewandt werden kann, die ein öffentlicher Auftraggeber bei der Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags vor Ablauf der Frist zu ihrer Umsetzung getroffen hat. Der Gerichtshof stützte sich in diesem Fall auf das in der Rechtssache Kommission/Frankreich ( 10 ) ergangene Urteil, in dem er festgestellt hatte, dass eine Richtlinie auf ein Verfahren, das vor dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist eingeleitet wurde, nicht angewandt werden kann ( 11 ).

27.

Angesichts der vorstehenden Ausführungen neige ich dazu, mich für die ausschließliche Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/55 auszusprechen, denn die Frage, die uns hier beschäftigt, betrifft den Zeitpunkt der Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage, zu dem die Klägerin nach ungarischem Recht ein „rechtliches Interesse“ nachweisen musste. Es muss nur noch geprüft werden, ob die Richtlinie 2009/73, als sie sich noch in der Umsetzungsphase befand und die Richtlinie 2003/55 noch in Kraft war, auf die ungarischen Vorschriften eine Auslegungswirkung haben konnte.

28.

Insoweit hat der Gerichtshof kategorisch festgestellt, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erst beginnt, wenn die Umsetzung in nationales Recht erfolgt ist (und daher veröffentlicht wird) oder, in Ermangelung einer Umsetzung, die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. In der Rechtssache Adeneler u. a. ( 12 ) hat sich die Große Kammer des Gerichtshofs mit dieser Frage beschäftigt und entschieden, dass „[b]ei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie … die allgemeine Verpflichtung der nationalen Gerichte, das innerstaatliche Recht richtlinienkonform auszulegen, daher erst ab Ablauf der Umsetzungsfrist [besteht]“ ( 13 ).

29.

Ich bin der Ansicht, dass dieser Gedanke umso zwingender ist, wenn Richtlinien aufeinanderfolgen und bereits eine europäische Regelung der Materie besteht, die eine mit der noch geltenden Richtlinie konforme Auslegung durch das nationale Gericht verlangt. Vom nationalen Gericht eine richtlinienkonforme Auslegung beider Richtlinien zu verlangen, deren Inhalte in zahlreichen Vorschriften voneinander abweichen, würde zu einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Rechtsunsicherheit führen, die abzulehnen ist.

30.

Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Vorlagefrage des ersuchenden Gerichts dahin zu beantworten, dass das nationale Gericht in einem Kontext wie dem des Ausgangsfalls angesichts des Zeitpunkts der Klageerhebung beim Gericht des ersten Rechtszugs ausschließlich die Richtlinie 2003/55 anwenden darf.

B – Zur nationalen Vorschrift, nach der die Klagebefugnis ein „rechtliches Interesse “ voraussetzt

1. Standpunkt der Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben

31.

Die Republik Polen und die Kommission – die einzigen Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben – gehen auf die Frage aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein.

32.

Für die Regierung der Republik Polen nimmt Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 2003/55, wenn er sich auf den „Betroffenen“ bezieht, nicht auf den Netzteilnehmer, sondern auf den Netzbetreiber Bezug. Daher sei der Artikel im vorliegenden Fall nicht anwendbar und folglich ergebe sich die Antwort auf die von der Kúria gestellten Fragen nicht aus den Vorschriften der Richtlinie.

33.

Nach Ansicht der Kommission regelt Art. 25 der Richtlinie 2003/55 sowohl in Abs. 5 als auch in Abs. 6 lediglich ein Recht auf eine Verwaltungsbeschwerde, nicht aber einen gerichtlichen Rechtsbehelf. Diese Auslegung werde anhand eines Vergleichs dieser Bestimmung mit dem Wortlaut der Richtlinie 2009/73 bestätigt, die ausdrücklich die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs bei den nationalen Gerichten vorsehe. Darüber hinaus sei die angegriffene Entscheidung, auch wenn sie grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2003/55 falle, nicht von der ungarischen Regulierungsbehörde als „Streitbeilegungsstelle“ erlassen worden. Daher sei Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie 2003/55 nicht anwendbar. Derselbe Schluss könne für Abs. 6 gezogen werden, der sich auf Entscheidungen über die Methoden im Sinne der Abs. 2, 3 und 4 desselben Artikels beziehe. Da es sich bei der angefochtenen Entscheidung um eine Maßnahme handele, die mit den in Abs. 2, 3 und 4 genannten nichts zu tun habe, sei auch Art. 25 Abs. 6 nicht anwendbar. Zusammenfassend ist die Kommission der Ansicht, dass die relevanten Bestimmungen der Richtlinie 2003/55 auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar seien.

34.

Wichtig erscheint mir, hervorzuheben, dass die Kommission, wenngleich subsidiär, auch zu der Entscheidung über den Fall im Licht der Richtlinie 2009/73 Stellung genommen hat. Es ist wichtig, diesen Punkt hervorzuheben, da die Kommission in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis gelangt ist, dass das nationale Gericht den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz Geltung verschaffen müsse, aber nicht infolge der Anwendbarkeit dieser Richtlinie, sondern aufgrund der Verordnung Nr. 715/2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen. Diese Verordnung verleiht den Wirtschaftsteilnehmern im Gassektor verschiedene Rechte, einschließlich des Rechts auf nicht diskriminierende und transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement. Obwohl die Kommission diesen Vorschlag für den Fall unterbreitet, dass die Richtlinie 2009/73 auf den konkreten Fall anwendbar ist, ist es wichtig, dies hervorzuheben, denn es ist im Rahmen der Analyse, die ich nun vornehmen werde, entscheidend.

2. Analyse

35.

Wie ich bereits in den Nrn. 19 bis 30 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ist auf den vorliegenden Fall grundsätzlich nur die sogenannte Zweite Richtlinie, die Richtlinie 2003/55, anwendbar. Sie wurde durch die Richtlinie 2009/73 aufgehoben, die im Unterschied zur Richtlinie 2003/55 zusätzliche Bestimmungen über die den Beteiligten zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsbehelfe enthält. Demnach zeichnet sich die im vorliegenden Fall anwendbare Richtlinie, die Richtlinie 2003/55, dadurch aus, dass sie hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten nur spärliche Regelungen enthält.

36.

Tatsächlich ist die einzige Bestimmung der Richtlinie 2003/55, die auf die Ausübung des Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs Bezug nimmt, Art. 25 Abs. 11. Diese Bestimmung verweist auf Abs. 5 und 6 desselben Artikels und ergänzt, dass Beschwerden in den dort geregelten Fällen „die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften möglichen Rechtsbehelfe unberührt“ lassen.

37.

Jedoch gehört, wie die Kommission ausgeführt hat, die im Ausgangsverfahren angegriffene Entscheidung nicht zu den in den genannten Abs. 5 und 6 geregelten Entscheidungen. Tatsächlich beziehen sich diese Bestimmungen auf von der Streitbelegungsstelle erlassene Entscheidungen bzw. auf Entscheidungen über die Methoden. In der vorliegenden Rechtssache ist nicht ersichtlich, dass es um eine dieser beiden Kategorien geht, so dass die Bestimmungen über Rechtsbehelfe in Abs. 11 im vorliegenden Fall nicht anwendbar sind.

38.

Der europäische Regelungsrahmen für den Gassektor ist aber erheblich weiter, denn er beschränkt sich nicht ausschließlich auf die zitierten Harmonisierungsbestimmungen. Die nationalen Regulierungsbehörden sowie die Netzbetreiber und ‑teilnehmer unterliegen den Bestimmungen mehrerer Verordnungen, unter denen für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache die Verordnung Nr. 1775/2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen hervorzuheben ist, die 2009 durch die zuvor zitierte Verordnung Nr. 715/2009 aufgehoben wurde.

39.

Die Verordnung Nr. 1775/2005 ist im vorliegenden Fall sachlich und zeitlich anwendbar, denn sie regelt gerade die Bedingungen, unter denen die Wirtschaftsteilnehmer Zugang zum Erdgasfernleitungsnetz haben, und war zudem bis zum 3. März 2011, an dem die Verordnung 715/2009 in Kraft getreten ist, wirksam ( 14 ).

40.

In Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 sind die Grundsätze für die Kapazitätszuweisungsmechanismen und die Verfahren für das Engpassmanagement, die für die Fernleitungsnetzbetreiber gelten, niedergelegt. Nach dieser Bestimmung haben alle Wirtschaftsteilnehmer das Recht, über die „größtmögliche Kapazität“ zu verfügen sowie „nicht diskriminierenden und transparenten“ Kapazitätszuweisungsmechanismen zu unterliegen. Diese Grundsätze richten sich sowohl an die Netzbetreiber als auch an die Regulierungsbehörden, die gemäß Art. 10 für „die Einhaltung“ der Verordnung Nr. 1775/2005 „sorgen“.

41.

Konkret bestimmt Art. 5 Abs. 5, dass sowohl die Fernleitungsnetzbetreiber als auch die Regulierungsbehörden im Fall physischer Engpässe „nicht diskriminierende, transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen“ anwenden. Es ist offensichtlich, dass, auch wenn Adressaten der Norm die Netzbetreiber und die Regulierungsbehörden sind, Begünstigte niemand anderes sind als die Netzteilnehmer, denen das Recht auf Entscheidungen über das Engpassmanagement, die anhand nicht diskriminierender und transparenter Kriterien getroffen werden, verliehen wird.

42.

An diesem Punkt angelangt bin ich der Meinung, dass Art. 5 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 im vorliegenden Fall ein Recht der Klägerin des Ausgangsverfahrens begründet, dass die Entscheidungen bezüglich des Engpassmanagements anhand nicht diskriminierender und transparenter Kriterien getroffen werden. Da es sich um ein – in diesem Fall der E.ON – durch das Unionsrecht unmittelbar verliehenes Recht handelt, muss Ungarn es über die nationalen gerichtlichen Verfahren gewährleisten, sicherlich nach Maßgabe seiner Verfahrensautonomie, aber unter Beachtung des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, wie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verlangt. Dieses Ergebnis fügt sich in eine umfangreiche und gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs ein.

43.

Bekanntermaßen entfaltet Art. 47 als Fortsetzung einer früheren Rechtsprechung, die in den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz sowie im allgemeinen Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zum Ausdruck kommt, seine Wirkungen gegenüber jeglichen nationalen Verfahrensbestimmungen, die darauf gerichtet sind, Rechtsschutz für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte zu gewährleisten ( 15 ). Dies umfasst offenkundig die nationalen Bestimmungen über die Klagebefugnis, soweit sie als relevante Filter für den Zugang zu den Gerichten der Mitgliedstaaten wirken.

44.

Die Voraussetzungen für den Zugang zu den Gerichten der Mitgliedstaaten sind für das Unionsrecht von besonderer Bedeutung. Deutlich wird dies an Art. 19 Abs. 1 EUV, wonach die Mitgliedstaaten „die erforderlichen Rechtsbehelfe“schaffen müssen, „damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“.

45.

Daher ist die Prüfung, ob die nationalen Kriterien für die Klagebefugnis, die das vorlegende Gericht anzweifelt, mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unter diesem Blickwinkel – dem des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – vorzunehmen ( 16 ).

46.

Bestehen Zweifel, ob eine nationale Verfahrensbestimmung mit den genannten Grundsätzen vereinbar ist, verlangt das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bekanntermaßen eine Prüfung unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen. Nach der Rechtsprechung sind dabei gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens ( 17 ).

47.

Die Anwendung des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auf die nationalen Voraussetzungen für die Klagebefugnis hat zu einer Reihe von Urteilen des Gerichtshofs geführt, die für das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren von Interesse sind.

48.

Im Jahr 2005 hat der Gerichtshof in der Rechtssache Streekgewest ( 18 ) festgestellt, dass eine nationale Entscheidung, mit der ein Rechtsbehelf eines Gemeindekonsortiums gegen die Entscheidung einer anderen Verwaltung über das Verbot der Durchführung einer für rechtswidrig erklärten Beihilfe für unzulässig erklärt wurde, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass „[e]in Einzelner … ein Interesse daran haben [kann], sich vor den nationalen Gerichten auf die unmittelbare Wirkung des Durchführungsverbots von Art. 93 Abs. 3 Satz 3 EG-Vertrag [jetzt Art. 108 Abs. 3 AEUV] zu berufen“ ( 19 ). Die nationale Entscheidung, mit der die Unzulässigkeit festgestellt wurde, verlangte vom Kläger, von einer durch die Beihilfemaßnahme herbeigeführten Wettbewerbsverfälschung betroffen zu sein. Der Gerichtshof vertrat aber eine andere Ansicht und führte aus: „Zu berücksichtigen ist nur der Umstand, dass er einer Abgabe unterworfen ist, die Bestandteil einer unter Verstoß gegen das in dieser Bestimmung [Art. 93 Abs. 3 Satz 3 EUV, jetzt Art. 108 Abs. 3 AEUV] enthaltene Verbot durchgeführten Beihilfemaßnahme ist“ ( 20 ).

49.

In der Rechtssache Hotel Loutraki u. a. ( 21 ), die im Jahr 2010 nach dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entschieden wurde, warf der Gerichtshof erneut einem Mitgliedstaat vor, die Anforderungen an die Klagebefugnis in einer Rechtssache, in der es um die Vergabe öffentlicher Aufträge ging, übermäßig restriktiv gefasst zu haben. Der klagende Bieter sah sich daran gehindert, bei den griechischen Gerichten den Ersatz des Schadens zu verlangen, den er wegen einer Verletzung des Unionsrechts durch einen Verwaltungsakt erlitten hatte, der den Ausgang des Verfahrens zur Vergabe des öffentlichen Auftrags beeinflusst haben könnte. Vor diesem Hintergrund stellte der Gerichtshof fest, dass „[e]inem solchen Bieter … damit der wirksame gerichtliche Schutz der Rechte genommen [wird], die ihm in diesem Bereich aus dem Unionsrecht erwachsen“ ( 22 ).

50.

Daraus ergibt sich, dass eine bloße Erwartung ausreichen kann, um eine bei den nationalen Gerichten erhobene verwaltungsgerichtliche Klage für unzulässig zu erklären. Dieses Ergebnis würde nicht gegen das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verstoßen. Ist das Interesse jedoch hinreichend qualifiziert und spiegelt es sich in einem Vermögensergebnis wider, verlangen ein durch das Unionsrecht verliehenes Recht und der erlittene wirtschaftliche Schaden zusammen betrachtet von den Mitgliedstaaten, den Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten.

51.

Um zu dem Fall zurückzukommen, den das ersuchende Gericht vorlegt: Aus den Akten ergibt sich, dass die Rechtsprechung der ungarischen Gerichte ein „rechtliches Interesse“ als Voraussetzung für die verwaltungsgerichtliche Klagebefugnis verlangt. Dieses Interesse steht dem bloßen wirtschaftlichen Schaden gegenüber, da Ersteres den Zugang zum Verwaltungsprozess gewährleistet, Letzterer aber nicht. Dem Vorlagebeschluss lässt sich entnehmen, dass E.ON weder mit dem Netzbetreiber noch mit der Regulierungsbehörde ein besonderes Rechtsverhältnis eingegangen ist – jedenfalls nicht in dem konkreten Punkt, der das Engpassmanagement betrifft –, das ausreichen würde, um das Interesse der Klägerin als „rechtlich“ einzustufen.

52.

Dieser Gedanke ist verschiedenen Mitgliedstaaten eigen, deren Systeme der Verwaltungsgerichtsbarkeit sich durch eine gewisse Strenge hinsichtlich der Voraussetzungen für die Klagebefugnis auszeichnen ( 23 ). Dies ist bei der Republik Polen der Fall, was ihre Beteiligung am vorliegenden Verfahren rechtfertigt.

53.

Es steht außer Zweifel, dass diese verwaltungsgerichtlichen Systeme nach Maßgabe der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten errichtet wurden, ohne dass das Unionsrecht allgemein irgendwelche Einwände gegenüber ihrer Funktionsweise erhoben hätte ( 24 ). Es ist legitim, dass die Mitgliedstaaten für Einzelpersonen oder Gruppen, die unmittelbar von bestimmten öffentlichen Entscheidungen betroffen sind, eine gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns gewährleisten, während sich andere Mitgliedstaaten für offenere Systeme entschieden. In Einzelfällen, wie etwa im Kontext des Umweltrechts, kann das Unionsrecht von einigen Mitgliedstaaten bestimmte Anpassungen verlangen, aber insgesamt lebt die europäische Rechtsordnung friedlich mit unterschiedlichen nationalen verwaltungsgerichtlichen Systemen zusammen.

54.

Im vorliegenden Fall bin ich der Ansicht, dass E.ON aufgrund der Richtlinie 2003/55 kein Recht geltend machen konnte, denn sie war zwar zeitlich anwendbar, enthält aber in sachlicher Hinsicht keine Bestimmungen, um über den von der Kúria vorgelegten spezifischen Fall entscheiden zu können.

55.

Jedoch genießt E.ON, wie bereits gesagt, ein Recht gemäß Art. 5 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005. Diese Bestimmung gewährleistet, dass Entscheidungen über physische Engpässe nach den Grundsätzen der Transparenz und der Nichtdiskriminierung getroffen werden. E.ON ficht genau eine solche Entscheidung an, denn sie betrifft die Kriterien für die freie Kapazität im Gasjahr. Daher meine ich, dass E.ON nicht nur ein durch die Verordnung Nr. 1775/2005 verliehenes Recht genießt, sondern auch Vermögensinteressen hatte, die offensichtlich auf dem Spiel standen. Beides zusammen lässt mich zu dem Ergebnis gelangen, dass die Entscheidung, die Klagebefugnis von E.ON wegen fehlenden „rechtlichen Interesses“ zu verneinen, bei einer Gegenüberstellung mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz schwerlich mit diesem Recht zu vereinbaren ist.

56.

Allerdings ist es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, zur Gültigkeit einer allgemeinen nationalen Voraussetzung für die Klagebefugnis Stellung zu nehmen oder dem nationalen Gericht seine Funktion als Garant und Interpret des nationalen Rechts zu entziehen. Es ist Sache der Kúria, die Auslegung der nationalen Rechtsordnung zu finden, die es ermöglicht, sie mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen. Der Gerichtshof unterstützt das vorlegende Gericht lediglich bei der Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften.

57.

Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass Art. 5 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Voraussetzung für die Klagebefugnis entgegensteht, wie sie in der vorliegenden Rechtssache angewandt wurde, die auf einem „rechtlichen Interesse“ beruht, das einen Teilnehmer am Erdgasmarkt, der eine Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde anfechten will, vom Zugang zu den Verwaltungsgerichten ausschließt.

V – Ergebnis

58.

Im Licht des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen der Kúria folgendermaßen zu beantworten:

1.

In einem Kontext wie dem des Ausgangsfalls darf das nationale Gericht angesichts des Zeitpunkts der Klageerhebung beim Gericht des ersten Rechtszugs ausschließlich die Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG anwenden.

2.

Art. 5 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer Voraussetzung für die Klagebefugnis entgegensteht, wie sie in der vorliegenden Rechtssache angewandt wurde, die auf einem „rechtlichen Interesse“ beruht, das einen Teilnehmer am Erdgasmarkt, der eine Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde anfechten will, vom Zugang zu den Verwaltungsgerichten ausschließt.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57).

( 3 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. L 211, S. 94).

( 4 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 (ABl. L 289, S. 1).

( 5 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 (ABl. L 211, S. 36).

( 6 ) Vgl. u. a. Urteile Campogrande/Kommission (60/72, EU:C:1973:50, Rn. 4) und Bensider u. a./Kommission (50/84, EU:C:1984:365, Rn. 8).

( 7 ) Vgl. Urteile Inter-Environnement Wallonie (C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 45), Stichting Natuur en Milieu u. a. (C‑165/09 bis C‑167/09, EU:C:2011:348, Rn. 78) und Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u. a. (C‑43/10, EU:C:2012:560, Rn. 57).

( 8 ) Ebd.

( 9 ) Urteil Hochtief und Linde-Kca-Dresden (C‑138/08, EU:C:2009:627).

( 10 ) C‑337/98, EU:C:2000:543.

( 11 ) Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2000:543, Rn. 38 bis 40).

( 12 ) C‑212/04, EU:C:2006:443.

( 13 ) A. a. O., Rn. 115 (Hervorhebung nur hier).

( 14 ) Art. 32 der Verordnung Nr. 715/2009.

( 15 ) Vgl. Art. 51 der Charta, der ihren Anwendungsbereich auf Situationen beschränkt, bei der die Staaten im Rahmen der „Durchführung des Rechts der Union“ handeln. Die neueste Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere zum Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist insoweit bezeichnend. Vgl. u. a. die Urteile DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811), Samba Diouf (C‑69/10, EU:C:2011:524) und Sánchez Morcillo (C‑169/14, EU:C:2014:2099).

( 16 ) Diese weite Verständnis des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der auch die bekannten Grundsätze der Effektivität und Äquivalenz umfasst, wird von anderen Generalanwälten geteilt. Generalanwalt Bot hat dies in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Agrokonsulting (C‑93/12, EU:C:2013:172, Nr. 36) ebenso wie Generalanwalt Jääskinen in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Liivimaa Lihaveis (C‑562/12, EU:C:2014:155, Nr. 47) zum Ausdruck gebracht.

( 17 ) Urteil Tele 2 Telecommunication (C‑426/05, Rn. 55, und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache T‑Mobile Austria (C‑282/13, EU:C:2014:2179).

( 18 ) C‑174/02, EU:C:2005:10.

( 19 ) Ebd. (Rn. 19).

( 20 ) Ebd.

( 21 ) C‑145/08, EU:C:2010:247.

( 22 ) Ebd. (Rn. 78).

( 23 ) Zu dieser Frage wird in der Untersuchung von Eliantonio, M., Backes, C., van Rhee, C. H., Spronken, T., und Berlee, A., Standing up for your right(s) in Europe. A comparative study on Legal Standing (Locus Standi) before the EU and Member States’ Courts, Intersentia, 2013, sehr deutlich Stellung genommen

( 24 ) Vgl. z. B. die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Fall Deutschlands und der Vereinbarkeit seiner Regelungen über die verwaltungsgerichtliche Klagebefugnis mit dem internationalen und europäischen Rahmen, der durch das Aarhus-Übereinkommen vorgegeben wird, und konkret seiner Bestimmungen über den Zugang zur Rechtsprechung: Urteile Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Nordrhein‑Westfalen (C‑115/09, EU:C:2011:289, Rn. 43) und Gemeinde Altrip u. a. (C‑72/12, EU:C:2013:712, Rn. 45).