SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 19. Juni 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑268/13

Elena Petru

gegen

Casa Judeţeană de Asigurări de Sănătate Sibiu

und

Casa Naţională de Asigurări de Sănătate

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Sibiu [Rumänien])

„Freizügigkeit — Soziale Sicherheit — Erstattung von Krankheitskosten, die in einem anderen Mitgliedstaat entstanden sind — Vorherige Genehmigung — Reichweite des Begriffs ‚ebenso wirksame Behandlung‘ — Mangel an materiellen Mitteln in einem Krankenhaus — Territoriale Reichweite des Mangels im Hinblick auf die Begründung eines Anspruchs auf vorherige Genehmigung“

1. 

Mit seiner Vorlagefrage gibt das Tribunal Sibiu seinen Zweifeln hinsichtlich der Auslegung von Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern ( 2 ) in einem Fall Ausdruck, in dem eine rumänische Staatsangehörige von den Behörden ihres Landes die Erstattung der Kosten eines chirurgischen Eingriffs verlangt, dem sie sich in Deutschland unterzog, nachdem sie, wie sie beim vorlegenden Gericht vorgetragen hat, festgestellt hatte, dass in dem Krankenhaus in Rumänien, in dem der Eingriff erfolgen sollte, Medikamente und grundlegendes medizinisches Material fehlten.

2. 

Letztlich wird der Gerichtshof danach befragt, ob ein genereller Mangel an grundlegenden Mitteln der Gesundheitssorge im Wohnstaat als eine Situation anzusehen ist, in der es nicht möglich ist, die Behandlungsleistung zu erbringen. Wäre dies der Fall, könnte der Patient gemäß Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 von seinem Anspruch auf Genehmigung, die Dienstleistung auf Kosten des Leistungssystems seines Wohnstaats in einem anderen Mitgliedstaat zu empfangen, Gebrauch machen.

3. 

Obwohl der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Reichweite der genannten Vorschrift und zum Umfang der Gesundheitsversorgung im Licht der Verkehrsfreiheiten in zahlreichen Fällen Stellung genommen hat, wird ihm hier erstmalig ein Fall vorgelegt, in dem die Notwendigkeit, die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat zu empfangen, mit fehlenden Mitteln im Wohnstaat begründet wird.

I – Rechtlicher Rahmen

4.

Art. 22 („Aufenthalt außerhalb des zuständigen Staates – Rückkehr oder Wohnortwechsel in einen anderen Mitgliedstaat während eines Krankheits‑ oder Mutterschaftsfalles – Notwendigkeit, sich zwecks angemessener Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„(1)   Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt und:

c)

der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten,

hat Anspruch auf:

i)

Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des [Aufenthaltsorts] nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; die Dauer der Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates;

(2)   …

Die nach Absatz 1 Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert werden, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet der Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetracht seines derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit diese Behandlung nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlungen in dem Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.“

II – Sachverhalt

5.

Frau Petru leidet an einer schweren Erkrankung der Herzgefäße, wegen der sie sich bereits im Jahr 2007 einem chirurgischen Eingriff unterzogen hatte. Zwei Jahre später verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand, und sie wurde in das Institutul de Boli Cardiovasculare Timişoara (Institut für Herz-Kreislauf-Erkrankungen Temeswar) eingeliefert. Aus dem Arztbericht geht hervor, dass Frau Petru an einer schweren Erkrankung leide, die eines dringenden chirurgischen Eingriffs bedürfe, und diese Operation am offenen Herzen erfolgen müsse, um die Mitralklappe auszutauschen und zwei Stents einzusetzen.

6.

Frau Petru führt aus, sie habe während ihres Aufenthalts im Institutul de Boli Cardiovasculare Timişoara einen erheblichen Mangel an materiellen Mitteln feststellen müssen. In dem Krankenhaus hätten grundlegende medizinische Mittel wie Schmerzmittel, medizinischer Alkohol, Watte oder sterile Verbände gefehlt. Das Krankenhaus habe auch ein erhebliches Patientenaufkommen mit einer durchschnittlichen Belegung von drei Patienten pro Bett gehabt.

7.

Aufgrund der Schwere des erforderlichen chirurgischen Eingriffs und des Mangels an materiellen Mitteln im Institutul de Boli Cardiovasculare stellte Frau Petru bei der Casa Judeţeană de Asigurări de Sănătate Sibiu (Kreiskrankenkasse Sibiu; im Folgenden: Casa Judeţeană) den Antrag, die Vornahme des Eingriffs in Deutschland statt in dem genannten Krankenhaus in ihrem Wohnstaat zu genehmigen. In ihrer Entscheidung wies die Casa Judeţeană den Antrag von Frau Petru unter Berufung auf den Gesundheitszustand der Versicherten, den Verlauf der Krankheit, den Zeitraum für die Durchführung des Eingriffs und den geltend gemachten Grund (Mangel an materiellen Mitteln) zurück.

8.

Nach der Ablehnung ihres Antrags wandte sich Frau Petru an eine Klinik in Deutschland, wo der chirurgische Eingriff durchgeführt wurde, dessen Kosten sich einschließlich des postoperativen Krankenhausaufenthalts auf 17714,70 Euro beliefen.

9.

Unmittelbar im Anschluss erhob Frau Petru beim Tribunal Sibiu Zivilklage und verlangte von der Casa Judeţeană, ihr die in Deutschland entstandenen Kosten gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu erstatten.

III – Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.

Das Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Sibiu wurde am 16. Mai 2013 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen. Mit ihm ist folgende Frage vorgelegt worden:

Ist die Unmöglichkeit der Gewährung einer Behandlung im Wohnland im Sinne von Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 absolut oder relativ auszulegen, d. h., ist die Situation, in der ein chirurgischer Eingriff im Wohnland zwar rechtzeitig und aus fachlicher Sicht sachgemäß durchgeführt werden könnte, da die erforderlichen Fachleute und auch das entsprechende Fachwissen vorhanden sind, aber die grundlegenden Medikamente und das grundlegende medizinische Material fehlen, einer Situation gleichzusetzen, in der die erforderliche medizinische Versorgung im Sinne der vorgenannten Vorschrift nicht gewährleistet werden kann?

11.

Frau Petru, die rumänische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung am 26. März 2014 haben die Vertreter von Frau Petru sowie die Bevollmächtigten der Regierungen des Vereinigten Königreichs und Rumäniens sowie der Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Vorbringen der Parteien

12.

Frau Petru tritt für ihren Anspruch auf eine Genehmigung gemäß Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 ein. In Abs. 2 dieser Bestimmung seien die Umstände, unter denen eine Genehmigung im Wohnstaat nicht verweigert werden könne, abschließend aufgezählt, und aus ihnen ergebe sich, dass der Mangel an materiellen Mitteln in Krankenhäusern die Erteilung der Genehmigung rechtfertige. Diese Auslegung beruhe auf Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der den Schutz der Gesundheit garantiere.

13.

Die rumänische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sind der Meinung, Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71, ausgelegt im Licht von Art. 56 AEUV, schließe den Anspruch auf eine Genehmigung bei einem Mangel an materiellen Mitteln im Wohnstaat aus. Weder falle diese Situation unter Art. 22, noch ergebe sich der Anspruch aus dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geprägten Ausdruck „ebenso wirksam“. Auch sei dieser Umstand schwer nachzuweisen, insbesondere in Ermangelung einer unabhängigen ärztlichen Bewertung, mit der ein solcher Mangel an Mitteln bestätigt werde. Daher vertreten beide Regierungen die Ansicht, dass das Unionsrecht einer Entscheidung, mit der die Genehmigung verweigert werde, wie sie die Casa Judeţeană im vorliegenden Fall erlassen habe, nicht entgegenstehe. Selbst wenn wegen eines Mangels an Mitteln einem derartigen Antrag stattzugeben sei, sei dieser Umstand, wie die rumänische Regierung betont, im Ausgangsverfahren jedenfalls nicht nachgewiesen worden.

14.

Die Kommission hat einen vermittelnden Standpunkt eingenommen und anerkannt, dass ein struktureller Mangel an gesundheitlichen Mitteln eine Voraussetzung für eine Genehmigung im Sinne von Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71, ausgelegt im Licht des Art. 56 AEUV und des Art. 35 der Charta, sein könne. Dabei geht die Kommission davon aus, dass diese Genehmigung nur nach einer Prüfung erteilt werden könne, bei der sämtliche den konkreten Fall kennzeichnenden Umstände berücksichtigt werden müssten. Über diese Frage müsse das vorlegende Gericht entscheiden.

V – Prüfung

15.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wirft zwei verschiedene Fragen auf, die im Hinblick auf ihre Beantwortung einen sehr unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad aufweisen. Die erste geht dahin, ob eine Unzulänglichkeit oder ein Mangel an Mitteln in einer Krankenhauseinrichtung unter bestimmten Voraussetzungen einer Situation entsprechen kann, in der es in diesem Staat unmöglich ist, in einem angemessenen Zeitraum eine bestimmte Leistung im Gesundheitsbereich zu erbringen, die aber in der Liste der vom Leistungssystem des Staates erfassten Leistungen enthalten ist. Die zweite Frage geht dahin, ob dies auch dann der Fall ist, wenn diese Mängel oder Unzulänglichkeiten in den Krankenhäusern dieses Staates nicht punktuell oder lokal begrenzt sind, sondern vielmehr auf eine systembedingte und damit aufgrund verschiedener natürlicher, technologischer, wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Umstände dauerhafte Situation zurückgehen.

16.

Um auf beide Probleme eingehen zu können, sollen kurz die wesentlichen Beiträge des Gesetzgebers und der Rechtsprechung in Erinnerung gebracht werden, die es uns im Folgenden ermöglichen, den Fall von Frau Petru in allen Einzelheiten zu prüfen.

17.

Es ist offensichtlich, dass Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 der notwendige Ausgangspunkt dieser Prüfung ist, denn in ihm wird ausdrücklich anerkannt, dass jeder Patient Anspruch darauf hat, bei der zuständigen nationalen Behörde eine Genehmigung zu beantragen, um sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats begeben und dort eine seinem Gesundheitszustand angemessene Behandlung erhalten zu können. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung ist die Genehmigung zwingend zu erteilen, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats des Patienten vorgesehen sind, der Patient die Behandlung aber nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der im jeweiligen Fall erforderlich ist ( 3 ).

18.

Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, die Möglichkeit vorzusehen, dass ihre gebietsansässigen Versicherten in anderen als den in Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 geregelten Fällen ärztliche Versorgung in anderen Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen. In diesem Fall unterliegt das Handeln dieser Staaten, wie sogleich dargestellt wird, den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit ( 4 ).

19.

Auf der Grundlage dieser Bestimmungen hat der Gerichtshof eine am freien Dienstleistungsverkehr orientierte Auslegung vorgenommen, dabei aber auch die besonderen und sehr heterogenen Umstände, die den Gesundheitssektor in Europa kennzeichnen, berücksichtigt.

20.

In den Urteilen Decker und Kohll ( 5 ) hat der Gerichtshof bekräftigt, dass die Gesundheitsversorgung – einschließlich der von den öffentlichen Systemen erbrachten – Leistungen mit wirtschaftlichem Charakter und damit Dienstleistungen darstellt, die den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit unterliegen. Dieses Ergebnis ermöglichte es, den unionsrechtlichen Schutz auf andere als die in Art. 22 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich geregelten Fälle auszudehnen.

21.

Bezüglich der ärztlichen Versorgung, die einen Krankenhausaufenthalt erfordert, wurden im Urteil Smits und Peerbooms ( 6 ) verschiedene relevante Aspekte geklärt, beginnend mit der Anerkennung der allgemeinen Befugnis der Mitgliedstaaten, den Empfang von ärztlicher Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat auf Kosten des Wohnstaats unabhängig davon, ob das System auf Sachleistungen oder Kostenerstattung beruht, von einer Genehmigung abhängig zu machen ( 7 ). Ebenso wurde durch dieses Urteil ein wichtiges Kriterium für die Feststellung eingeführt, ob die Behandlung, die der Patient in einem anderen Mitgliedstaat anstrebt, „erforderlich“ ist ( 8 ). Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Mitgliedstaaten eine Genehmigung wegen fehlender Notwendigkeit der Leistung nur dann versagen können, „wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig … erlangt werden kann“ ( 9 ).

22.

Nach der Rechtsprechung hat der Träger bei der Beurteilung der Frage, ob eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung im Wohnsitzmitgliedstaat rechtzeitig verfügbar ist, sämtliche Umstände des konkreten Falles zu beachten und muss dabei nicht nur den Gesundheitszustand des Patienten zum Zeitpunkt der Einreichung des Genehmigungsantrags, sondern auch die Vorgeschichte des Patienten berücksichtigen ( 10 ). Es ist offensichtlich, dass diese Voraussetzungen durch ärztliches Personal ordnungsgemäß nachgewiesen werden müssen, damit das Gericht sämtliche Umstände unter Zugrundelegung von in geeigneter Weise nachgewiesenen und nicht auf der subjektiven Wahrnehmung des jeweiligen Patienten beruhenden Kriterien würdigen kann.

23.

Insgesamt betrachtet ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass ein Bewohner eines Mitgliedstaats, der einem öffentlichen Gesundheitssystem angeschlossen ist, das Recht hat, sich auf Kosten des Leistungssystems seines Wohnstaats in einen anderen Staat der Union zu begeben, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung in dem anderen Staat, aber nicht im Wohnstaat, rechtzeitig verfügbar ist. Unter diesen Voraussetzungen trägt das System, dem der Patient angeschlossen ist, die Kosten, die ihm im Ausland entstehen. Erfüllt der Patient die dargestellten Voraussetzungen hingegen nicht, hat er stets die Möglichkeit, sich ins Ausland zu begeben und die Dienstleistung, auf die er im Staat seiner Versicherungszugehörigkeit Anspruch hat, zu empfangen, wobei er Erstattung der Kosten des Eingriffs zu dem im Staat der Versicherungszugehörigkeit – nicht zu dem am Ort der Dienstleistung – vorgesehenen Preis verlangen kann ( 11 ).

24.

Im Folgenden wird eine Antwort auf die beiden Fragen vorgeschlagen, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellen.

25.

Die erste Frage, die zu prüfen ist, betrifft einen punktuellen Mangel an Mitteln im Zusammenhang mit einer Leistung im Gesundheitsbereich und bringt für sich betrachtet keine besondere Schwierigkeit mit sich. Es ist klar, dass die Verordnung Nr. 1408/71 keine Unterscheidung hinsichtlich der Gründe vornimmt, aus denen eine bestimmte Leistung nicht rechtzeitig erbracht werden kann. Besteht der Grund darin, dass die materielle Infrastruktur im vorliegenden Fall den erforderlichen chirurgischen Eingriff nicht zulässt, muss das dieselbe Folge haben wie eine personalbezogene Unzulänglichkeit, d. h. in Bezug auf Ärzte, die in der Lage sind, den erforderlichen Eingriff durchzuführen.

26.

Es kann in der Tat nicht ausgeschlossen werden, dass insbesondere in den kleineren Mitgliedstaaten ein bestimmter Unfall oder ein bestimmtes Ereignis in einem Krankenhaus, das möglicherweise als einziges die erforderliche gesundheitliche Leistung erbringen kann, zu einer Situation führt, in der diese Leistung – faktisch, und nicht aufgrund anderer Unzulänglichkeiten – nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig erbracht werden kann.

27.

Die Frage ist daher grundsätzlich zu bejahen. Wie im Fall eines Mangels an personellen Mitteln kann auch ein Mangel im Krankenhausbereich die Verpflichtung des Mitgliedstaats gemäß Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 begründen, die Erbringung dieser ärztlichen Dienstleistung zu genehmigen.

28.

Damit komme ich zur zweiten Frage. Die wirkliche mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfene Problematik ist jedoch nicht diejenige, die sich grundsätzlich stellt, sondern diejenige, die sich im Hinblick auf das Ausmaß ergibt. Konkreter gesprochen tritt das wirkliche Problem in Erscheinung, wenn der Mangel an materiellen Mitteln für die Erbringung der in Rede stehenden gesundheitlichen Leistung ein Ausmaß hat, das über eine punktuelle, lokal begrenzte und letztlich zufällige Situation hinausgeht und Ausprägung einer Situation strukturellen, allgemeinen und andauernden Mangels ist, also letztlich als „systemischer“ Mangel bezeichnet werden kann.

29.

Vorwegzuschicken ist, dass die Feststellung, ob diese Situation in Rumänien besteht, nicht Sache des Gerichtshofs ist. Nach gefestigter Rechtsprechung ist der Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift zu äußern ( 12 ).

30.

Das Problem besteht darin, dass uns das nationale Gericht mit seiner Wiedergabe der Beschreibung der gesundheitlichen Lage in Rumänien durch die Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Sachverhalt schildert, der zweifellos über einen punktuellen und lokal begrenzten Umstand hinausgeht. Das vorlegende Gericht beschreibt eine Situation des gesundheitlichen Notstands, die nicht einmal von beschränkter Dauer, sondern im Gegenteil zeitlich unbeschränkt ist und den gesamten Staat im Allgemeinen betrifft.

31.

Angesichts dieses bedauerlichen Sachverhalts, den wir nicht zu überprüfen haben, ist klar, dass die Antwort darauf nicht in Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zu finden ist. Definitionsgemäß wäre der Mitgliedstaat, der sich in dieser Situation befindet, nicht in der Lage, die finanziellen Belastungen einer massiven Gesundheitsmigration der Angehörigen seines Leistungssystems in die übrigen Mitgliedstaaten zu tragen.

32.

Die strikte Anwendung der genannten Bestimmung in einem Kontext, wie er hier beschrieben wurde, ließe sich darüber hinaus nur schwer mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbaren. Bekanntermaßen stellt die „Infragestellung“ der Versorgung im Wohnstaat des Patienten eine der Grenzen dar, die dem freien Dienstleistungsverkehr im Gesundheitssektor gesetzt wurden. Der Gerichtshof hat bereits im Urteil Müller-Fauré und van Riet sowie im Urteil Watts festgestellt, dass „[Wanderungsströme] von Patienten …, die sämtliche Planungs- und Rationalisierungsanstrengungen in Frage stellen könnten, die der zuständige Mitgliedstaat im äußerst wichtigen Sektor der Gesundheitsversorgung unternommen hat, um die Probleme einer Überkapazität von Krankenhäusern, eines Ungleichgewichts im Angebot an medizinischer Krankenhausversorgung sowie logistischer wie auch finanzieller Verschwendung und Verluste zu verhindern“, vermieden werden müssen ( 13 ).

33.

Somit muss man zu dem Ergebnis gelangen, dass die Mitgliedstaaten bei einer strukturellen und dauerhaften Mangellage in den Krankenhäusern, wie sie in den vorstehenden Nummern beschrieben wurde, nach Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht verpflichtet sind, die Erbringung einer im Verzeichnis der Leistungen enthaltenen Dienstleistung zu genehmigen, selbst wenn dies zur Folge haben könnte, dass bestimmte gesundheitliche Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden können. Ausgenommen sind natürlich die Fälle, in denen durch eine solche Genehmigung das Funktionieren des Versorgungssystems in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht in Frage gestellt wird.

34.

In Anbetracht dessen ist nun auf die Frage einzugehen, die das Tribunal Sibiu im speziellen Fall von Frau Petru gestellt hat.

35.

Aus den Akten geht hervor, dass sich Frau Petru entschieden hat, sich in Deutschland operieren zu lassen, nachdem sie persönlich festgestellt hatte, welche Mittel dem Institutul de Boli Cardiovasculare Timişoara zum Zeitpunkt ihrer Einlieferung zur Verfügung standen. Das ersuchende Gericht wird festzustellen haben, ob es Sachverständigengutachten gibt, in denen ein solcher Mangel an Mitteln in diesem Krankenhaus festgestellt wird, oder ob es sich vielmehr um eine persönliche Einschätzung von Frau Petru handelt.

36.

Das vorlegende Gericht wird vor dem Hintergrund der sich aus den Akten ergebenden tatsächlichen Gesichtspunkte zu prüfen haben, ob es sich um eine der beiden genannten Situationen handelt und ob gegebenenfalls entweder ein punktueller Mangel an materiellen Mitteln oder eine strukturelle und dauerhafte Mangellage in den Krankenhäusern, wie sie in den Nrn. 28 bis 32 dieser Schlussanträge beschrieben wird, eingetreten ist.

37.

Nach alldem bin ich der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 verpflichtet sind, die Erbringung einer Leistung zu genehmigen, die im Verzeichnis der von ihrem Leistungssystem erfassten Leistungen enthalten ist, wenn die Erbringung einer dieser Leistungen aufgrund eines punktuellen und vorübergehenden Mangels in einem bestimmten Krankenhaus in dem betreffenden Mitgliedstaat tatsächlich unmöglich ist.

38.

Hingegen ist ein Mitgliedstaat bei einer strukturellen und dauerhaften Mangellage in den Krankenhäusern nicht verpflichtet, die Erbringung einer Leistung zu genehmigen, die im Verzeichnis der von seinem Leistungssystem erfassten Leistungen enthalten ist, selbst wenn dies zur Folge haben könnte, dass bestimmte gesundheitliche Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden können. Ausgenommen sind die Fälle, in denen durch eine solche Genehmigung das Funktionieren des Leistungssystems in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht in Frage gestellt wird.

39.

Diese Erwägungen hat das vorlegende Gericht, das allein für die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zuständig ist, auf den konkreten Fall anzuwenden. Dabei muss es die Gutachten unabhängiger Sachverständiger berücksichtigen, die im Ausgangsverfahren ordnungsgemäß beigebracht wurden.

VI – Ergebnis

40.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Tribunal Sibiu wie folgt zu beantworten:

Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat dazu verpflichtet ist, die Erbringung einer Leistung zu genehmigen, die im Verzeichnis der von ihrem Leistungssystem erfassten Leistungen enthalten ist, wenn die Erbringung einer dieser Leistungen aufgrund eines punktuellen und vorübergehenden Mangels in einem bestimmten Krankenhaus in dem betreffenden Mitgliedstaat tatsächlich unmöglich ist.

Hingegen ist Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat bei einer strukturellen und dauerhaften Mangellage in den Krankenhäusern nicht verpflichtet ist, die Erbringung einer Leistung zu genehmigen, die im Verzeichnis der von seinem Leistungssystem erfassten Leistungen enthalten ist, selbst wenn dies zur Folge haben könnte, dass bestimmte gesundheitliche Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden können. Ausgenommen sind die Fälle, in denen durch eine solche Genehmigung das Funktionieren des Leistungssystems in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht in Frage gestellt wird.

Das vorlegende Gericht hat unter Berücksichtigung der Gutachten unabhängiger Sachverständiger, die im Verfahren ordnungsgemäß beigebracht wurden, festzustellen, ob diese Umstände vorlagen, als die Klägerin die Genehmigung gemäß Art. 22 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 beantragte.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) Verordnung (EWG) des Rates vom 14. Juni 1971 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und konsolidierten Fassung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens vor dem Inkrafttreten der Änderung durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) ereignete.

( 3 ) Vgl. u. a. Rodière, P., Droit social de l’Union Européenne, 2. Aufl., LGDJ, Paris, 2014, S. 725 ff., De la Rosa, S., „The Directive on cross-border healthcare or the art of codifying complex case law“, Common Market Law Review, 49, 2012, Van der Mei, A. P., „Cross-border access to medical care within the European Union: Some reflections on the judgments in Decker and Kohll“, 5, Maastricht Journal of European and Comparative Law, Bd. 5, Nr. 3, 1998, und Lewalle, H., und Palm, W., „Quel est l’impact de la jurisprudence européenne sur l’accès aux soins à l’intérieur de l’Union européenne?“, Revue Belge de la Sécurité Sociale, Nr. 4, 2001.

( 4 ) Vgl. die Urteile Decker (C‑120/95, EU:C:1998:167, Rn. 34 ff.), Kohll (C‑158/96, EU:C:1998:171, Rn. 35) und Vanbraekel u. a. (C‑368/98, EU:C:2001:400, Rn. 40 ff.).

( 5 ) Urteile Decker und Kohl, angeführt in Fn. 4.

( 6 ) Urteil Smits und Peerbooms (C‑157/99, EU:C:2001:404).

( 7 ) Ebd. (Rn. 55 bis 59).

( 8 ) Ebd. (Rn. 99 ff).

( 9 ) Ebd. (Rn. 103).

( 10 ) Vgl. Urteile Watts (C‑372/04, EU:C:2006:325, Rn. 46 bis 62) und Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 66).

( 11 ) Vgl. u. a. Urteile Müller-Fauré und van Riet (C‑385/99, EU:C:2003:270, Rn. 98 und 106) und Elchinov (Rn. 80).

( 12 ) Vgl. u. a. Urteile AC‑ATEL Electronics (C‑30/93, EU:C:1994:224, Rn. 16), Phytheron International (C‑352/95, EU:C:1997:170, Rn. 11), Dumon und Froment (C‑235/95, EU:C:1998:365, Rn. 25), WWF u. a. (C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 31) und Stadt Papenburg (C‑226/08, EU:C:2010:10, Rn. 23).

( 13 ) Vgl. u. a. Urteile Müller-Fauré und van Riet (Rn. 91) und Watts (Rn. 71).