SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 11. Juni 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑310/13

Novo Nordisk Pharma GmbH

gegen

S.

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

„Verbraucherschutz — Haftung für fehlerhafte Produkte — Anwendungsbereich der Richtlinie 85/374/EWG — Ausschluss der besonderen Haftungsregelung, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie bestand — Zulässigkeit einer nationalen Haftungsregelung, die insbesondere einen Anspruch auf Auskunft über die Nebenwirkungen von Arzneimitteln vorsieht“

Einleitung

1.

Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ( 2 ) zu ergänzen. Zum ersten Mal wird diese Auslegung eine Haftungsregelung betreffen, bei der es sich tatsächlich um „eine zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie bestehende besondere Haftungsregelung“ im Sinne der genannten Bestimmung handelt. Der Bundesgerichtshof, die höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, ersucht um die Beantwortung einer Frage zum Ersatz eines Schadens, der durch die Fehlerhaftigkeit eines Arzneimittels verursacht worden ist.

2.

Damit dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort gegeben werden kann, ist jedoch eine Prüfung erforderlich, die über die Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374 hinausgeht und den Charakter der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie erfolgten Harmonisierung sowie ihren Anwendungsbereich betrifft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3.

Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Richtlinie 85/374 lauten:

„Eine Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit seiner Produkte verursacht worden sind, ist erforderlich, weil deren Unterschiedlichkeit den Wettbewerb verfälschen, den freien Warenverkehr innerhalb des Gemeinsamen Marktes beeinträchtigen und zu einem unterschiedlichen Schutz des Verbrauchers vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch ein fehlerhaftes Produkt führen kann.

Nur bei einer verschuldensunabhängigen Haftung des Herstellers kann das unserem Zeitalter fortschreitender Technisierung eigene Problem einer gerechten Zuweisung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken in sachgerechter Weise gelöst werden.“

4.

Der 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestimmt am Ende:

„Soweit in einem Mitgliedstaat ein wirksamer Verbraucherschutz im Arzneimittelbereich auch bereits durch eine besondere Haftungsregelung gewährleistet ist, müssen Klagen aufgrund dieser Regelung ebenfalls weiterhin möglich sein.“

5.

Im 18. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie heißt es:

„Mit dieser Richtlinie lässt sich vorerst keine vollständige Harmonisierung erreichen, sie öffnet jedoch den Weg für eine umfassendere Harmonisierung.“

6.

Die Art. 1, 4 und 13 der Richtlinie 85/374 bestimmen:

„Artikel 1

Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist.

Artikel 4

Der Geschädigte hat den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen.

Artikel 13

Die Ansprüche, die ein Geschädigter aufgrund der Vorschriften über die vertragliche und außervertragliche Haftung oder aufgrund einer zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie bestehenden besonderen Haftungsregelung geltend machen kann, werden durch diese Richtlinie nicht berührt.“

Deutsches Recht

7.

Die Richtlinie 85/374 wurde durch das Produkthaftungsgesetz vom 15. Dezember 1989 ( 3 ) (Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte, im Folgenden: ProdHaftG) in deutsches Recht umgesetzt. § 15 Abs. 1 ProdHaftG schließt allerdings Arzneimittel aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes aus, indem er bestimmt:

„Wird infolge der Anwendung eines zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels, das im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist, jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt, so sind die Vorschriften des Produkthaftungsgesetzes nicht anzuwenden.“

8.

Die Haftung für fehlerhafte Arzneimittel, die zum Gebrauch bei Menschen bestimmt sind, regelt nämlich ein anderer Rechtsakt, und zwar das Arzneimittelgesetz vom 24. August 1976 ( 4 ) (Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln, im Folgenden: AMG). § 84 AMG in der im Ausgangsverfahren geltenden Fassung bestimmt:

„(1)   Wird infolge der Anwendung eines zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels, das im Geltungsbereich dieses Gesetzes an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist, ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen nicht unerheblich verletzt, so ist der pharmazeutische Unternehmer, der das Arzneimittel im Geltungsbereich dieses Gesetzes in den Verkehr gebracht hat, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht besteht nur, wenn

1.

das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen oder

2.

der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist.

(2)   Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich nach der Zusammensetzung und der Dosierung des angewendeten Arzneimittels, nach der Art und Dauer seiner bestimmungsgemäßen Anwendung, nach dem zeitlichen Zusammenhang mit dem Schadenseintritt, nach dem Schadensbild und dem gesundheitlichen Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen. Die Vermutung gilt nicht, wenn ein anderer Umstand nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Ein anderer Umstand liegt nicht in der Anwendung weiterer Arzneimittel, die nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet sind, den Schaden zu verursachen, es sei denn, dass wegen der Anwendung dieser Arzneimittel Ansprüche nach dieser Vorschrift aus anderen Gründen als der fehlenden Ursächlichkeit für den Schaden nicht gegeben sind.

(3)   Die Ersatzpflicht des pharmazeutischen Unternehmers nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 ist ausgeschlossen, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels ihre Ursache nicht im Bereich der Entwicklung und Herstellung haben.“

9.

§ 84a AMG bestimmt:

„(1)   Liegen Tatsachen vor, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel den Schaden verursacht hat, so kann der Geschädigte von dem pharmazeutischen Unternehmer Auskunft verlangen, es sei denn, dies ist zur Feststellung, ob ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 84 besteht, nicht erforderlich. Der Anspruch richtet sich auf dem pharmazeutischen Unternehmer bekannte Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sowie ihm bekannt gewordene Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Bedeutung sein können. Die §§ 259 bis 261 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind entsprechend anzuwenden. Ein Auskunftsanspruch besteht insoweit nicht, als die Angaben auf Grund gesetzlicher Vorschriften geheim zu halten sind oder die Geheimhaltung einem überwiegenden Interesse des pharmazeutischen Unternehmers oder eines Dritten entspricht.

(2)   Ein Auskunftsanspruch besteht unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch gegenüber den Behörden, die für die Zulassung und Überwachung von Arzneimitteln zuständig sind. Die Behörde ist zur Erteilung der Auskunft nicht verpflichtet, soweit Angaben auf Grund gesetzlicher Vorschriften geheim zu halten sind oder die Geheimhaltung einem überwiegenden Interesse des pharmazeutischen Unternehmers oder eines Dritten entspricht.“

10.

Die in § 84 Abs. 2 AMG aufgestellte Vermutung eines Kausalzusammenhangs und der Auskunftsanspruch nach § 84a AMG wurden durch das zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz vom 19. Juli 2002 ( 5 ) eingeführt, das am 1. August 2002 in Kraft trat.

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

11.

Die in Deutschland wohnhafte S. erlitt eine erhebliche Gesundheitsschädigung, nachdem in den Jahren 2004 bis 2006 das von der Novo Nordisk Pharma GmbH (im Folgenden: Novo Nordisk) unter der Bezeichnung Levemir in den Verkehr gebrachte Arzneimittel bei ihr angewendet worden war.

12.

Daraufhin erhob S. beim Landgericht Berlin Klage gegen Novo Nordisk auf Schadensersatz und Auskunftserteilung gemäß § 84a Abs. 1 AMG. Mit Teilurteil vom 25. August 2010 gab das genannte Gericht der Auskunftsklage statt. Mit Urteil vom 30. August 2011 wies das Kammergericht Berlin die Berufung von Novo Nordisk gegen diese Entscheidung zurück. Novo Nordisk legte dagegen Revision beim Bundesgerichtshof (vorlegendes Gericht) ein; die Revision betrifft wie die in der ersten Instanz ergangene Entscheidung und das Berufungsverfahren den Auskunftsanspruch.

13.

Der Bundesgerichtshof hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 84 Abs. 2 AMG und § 84a AMG mit der Richtlinie 85/374. Da er der Auffassung ist, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung von Art. 13 der Richtlinie im Kontext des Auskunftsanspruchs nach § 84a AMG abhängt, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 13 der Richtlinie 85/374/EWG dahin auszulegen, dass die deutsche Arzneimittelhaftung als „besondere Haftungsregelung“ durch diese Richtlinie allgemein nicht berührt wird, mit der Folge, dass das nationale arzneimittelrechtliche Haftungssystem weiterentwickelt werden kann,

oder

ist die Regelung dahin zu verstehen, dass die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie (30. Juli 1985) bestehenden arzneimittelrechtlichen Haftungstatbestände nicht ausgedehnt werden dürfen?

14.

Der Vorlagebeschluss ist am 6. Juni 2013 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Schriftliche Erklärungen haben S., die tschechische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission eingereicht. In der Sitzung vom 26. März 2014 waren S., die deutsche Regierung und die Kommission vertreten.

Würdigung

15.

Die Vorlagefrage ist zwar in Form von Alternativen formuliert, aber als einheitliche Frage zu sehen. Sie betrifft die Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374. Dieser Auslegung muss aber eine allgemeinere Betrachtung des Umfangs der durch die Richtlinie vorgenommenen Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vorangehen. Damit dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort gegeben werden kann, ist es nach meiner Auffassung auch erforderlich, aus dem Blickwinkel der genannten Richtlinie nationale Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden deutschen zu prüfen, also Vorschriften, die den Anspruch des Geschädigten gegen den Hersteller des fehlerhaften Produkts auf Erteilung bestimmter Auskünfte betreffen.

Ziel und Charakter der durch die Richtlinie 85/374 vorgenommenen Harmonisierung

Ziel der Richtlinie 85/374

16.

Unter dem Gesichtspunkt des Unionsrechts wurde die Richtlinie 85/374 entsprechend ihrem ersten Erwägungsgrund erlassen, um Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs innerhalb des Gemeinsamen Marktes sowie einen unterschiedlichen Schutz der Verbraucher vor Schädigungen durch fehlerhafte Produkte zu verhindern. Diese nachteiligen Erscheinungen beruhten demselben Erwägungsgrund der Richtlinie zufolge auf der Unterschiedlichkeit der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung der Hersteller für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit ihrer Produkte verursacht wurden.

17.

Auf dieses Ziel der Richtlinie 85/374 deutet auch der Umstand hin, dass sie auf der Rechtsgrundlage von Art. 100 EWG-Vertrag (jetzt Art. 115 AEUV) erlassen wurde, der den Erlass von Richtlinien „für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten [erlaubt], die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken“ (nunmehr des Binnenmarkts).

18.

Unter dem Gesichtspunkt der axiologischen und ökonomischen Prämissen, die dem Erlass der Richtlinie 85/374 zugrunde lagen, soll sie einer gerechten Zuweisung des mit der massenhaften, industriellen Produktion von Waren in der heutigen Welt verbundenen Risikos dienen. Es geht nicht nur darum, dass dieses Risiko den Herstellern der Waren statt den eventuell durch deren Gebrauch Geschädigten auferlegt wird, sondern dass dies in einer Weise erfolgt, die nicht die technische Entwicklung hemmt und den Verbrauchern nicht einen immer breiter werdenden Zugang zu verhältnismäßig billigen Gütern versperrt. Daher erlaubt die in der Richtlinie aufgestellte Haftungsregelung in erster Linie die Abwälzung des Risikos von den einzelnen geschädigten Verbrauchern auf die Hersteller von Waren und ermöglicht in zweiter Linie den Herstellern, das Risiko auf alle Verbraucher zu verteilen, indem sie die Kosten dieser Haftung oder die etwaigen Versicherungskosten in den Preis ihrer Produkte einberechnen ( 6 ).

19.

Nach meiner Ansicht liegt auf der Hand, dass die Erreichung dieser Ziele die Berücksichtigung der einzelnen Interessen erfordert, um die es hier gehen kann. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, „sind die vom [Unions]gesetzgeber vorgenommenen Abgrenzungen des Geltungsbereichs der Richtlinie [85/374] das Ergebnis einer komplexen Abwägung der verschiedenen Interessen. … [D]iese Interessen [umfassen] die Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs, die Erleichterung des Handels innerhalb des Gemeinsamen Marktes, den Verbraucherschutz und das Bemühen um eine geordnete Rechtspflege“ ( 7 ). Meines Erachtens kann dieser Standpunkt nicht nur in Bezug auf den Anwendungsbereich der Richtlinie vertreten werden, sondern auch in Bezug auf die sich aus ihr ergebenden Rechte und Pflichten ( 8 ).

20.

Dies führt zu dem Schluss, dass der Verbraucherschutz im Allgemeinen, insbesondere die Erreichung des höchstmöglichen Schutzniveaus, nicht das einzige Ziel, ja nicht einmal das Hauptziel der Richtlinie 85/374 ist. Es ist nur einer von mehreren gleichrangigen Aspekten der Abwägung, die der Gesetzgeber mit Hilfe dieses Rechtsakts vorzunehmen beabsichtigte ( 9 ).

Charakter der durch die Richtlinie 85/374 vorgenommenen Harmonisierung

21.

Nach ihrem 18. Erwägungsgrund hat die Richtlinie 85/374 keine vollständige Harmonisierung vorgenommen, eröffnet aber den Weg für eine umfassendere Harmonisierung. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Feststellung allerdings auf den von der Harmonisierung umfassten Fragenkomplex zu beziehen. Sie bedeutet hingegen nicht, dass die Mitgliedstaaten frei darin sind, Vorschriften zu erlassen, die von den Regelungen der Richtlinie abweichen. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die genannte Richtlinie „für die in ihr geregelten Punkte eine vollständige Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten [bezweckt]“ ( 10 ). Für diesen Standpunkt sprechen vor allem die folgenden Argumente: die Rechtsgrundlage der Richtlinie (Art. 100 EWG-Vertrag), die den Mitgliedstaaten keine Abweichungen von den auf ihrer Grundlage erlassenen Harmonisierungsrechtsakten gestattet, das Fehlen typischer Bestimmungen in der Richtlinie, die den Mitgliedstaaten den Erlass von weiter gehenden Vorschriften in ihrer nationalen Rechtsordnung erlauben, und schließlich die in ihr vorgesehenen alternativen Regelungen für bestimmte Fälle, die nicht erforderlich wären, wenn die Mitgliedstaaten generell befugt wären, Abweichungen von der Richtlinie einzuführen ( 11 ).

22.

In der Folgezeit hat der Gerichtshof entschieden, dass, „auch wenn die Richtlinie 85/374 … für die in ihr geregelten Punkte eine vollständige Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten bezweckt, sie, wie aus ihrem 18. Erwägungsgrund hervorgeht, doch nicht den Bereich der Haftung für fehlerhafte Produkte über die betreffenden Punkte hinaus abschließend harmonisieren [soll]“ ( 12 ).

23.

Welche Schlüsse sind aus dieser Rechtsprechung in Bezug auf den Charakter der durch die Richtlinie 85/374 vorgenommenen Harmonisierung zu ziehen? Ich sehe in der vorliegenden Rechtssache keine Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen einer umfassenden, einer vollständigen, einer erschöpfenden und einer maximalen Harmonisierung zu erörtern – was unter theoretischen Gesichtspunkten sicherlich sehr interessant wäre –, zumal diese Begriffe auch in der Rechtslehre nicht einheitlich verstanden werden ( 13 ). Es genügt die Feststellung, dass die Richtlinie eine Reihe von Grundsätzen aufstellt, auf denen die Regelungen der sogenannten „Produkthaftung“ in den Mitgliedstaaten beruhen müssen, also der verschuldensunabhängigen Haftung der Hersteller (und akzessorisch einiger anderer Personen) für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit ihrer Produkte verursacht wurden. Die Mitgliedstaaten dürfen in ihrer nationalen Rechtsordnung, mit Ausnahmen der in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Fälle, keine Abweichungen von diesen Grundsätzen einführen und auch keine Bestimmungen anwenden, die für die eine oder die andere Gruppe von Betroffenen restriktiver oder weniger restriktiv sind. Zugleich erfordert jedoch das Funktionieren dieser Haftungsregelung die Anwendung anderer nationaler Vorschriften.

24.

Zweifelsfrei stützt sich nämlich der Geschädigte, der seine Ansprüche in einem Mitgliedstaat geltend macht, nicht nur auf die Vorschriften, die die Richtlinie umsetzen, sondern auch auf andere Bestimmungen, die in diesem Staat gelten. Bei diesen letztgenannten Bestimmungen handelt es sich nach meiner Ansicht um zwei Arten nationaler Regelungen. Erstens sieht die Richtlinie 85/374 selbst in einigen Fällen die Möglichkeit der Anwendung innerstaatlicher Vorschriften vor, die außerhalb des Harmonisierungsbereichs liegen. Dies betrifft beispielsweise die Vorschriften über die gesamtschuldnerische Haftung (Art. 5), die Rückgriffsrechte (Art. 5 und 8 Abs. 1), die Mitverursachung des Schadens durch den Geschädigten (Art. 8 Abs. 2) und die Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung (Art. 10 Abs. 2). Zweitens habe ich keine Zweifel, dass selbst in den Fällen, in denen die Richtlinie 85/374 nicht ausdrücklich auf das Recht des Mitgliedstaats verweist, die Anwendung der nationalen Regelungen sich als unentbehrlich erweisen kann. Dies betrifft beispielsweise die Regelungen (materieller und prozessualer Art) zur Feststellung der Schadenshöhe, die tatsächlichen Vermutungen, die Frage der Übertragbarkeit des Schadensersatzanspruchs, insbesondere seiner Vererbbarkeit, oder auch die Maßnahmen, die das nationale Gericht zur Schadensvermeidung anordnen darf. In Anbetracht dieser Umstände ist anzunehmen, dass die in der Richtlinie 85/374 vorgesehene Harmonisierung in dem Sinne nicht „vollständig“ ist, dass die Vorschriften, die sie umsetzen, nicht alle Gesichtspunkte der Haftung für einen durch ein fehlerhaftes Produkt verursachten Schaden regeln ( 14 ).

25.

Daher ist zu überlegen, welche Rolle Art. 13 innerhalb der Logik und der Systematik der Richtlinie 85/374 spielt und wie er deswegen im Kontext des vom vorlegenden Gericht eingereichten Vorabentscheidungsersuchens auszulegen ist.

Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374

26.

Art. 13 der Richtlinie 85/374 regelt das Verhältnis der Richtlinie zu anderen Regelungen über die Haftung für ein fehlerhaftes Produkt, die möglicherweise in den Mitgliedstaaten gelten. Es geht um drei Arten der Haftung: vertragliche Haftung, außervertragliche Haftung einer anderen Art als die durch die Richtlinie eingeführte verschuldensunabhängige Haftung (in der Praxis kann es dabei vor allem um Haftung gehen, die ein Verschulden voraussetzt) ( 15 ) und die „zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie bestehende besondere Haftungsregelung“. Es ist unstreitig und wurde im Übrigen von der Kommission in der Sitzung bestätigt, dass der letzte Teil der in Rede stehenden Bestimmung sich in Wirklichkeit nur auf die deutsche Haftungsregelung für fehlerhafte Arzneimittel im AMG bezieht, die schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie 85/374 bestand ( 16 ). Dieser letzte Teil der sich aus Art. 13 der Richtlinie ergebenden Regelung ist in der vorliegenden Rechtssache der Gegenstand der Auslegung.

27.

Das vorlegende Gericht ersucht im Grunde um die Feststellung, ob sich aus Art. 13 der Richtlinie 85/374 ergibt, dass die Haftungsregelung für fehlerhafte Arzneimittel in Deutschland vollständig von der Harmonisierung ausgeschlossen ist, die durch diese Richtlinie vorgenommen wurde. Diese Schlussfolgerung wäre meiner Ansicht nach zu weitgehend. Darauf weisen sowohl der Wortlaut als auch die Logik von Art. 13 der Richtlinie hin.

Regelung gemäß Art. 13 der Richtlinie 85/374

28.

Nach Art. 13 der Richtlinie 85/374 werden „die Ansprüche, die ein Geschädigter aufgrund … geltend machen kann, … durch diese Richtlinie nicht berührt“. Dies weist nach meiner Ansicht darauf hin, dass die in dieser Bestimmung genannten Haftungsregelungen im Verhältnis zur Haftungsregelung der Richtlinie ergänzenden Charakter haben. Art. 13 sieht keine Ausnahme von der Richtlinie zugunsten anderer Haftungsregelungen vor, sondern ermöglicht den Geschädigten lediglich, Ansprüche, die sich aus anderen Haftungsregelungen ergeben, unabhängig von den Ansprüchen geltend zu machen, die ihnen kraft der Richtlinie zustehen. Dies ist ziemlich offensichtlich, soweit es um die vertragliche Haftung und eine außervertragliche Haftung aus anderem Grund als die durch die Richtlinie eingeführte Haftung geht.

29.

Dieselbe Formulierung bezieht sich auch auf die deutsche Haftungsregelung für fehlerhafte Arzneimittel, und ich sehe keinen Grund, sie in diesem Fall anders auszulegen. Die Gleichbehandlung aller Haftungsregelungen im Sinne von Art. 13 der Richtlinie 85/374 bestätigt auch der 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, wonach „Klagen aufgrund dieser Regelung [d. h. aufgrund der Haftungsregelung des AMG] ebenfalls [wie Klagen aufgrund einer Regelung über die vertragliche und außervertragliche Haftung] weiterhin möglich sein [müssen]“. Weder in Art. 13 der Richtlinie 85/374 noch in ihrem 13. Erwägungsgrund ist die Rede davon, die durch diese Richtlinie eingeführte Haftungsregelung durch eine schon bestehende andere Regelung zu ersetzen, vielmehr sollen lediglich die Ansprüche aufrechterhalten werden, die sich für die Geschädigten aus dieser anderen Regelung ergeben. Wenn Art. 13 der Richtlinie 85/374 also bestimmt, dass diese Richtlinie „die Ansprüche, die ein Geschädigter aufgrund“ u. a. der deutschen Haftungsregelung des AMG „geltend machen kann, … nicht berührt“ ( 17 ), dann ist diese Formulierung wörtlich und eng zu verstehen und nicht als eine allgemeine Abweichung von dieser Richtlinie.

30.

Ein zweiter wesentlicher Aspekt der Bestimmung in Art. 13 der Richtlinie 85/374 in Bezug auf die besondere Haftungsregelung ist die Aussage, dass es um eine „zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie bestehende“ besondere Haftungsregelung geht. Dieser Vorbehalt bezieht sich nur auf diese besondere Haftungsregelung und nicht auf die ebenfalls in Art. 13 erwähnten Regelungen über die vertragliche und außervertragliche Haftung. Das bedeutet, dass die Ansprüche aus einer Regelung über die vertragliche und außervertragliche Haftung unabhängig davon unberührt bleiben, ob die betreffende Regelung vor oder nach der Bekanntgabe der Richtlinie eingeführt wurde. Diese Regelungen – die auf einer anderen Haftungsgrundlage als die verschuldensunabhängige Haftung beruhen – bleiben nämlich außerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie, die eine Haftungsregelung einführt, die kein Verschulden voraussetzt ( 18 ). Ansprüche aus einer besonderen Haftungsregelung – die wie die Haftungsregelung der Richtlinie auf dem Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung beruht – bleiben dagegen nur dann unberührt, wenn diese Regelung früher als die Richtlinie in Kraft war. Diese Lösung erscheint mit offenkundig, da die Bestimmungen der Richtlinie überflüssig wären, wenn daneben im nationalen Recht eine weitere Regelung über eine verschuldensunabhängige Haftung zugelassen wäre.

31.

Wie ich in den Nrn. 28 und 29 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, betrifft die in Art. 13 der Richtlinie 85/374 vorgesehene Abweichungsmöglichkeit allerdings nicht die dort genannten Haftungsregelungen, sondern die Ansprüche der Geschädigten, die sich aus diesen Regelungen ergeben. Daher ist die Bestimmung, die die besondere Haftungsregelung betrifft, dahin auszulegen, dass sie sich nicht nur auf die Regelung bezieht, die zum Zeitpunkt der Bekanntmachung der Richtlinie bestand, sondern auch auf die Ansprüche, die sich zur selben Zeit aus dieser Regelung ergaben.

32.

Ich halte dabei das von der deutschen Regierung und der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachte Argument nicht für überzeugend, wonach die Verwendung des Begriffs „Haftungsregelung“ durch den Gesetzgeber in Art. 13 der Richtlinie 85/374 darauf hinweise, dass damit alle Vorschriften gemeint seien, die Teil der Regelung seien, unabhängig davon, ob sie zum Zeitpunkt der Bekanntmachung der Richtlinie bereits in Kraft gewesen seien oder erst später eingeführt worden seien. Die Auslegung von Art. 13 ist nämlich unter Berücksichtigung des gesamten Wortlauts dieser Bestimmung vorzunehmen, in der aber ausdrücklich von Ansprüchen aufgrund einer zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie bestehenden Regelung gesprochen wird.

Das Wesen des Anspruchs aus Art. 13 der Richtlinie 85/374

33.

Wozu berechtigt Art. 13 der Richtlinie 85/374 Deutschland also? Das Urteil González Sánchez ( 19 ) gibt Aufschluss darüber. In dieser Rechtssache ging es um eine Haftungsregelung für durch Produkte und Dienstleistungen verursachte Schäden, die in Spanien vor der Bekanntmachung der Richtlinie 85/374 galt. Diese Regelung beruhte ähnlich wie die Regelung der Richtlinie auf einer verschuldensunabhängigen Haftung. Nach dem Beitritt Spaniens zu den Europäischen Gemeinschaften und der Umsetzung der Richtlinie durch diesen Mitgliedstaat wurde die frühere Regelung, die als für die Geschädigten vorteilhafter angesehen wurde ( 20 ), beibehalten, jedoch unter Ausschluss der Produkte, die unter die Regelung der Richtlinie fielen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens widersprach dieser Vorgehensweise, da sie die Ansprüche der Verbraucher im Verhältnis zum Stand der Zeit vor der Umsetzung der Richtlinie einschränkte, und verlangte die Anwendung der früheren Regelung ihr gegenüber. Dies sei auf der Grundlage von Art. 13 der Richtlinie 85/374 gerechtfertigt. Der Gerichtshof schloss diese Möglichkeit aus. Er stellte fest, dass erstens die spanische Haftungsregelung weder als vertragliche oder außervertragliche Haftung noch als eine besondere Haftungsregelung anzusehen ist, da Letztere nur einen bestimmten Produktionssektor betreffen kann, während die spanische Regelung allgemeiner Natur ist. Das Bestehen einer solchen Regelung neben der Regelung der Richtlinie ist aber unzulässig ( 21 ). Zusammenfassend befand der Gerichtshof, dass „die Ansprüche, die den durch ein fehlerhaftes Produkt Geschädigten nach dem Recht eines Mitgliedstaats aufgrund einer allgemeinen Haftungsregelung zustehen, die auf derselben Grundlage beruht wie die durch die Richtlinie [85/374] eingeführte Regelung, infolge der Umsetzung der Richtlinie in das innerstaatliche Recht des betreffenden Staates eingeschränkt sein können“ ( 22 ). Daher musste Spanien, obwohl es eine Produkthaftungsregelung hatte, die älter als die Richtlinie 85/374 war, ihre Anwendung in Bezug auf Produkte ausschließen, die unter die Richtlinie fielen.

34.

Die Regelung des AMG wird hingegen vom Anwendungsbereich des Art. 13 der Richtlinie 85/374 erfasst, da diese Regelung auf einen bestimmten Produktionssektor beschränkt ist, so dass sie nach der Umsetzung dieser Richtlinie in deutsches Recht weder außer Kraft gesetzt noch angepasst werden musste. Art. 13 der Richtlinie 85/374 erlaubte es Deutschland demnach, die Ansprüche der Geschädigten, die sich aus den Bestimmungen des AMG ergeben und über die in der Richtlinie vorgesehenen Ansprüche hinausgehen, ohne Einschränkungen bestehen zu lassen. Dies war auch der Zweck der Einführung dieses Teils von Art. 13 der Richtlinie 85/374, der den Fortbestand einer besonderen Haftungsregelung zulässt. Grund dafür war der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie in Deutschland schon eine besondere Haftungsregelung für Arzneimittel bestand, die infolge dramatischer Ereignisse ( 23 ) eingeführt worden war, und der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht die Ansprüche der Geschädigten beschränken wollte, die sich aus dieser Regelung ergaben.

35.

Bei dieser Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374 können Zweifel entstehen, ob § 15 Abs. 1 ProdHaftG, wonach die Vorschriften dieses Gesetzes nicht auf Schäden anzuwenden sind, die infolge der Anwendung von Arzneimitteln entstanden sind, mit dieser Bestimmung vereinbar ist ( 24 ). Ich bin allerdings der Ansicht, dass eine so kategorische Betrachtungsweise nicht angezeigt ist und diese Bestimmung als richtlinienkonform anzusehen ist. Wären die gleichen Produkte zwei nebeneinander geltenden Haftungsregelungen unterworfen, die auf dem Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung beruhen, würde dies sowohl für die Hersteller als auch für die Verbraucher zu Komplikationen führen. Deutliche Vorteile dieser Lösung sind hingegen kaum zu erkennen, da sich die Geschädigten in der Regel für eine dieser Regelungen entscheiden werden, weil sie ihnen mehr Rechte gibt.

36.

Die im deutschen Recht gewählte Lösung ist daher als sinnvoll anzusehen. Das bedeutet nach meiner Ansicht aber nicht, dass die Grundsätze der Haftung für fehlerhafte Arzneimittel in Deutschland von der durch die Richtlinie 85/374 vorgenommenen Harmonisierung ausgeschlossen sind. Die Bestimmungen des AMG, die diese Haftung im Anwendungsbereich der Richtlinie betreffen, sind ein Mittel zur Erreichung der in dieser aufgestellten Ziele, ähnlich wie die Bestimmungen des ProdHaftG die Verwirklichung der Ziele der Richtlinie in Bezug auf die übrigen Produktarten gewährleisten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Deutschland gemäß Art. 13 der Richtlinie 85/374 befugt ist, die Ansprüche der Geschädigten aufrechtzuerhalten, die ihnen auf der Grundlage der Bestimmungen des AMG zustanden, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie galten, und die über die Ansprüche hinausgehen, die sich aus der Richtlinie ergeben.

37.

Eine Bejahung der von der deutschen Regierung und der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vorgeschlagenen Auslegung, wonach Deutschland bei der weiteren Entwicklung der Haftungsregelung des AMG völlig frei sei, würde bedeuten, dass nur ein Produktionssektor in nur einem Mitgliedstaat von der durch die Richtlinie 85/374 vorgenommenen Harmonisierung ausgeschlossen wäre. Wie diese Verfahrensbeteiligten zutreffend anmerken, erlaubt Art. 13 dieser Richtlinie weder die Ausdehnung der besonderen Haftungsregelung auf neue Produktionssektoren noch die Schaffung solcher besonderer Haftungsregelungen in den anderen Mitgliedstaaten. Was könnte also der Zweck einer Vorschrift sein, die es erlaubt, den Geschädigten neue Ansprüche im Rahmen der schon bestehenden Regelung zu gewähren, es aber nicht zulässt, dass die gleichen Ansprüche in anderen Produktionssektoren oder in anderen Mitgliedstaaten gewährt werden? Nach meiner Ansicht widerspräche diese Auslegung jeglicher Logik. Die in Art. 13 der Richtlinie vorgesehene Abweichungsmöglichkeit war ausschließlich historisch begründet, und auch ihr Umfang muss historisch begrenzt bleiben, d. h. auf Ansprüche beschränkt, die schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie bestanden.

38.

Die besondere Behandlung des Arzneimittelsektors kann eventuell mit dem spezifischen Charakter dieser Produkte gerechtfertigt werden, deren Fehler weiter gehende negative Folgen für die Gesundheit und das Leben der Geschädigten haben können als die Fehler anderer Produkte. In diesem Fall dürfte diese besondere Behandlung aber nicht auf die Mitgliedstaaten beschränkt werden, in denen genau 1985 eine Haftungsregelung für Fehler dieser Produkte bestand, und faktisch auf nur einen Mitgliedstaat. Es sei auch daran erinnert, dass der Unionsgesetzgeber die Gelegenheit hatte, die Haftungsregelung für Fehler von Arzneimitteln in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel ( 25 ) von den allgemeinen Grundsätzen abweichend zu regeln. Diese Richtlinie sieht aber in Art. 5 Abs. 4 und Art. 47 Abs. 2 ausdrücklich die Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 85/374 auf Arzneimittel vor.

39.

Mich überzeugt auch nicht das von der deutschen Regierung und der Kommission vorgebrachte Argument, Art. 13 der Richtlinie 85/374 sei dahin zu verstehen, dass er jegliche Änderung der dort genannten Haftungsregelung erlaube, da andernfalls diese Regelung nicht im Einklang mit der Änderung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse weiterentwickelt werden könnte und deswegen den Verbrauchern keinen angemessen Schutz bieten würde.

40.

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass auch die in der Richtlinie 85/374 festgelegte Regelung in der Praxis seit dem Erlass dieser Richtlinie nicht weiterentwickelt wurde. Trotz des Wortlauts ihres 18. Erwägungsgrundes und der Revisionsklausel in ihrem Art. 21 erfuhr die Richtlinie 85/374 nur eine Änderung. Auf der Grundlage der Richtlinie 1999/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Mai 1999 zur Änderung der Richtlinie 85/374 ( 26 ) wurde in Letztere eine Definition des Begriffs „Produkt“ aufgenommen und die Möglichkeit des Ausschlusses landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus ihrem Anwendungsbereich durch die Mitgliedstaaten aufgehoben. Der Unionsgesetzgeber sah sich also nicht genötigt, die in der Richtlinie eingeführte Haftungsregelung weiterzuentwickeln, mit Ausnahme der näheren Bestimmung eines in ihr verwendeten Begriffs und der Aufhebung der Möglichkeit einer Einschränkung ihres Anwendungsbereichs ( 27 ).

41.

Zweitens ist, wie von mir in Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt, der Verbraucherschutz weder das einzige noch das Hauptziel der Richtlinie 85/374. Der Gesetzgeber hat die einzelnen in Frage kommenden Interessen abgewogen und die Grundsätze der Produkthaftung aufgestellt, deren Änderung er bislang nicht für erforderlich gehalten hat. Er hat zwar in Art. 13 dieser Richtlinie die Aufrechterhaltung bestimmter Ansprüche der Geschädigten zugelassen, die sich aus einer besonderen Haftungsregelung ergeben und über die ihnen auf der Grundlage der Richtlinie zustehenden Ansprüche hinausgehen, doch kann allein die Verbesserung des Verbraucherschutzes keine weitere Stärkung dieser Ansprüche durch noch größere Abweichungen von den in der Richtlinie aufgestellten Grundsätzen rechtfertigen.

42.

Vielmehr sei daran erinnert, dass die durch die Richtlinie 85/374 vorgenommene Harmonisierung nicht „vollständig“ ist (siehe Nrn. 21 bis 24 der vorliegenden Schlussanträge). Die in der Richtlinie aufgestellten Grundsätze werden auf der Grundlage der in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtsregeln, die sich sowohl aus der Gesetzgebung als auch aus der Rechtsprechung ergeben, ergänzt und ausgestaltet. Diese Regeln können insbesondere mit dem Ziel der Anpassung an die Entwicklung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse geändert werden, sofern die Produkthaftungsregelung weiter mit den in der Richtlinie 85/374 aufgestellten Grundsätzen dieser Haftung übereinstimmt. Das gilt nach meiner Ansicht auch für die besondere Haftungsregelung im Sinne von Art. 13 dieser Richtlinie. Die Ansprüche der Geschädigten, die sich aus dieser Regelung ergeben, dürfen über die in der Richtlinie vorgesehenen Ansprüche nur insoweit hinausgehen, als dies bereits zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie der Fall war. Die Grundsätze des Funktionierens dieser besonderen Regelung, die Fragen betreffen, die in der Richtlinie nicht geregelt werden, dürfen hingegen weiterentwickelt werden.

43.

Art. 13 der Richtlinie 85/374 ist daher nach meiner Ansicht dahin auszulegen, dass er in Bezug auf die in dieser Richtlinie geregelten Fragen nur die Aufrechterhaltung – im Rahmen der besonderen Haftungsregelung im Sinne dieser Bestimmung – der Ansprüche der Geschädigten erlaubt, die über das Schutzniveau hinausgehen, das sich aus den Vorschriften der Richtlinie ergibt, unter der Voraussetzung, dass diese Ansprüche schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie bestanden.

Die Problematik des Auskunftsanspruchs

44.

Wie sich aus dem Vorlagebeschluss ergibt und ich in Nr. 12 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt habe, betrifft der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens das Recht des Geschädigten auf Erteilung bestimmter Auskünfte durch den Hersteller des Arzneimittels. Dieses Recht ist in § 84a AMG vorgesehen. Damit dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort gegeben werden kann, ist daher meines Erachtens neben einer allgemeinen Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 85/374 auch die Prüfung der Frage erforderlich, ob die Einführung eines Instruments wie des Auskunftsanspruchs nach § 84a AMG in der nationalen Rechtsordnung zulässig ist.

45.

Die Richtlinie 85/374 regelt den Auskunftsanspruch nicht ausdrücklich. Dieser Anspruch ist ein Instrument, das dem Geschädigten den Nachweis der Fehlerhaftigkeit des Arzneimittels erleichtern soll, das den durch ihn erlittenen Schaden verursacht haben soll. Beweisfragen regelt aber Art. 4 der Richtlinie.

46.

Gemäß Art. 4 der Richtlinie 85/374 hat der Geschädigte den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen. Diese Bestimmung regelt hingegen nicht, wie der Beweis zu führen ist. Es ist allerdings offensichtlich, dass im Bereich der Produkthaftung ähnlich wie im Rahmen von Rechtsverhältnissen anderer Art zwischen Verbrauchern und Unternehmern ein erhebliches Ungleichgewicht beim Zugang zu Informationen zu Ungunsten der Verbraucher besteht. Aus diesem Grund könnten sich die klassischen Mechanismen der zivilrechtlichen Haftung, die auf eine formale Gleichheit der Parteien und den Grundsatz actori incumbit probatio gestützt sind, als unzureichend für die erfolgreiche Durchsetzung von Ansprüchen der Verbraucher gegen Unternehmer erweisen. Der in § 84a AMG vorgesehene Auskunftsanspruch soll dieses Ungleichgewicht beheben. Er führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern erlaubt dem Geschädigten lediglich, Zugang zu Informationen über objektiv vorliegende Umstände zu erhalten, die das Produkt betreffen, das verdächtigt wird, einen Schaden verursacht zu haben. Diese Informationen können vom Geschädigten anschließend dazu eingesetzt werden, das Vorliegen der Voraussetzungen der Haftung des Herstellers zu beweisen.

47.

Der Auskunftsanspruch fällt demnach nicht in den Regelungsbereich von Art. 4 der Richtlinie 85/374. Daher ist anzunehmen, dass es sich dabei um einen der Aspekte handelt, die im Sinne der in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Richtlinie nicht geregelt werden. Die Regelung dieses Aspekts wird somit der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedstaaten überlassen und unterliegt nicht der Harmonisierung gemäß der Richtlinie.

48.

Daher ist davon auszugehen, dass die Richtlinie 85/374 den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, Beweiserleichterungen wie den Auskunftsanspruch nach § 84a AMG in ihren nationalen Rechtsordnungen einzuführen. Dies gilt auch für die besondere Haftungsregelung im Sinne von Art. 13 dieser Richtlinie. Da der Auskunftsanspruch nicht in den Harmonisierungsbereich der Richtlinie 85/374 fällt, steht diese Richtlinie seiner Einführung nicht entgegen, selbst wenn ein solcher Anspruch im Rahmen dieser besonderen Haftungsregelung zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie nicht vorgesehen war.

Ergebnis

49.

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen schlage ich vor, die Frage des Bundesgerichtshofs wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 13 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass er in Bezug auf die in dieser Richtlinie geregelten Fragen nur die Aufrechterhaltung – im Rahmen der besonderen Haftungsregelung im Sinne dieser Bestimmung – der Ansprüche der Geschädigten erlaubt, die über das Schutzniveau hinausgehen, das sich aus den Vorschriften der Richtlinie ergibt, unter der Voraussetzung, dass diese Ansprüche schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie bestanden.

2.

Die Richtlinie 85/374 verwehrt den Mitgliedstaaten nicht, Beweiserleichterungen wie den Auskunftsanspruch nach § 84a AMG in ihren nationalen Rechtsordnungen einzuführen. Die Möglichkeit der Einführung solcher Erleichterungen gilt auch für die besondere Haftungsregelung im Sinne von Art. 13 dieser Richtlinie.


( 1 )   Originalsprache: Polnisch.

( 2 )   ABl. L 210, S. 29.

( 3 )   BGBl. I S. 2198.

( 4 )   In der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394).

( 5 )   BGBl. I S. 2674.

( 6 )   Siehe zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 85/374. Siehe auch H. C. Taschner, „Product liability: basic problems in a comparative law perspective“, in: D. Fairgrieve (Hrsg.), Product liability in comparative perspective, Cambridge 2005, S. 155.

( 7 )   Urteile Kommission/Frankreich (C‑52/00, EU:C:2002:252, Rn. 29) und Kommission/Griechenland (C‑154/00, EU:C:2002:254, Rn. 29).

( 8 )   Ähnlich Urteil Dutrueux (C‑495/10, EU:C:2011:869, Rn. 22, 23, 31).

( 9 )   Ähnlich beispielsweise E. Łętowska, Europejskie prawo umów konsumenckich, Warschau 2004, S. 111, 112.

( 10 )   Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2002:252, Rn. 24), Kommission/Griechenland (EU:C:2002:254, Rn. 20) und Dutrueux (EU:C:2011:869, Rn. 20).

( 11 )   Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2002:252, Rn. 14 bis 20) und Kommission/Griechenland (EU:C:2002:254, Rn. 10 bis 16). Umfassender zu dieser Frage Generalanwalt L. A. Geelhoed in den Schlussanträgen Kommission/Frankreich (C‑52/00, EU:C:2001:453, Nrn. 22 bis 56).

( 12 )   Urteil Moteurs Leroy Somer (C‑285/08, EU:C:2009:351, Rn. 25).

( 13 )   Siehe z. B. L. Dubouis, C. Blumann, Droit matériel de l’Union européenne, 5. Aufl., Montchrestien 2009, S. 320, K. Kowalik-Bańczyk, „Kommentar zu Art. 114 AEUV“, in: A. Wróbel (Hrsg.), Traktat o funkcjonowaniu Unii Europejskiej. Komentarz Lex, Bd. II, Warschau 2012, S. 521 ff.

( 14 )   Ähnlich beispielsweise E. Łętowska, ebd. (oben in Fn. 9 angeführt), S. 103.

( 15 )   Siehe insbesondere Urteil González Sánchez (C‑183/00, EU:C:2002:255, Rn. 31).

( 16 )   Was auch im 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 85/374 Bestätigung findet. Nicht alle Sprachfassungen dieses Erwägungsgrundes sind insoweit eindeutig, es geht dort aber ausdrücklich um eine Haftungsregelung für Arzneimittel, die schon (d. h. zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie) in einem der Mitgliedstaaten (d. h. in Deutschland) besteht.

( 17 )   Hervorhebung nur hier.

( 18 )   Ähnlich die Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2002:252, Rn. 22), Kommission/Griechenland (EU:C:2002:254, Rn. 18) und González Sánchez (EU:C:2002:255, Rn. 31).

( 19 )   EU:C:2002:255.

( 20 )   Urteil González Sánchez (EU:C:2002:255, Rn. 12).

( 21 )   Ebd. (Rn. 31 bis 33).

( 22 )   Ebd. (Rn. 34).

( 23 )   Das Arzneimittel Contergan, das Frauen während der Schwangerschaft verabreicht wurde, verursachte Missbildungen bei ungefähr 2500 Neugeborenen in Deutschland. Die diesbezüglichen Schadensersatzverfahren wurden im Vergleichsweg beendet, zugleich gaben sie aber den Anlass zur Schaffung einer Haftungsregelung für fehlerhafte Arzneimittel und darüber hinaus auch eines Kontrollsystems für diese Produkte. Siehe beispielsweise J. S. Borghetti, La responsabilité du fait des produits. Étude de droit comparé, LGDJ 2004, S. 134.

( 24 )   Derartige Zweifel werden im Übrigen in der Rechtslehre vorgebracht. Siehe M. Jagielska, Odpowiedzialność za produkt, Zakamycze 1999, S. 190.

( 25 )   ABl. L 311, S. 67.

( 26 )   ABl. L 141, S. 20.

( 27 )   Diese zweite Änderung bedeutet im Übrigen nur eine Rückkehr zum Wortlaut des ursprünglichen Entwurfs der Kommission, der keine Möglichkeit des Ausschlusses landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus dem Anwendungsbereich der in Rede stehenden Richtlinie vorsah (siehe Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 9. September 1976, ABl. C 241, S. 9).