SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 20. März 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑220/13 P

Kalliopi Nikolaou

gegen

Rechnungshof der Europäischen Union

„Rechtsmittel — Beschluss 99/50 des Rechnungshofs — Voruntersuchung — Interne Untersuchung durch das OLAF — Unschuldsvermutung — Loyale Zusammenarbeit — Zuständigkeit des Gerichts“

1. 

Mit ihrem Rechtsmittel beantragt Frau Nikolaou, das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 20. Februar 2013, Nikolaou/Rechnungshof ( 2 ), aufzuheben, mit dem dieses die Klage auf Ersatz des Schadens abgewiesen hat, der der Rechtsmittelführerin als Folge von Fehlern und Verstößen gegen das Unionsrecht entstanden sein soll, die der Rechnungshof der Europäischen Union ihr gegenüber begangen haben soll.

I – Rechtlicher Rahmen

2.

Der Beschluss 99/50 des Rechnungshofs vom 16. Dezember 1999 über die Bedingungen und Modalitäten der internen Untersuchungen zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften bestimmt in seinem Art. 2:

„Jeder Beamte oder Bedienstete des [Rechnungshofs], der Kenntnis von Tatsachen erhält, die mögliche Fälle von Betrug, Korruption oder sonstigen rechtswidrigen Handlungen innerhalb des Organs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften vermuten lassen, unterrichtet unverzüglich den Generalsekretär des [Rechnungshofs ( 3 )].

Der Generalsekretär übermittelt dem [Europäischen] Amt [für Betrugsbekämpfung (OLAF)] sowie dem Präsidenten des [Rechnungshofs], der die Information dem Mitglied übermittelt, das für den Bereich, dem der Beamte oder Bedienstete angehört, zuständig ist, unverzüglich jeden ihm zur Kenntnis gebrachten faktischen Hinweis, der Unregelmäßigkeiten gemäß Unterabs. 1 oben vermuten lässt, und führt, unbeschadet der internen Untersuchungen des [OLAF], eine Voruntersuchung durch.

Eine Mitteilung gemäß den vorstehenden Unterabsätzen darf auf keinen Fall dazu führen, dass das Mitglied, der Beamte oder Bedienstete ungerecht behandelt oder diskriminiert wird.“

3.

Art. 4 Unterabs. 1 des Beschlusses 99/50 sieht vor:

„In den Fällen, in denen die Möglichkeit einer persönlichen Implikation eines Mitglieds, eines Beamten oder eines Bediensteten des [Rechnungshofs] besteht, ist der Betroffene rasch zu unterrichten, sofern dies nicht die Untersuchung beeinträchtigt. Auf keinen Fall dürfen ein Mitglied, einen Beamten oder einen Bediensteten mit Namen nennende Schlussfolgerungen am Ende der Untersuchung gezogen werden, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den ihn betreffenden Tatsachen zu äußern.“

II – Vorgeschichte des Rechtsstreits

4.

Die Rechtsmittelführerin war von 1996 bis 2001 Mitglied des Rechnungshofs. Laut einem am 19. Februar 2002 in der Tageszeitung Europa Journal erschienenen Bericht verfügte der Europaabgeordnete Staes über Informationen betreffend rechtswidrige Handlungen der Rechtsmittelführerin während ihrer Amtszeit als Mitglied des Rechnungshofs.

5.

Mit Schreiben vom 18. März 2002 übermittelte der Generalsekretär dem Generaldirektor des OLAF eine Akte, die diesbezügliche Hinweise enthielt, von denen der Generalsekretär und der Präsident des Rechnungshofs Kenntnis erlangt hätten. Außerdem bat der Generalsekretär das OLAF um Mitteilung, ob die Rechtsmittelführerin gemäß Art. 4 des Beschlusses 99/50 vom Bestehen einer sie betreffenden Untersuchung zu unterrichten sei.

6.

Mit Schreiben vom 8. April 2002 unterrichtete der Präsident des Rechnungshofs die Rechtsmittelführerin vom Bestehen einer vom OLAF geführten internen Untersuchung infolge des im Europa Journal erschienenen Artikels. Mit Schreiben vom 26. April 2002 unterrichtete der Generaldirektor des OLAF die Rechtsmittelführerin, dass infolge der Auskünfte, die dieser Dienst von Herrn Staes erhalten habe, und auf der Grundlage einer Voruntersuchungsakte des Generalsekretärs eine interne Untersuchung eingeleitet worden sei, bezüglich derer die Rechtsmittelführerin zur Zusammenarbeit aufgefordert werde.

7.

Dem abschließenden Bericht des OLAF vom 28. Oktober 2002 zufolge sollen Herrn Staes die die Rechtsmittelführerin betreffenden Informationen von zwei Mitarbeitern des Rechnungshofs verschafft worden sein, von denen einer Mitglied des Kabinetts der Rechtsmittelführerin gewesen sei. Die untersuchten Vorwürfe betrafen erstens Geldbeträge, die die Rechtsmittelführerin als Darlehen von ihrem Personal erhalten habe, zweitens angeblich falsche Erklärungen in Urlaubsübertragungsanträgen für ihren Kabinettschef, die zu einer Erstattung von ungefähr 28790 Euro an diesen für nicht verbrauchte Urlaubstage für die Jahre 1999, 2000 und 2001 geführt hätten, drittens die Benutzung des Dienstfahrzeugs zu Zwecken, die von der einschlägigen Regelung nicht vorgesehen seien, viertens Aufträge an den Fahrer der Rechtsmittelführerin zu von der einschlägigen Regelung nicht gedeckten Zwecken, fünftens einen innerhalb des Kabinetts der Rechtsmittelführerin praktizierten Absentismus, sechstens kommerzielle Tätigkeiten und Interventionen bei hochrangigen Personen, um die Ausübung solcher Tätigkeiten durch ihre Familienmitglieder zu erleichtern, siebtens einen Betrug im Rahmen eines Auswahlverfahrens und achtens betrügerische Handlungen in Bezug auf die von der Rechtsmittelführerin bezogenen Aufwandsentschädigungen.

8.

Das OLAF kam zu dem Ergebnis, dass die Möglichkeit bestehe, dass hinsichtlich der Anträge auf Übertragung von Urlaubstagen des Kabinettschefs der Rechtsmittelführerin Zuwiderhandlungen, die möglicherweise als Urkundenfälschung und Betrug eingestuft werden könnten, begangen worden seien. Nach dem abschließenden Bericht könnten von der Rechtsmittelführerin und den Mitgliedern ihres Kabinetts Straftaten im Zusammenhang mit Geldbeträgen begangen worden sein, die Erstere laut den Beteiligten als Darlehen erhalten habe. Unter diesen Umständen unterrichtete das OLAF gemäß Art. 10 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) ( 4 ) die luxemburgischen Justizbehörden im Hinblick auf eine Untersuchung des möglicherweise auf die Begehung von Straftaten hinweisenden Sachverhalts durch diese.

9.

Hinsichtlich der anderen Vorwürfe, ausgenommen der des Betrugs im Rahmen eines Auswahlverfahrens, zeigte das OLAF mögliche Unregelmäßigkeiten oder fragliche Punkte betreffend das Verhalten der Rechtsmittelführerin auf und schlug dem Rechnungshof vor, Abhilfemaßnahmen ihr gegenüber sowie Maßnahmen zur Verbesserung des Kontrollsystems innerhalb des Organs zu ergreifen.

10.

Am 26. April 2004 wurde die Rechtsmittelführerin bei der Sitzung des Rechnungshofs in beschränkter Besetzung im Hinblick auf die mögliche Anwendung von Art. 247 Abs. 7 EG angehört. Mit Schreiben vom 13. Mai 2004 legte der Präsident des Rechnungshofs dar, dass für den Verweis der Rechtssache an den Gerichtshof zur Anwendung von Art. 247 Abs. 7 EG aus dem Grund, dass die Rechtsmittelführerin persönliche Darlehen von den Mitgliedern ihres Kabinetts gefordert und erhalten haben solle, die von Art. 6 der am 31. Januar 2002 beschlossenen Geschäftsordnung des Rechnungshofs verlangte Einstimmigkeit bei einer Sitzung am 4. Mai 2004 nicht erlangt worden sei. Der Präsident des Rechnungshofs erläuterte dazu, dass eine große Mehrheit der Mitglieder des Organs der Ansicht gewesen sei, dass das Verhalten der Rechtsmittelführerin völlig unangemessen gewesen sei. Hinsichtlich der Urlaubstage des Kabinettschefs der Rechtsmittelführerin führte der Präsident des Rechnungshofs aus, das Organ habe, da die Rechtssache vor den luxemburgischen Gerichten anhängig sei, seine Entscheidung bis zum Vorliegen des Ergebnisses der diesbezüglichen Verfahren aufgeschoben.

11.

Mit Urteil vom 2. Oktober 2008 sprach die Strafkammer des Bezirksgerichts Luxemburg (Luxemburg) die Rechtsmittelführerin und ihren Kabinettschef von den Vorwürfen der Urkundenfälschung und der Verwendung gefälschter Urkunden, der wahrheitswidrigen Erklärung, hilfsweise des rechtswidrigen Bezugs einer Entschädigung, eines Zuschusses oder einer Beihilfe sowie, weiter hilfsweise, des Betrugs frei (im Folgenden: Urteil vom 2. Oktober 2008). Das Bezirksgericht Luxemburg war im Wesentlichen der Ansicht, einige Erklärungen des Kabinettschefs der Rechtsmittelführerin und Letzterer würfen Zweifel an dem vom OLAF und der luxemburgischen Kriminalpolizei gesammelten Bündel von Beweismitteln zum Nachweis, dass dieser Kabinettschef sich in den Jahren 1999 bis 2001 mehrere Tage in nicht gemeldetem Urlaub befunden habe, auf. Es entschied daher, dass die der Rechtsmittelführerin vorgeworfenen Tatsachen nicht ohne jeden Zweifel nachgewiesen worden seien und dass die Rechtsmittelführerin, da der geringste Zweifel dem Angeklagten zugutezukommen habe, von den ihr gegenüber erhobenen Vorwürfen freizusprechen sei. Da kein Rechtsmittel eingelegt wurde, wurde das Urteil vom 2. Oktober 2008 rechtskräftig.

12.

Mit Schreiben vom 14. April 2009 verlangte die Rechtsmittelführerin vom Rechnungshof, eine Mitteilung über ihren Freispruch in allen luxemburgischen, deutschen, griechischen, französischen, spanischen und belgischen Zeitungen zu veröffentlichen und die anderen Organe der Europäischen Union von ihm zu unterrichten. Hilfsweise verlangte die Rechtsmittelführerin für den Fall, dass der Rechnungshof diese Veröffentlichungen nicht veranlasse, die Zahlung von 100000 Euro als Ersatz des immateriellen Schadens, wobei sie sich verpflichtete, diesen Betrag für die Vornahme dieser Veröffentlichungen zu verwenden. Die Rechtsmittelführerin verlangte vom Rechnungshof außerdem erstens, ihr 40000 Euro als Ersatz des durch das Verfahren vor den luxemburgischen Gerichten verursachten immateriellen Schadens und 57 771,40 Euro als Ersatz des durch dasselbe Verfahren verursachten materiellen Schadens zu zahlen, zweitens, ihr alle insbesondere vor dem Untersuchungsrichter und dem Bezirksgericht Luxemburg entstandenen Kosten zu ersetzen, und drittens, ihr die im Verfahren vor dem Rechnungshof entstandenen Kosten zu ersetzen.

13.

Mit Schreiben vom 7. Juli 2009 übermittelte der Präsident des Rechnungshofs der Rechtsmittelführerin die in Beantwortung dieser Forderungen erlassene Entscheidung. In dieser Entscheidung wurden zum einen die im Schreiben vom 14. April 2009 enthaltenen Argumente zurückgewiesen und zum anderen der Rechtsmittelführerin mitgeteilt, dass der Rechnungshof auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen geprüft habe, ob der Sachverhalt einen hinreichenden Schweregrad für die Anrufung des Gerichtshofs im Hinblick auf eine Entscheidung über das Vorliegen von Verstößen gegen Verpflichtungen des ehemaligen Mitglieds aus dem EG‑Vertrag und das Erfordernis der Verhängung allfälliger Sanktionen aufweise. Insoweit teilte der Rechnungshof der Rechtsmittelführerin die Umstände mit, die ihn zu der Entscheidung veranlasst hatten, den Gerichtshof nicht anzurufen, zu denen insbesondere der Freispruch der Rechtsmittelführerin mit dem Urteil vom 2. Oktober 2008 und der fehlende Schaden für den Gemeinschaftshaushalt in Anbetracht der Rückzahlung des zu Unrecht an Herrn Koutsouvelis, ihren Kabinettschef, gezahlten Betrags gehörte ( 5 ).

III – Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

14.

Mit Klageschrift, die am 16. Juni 2009 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Rechtsmittelführerin eine Schadensersatzklage, mit der sie beantragte, den Rechnungshof zur Zahlung eines Betrags von 85000 Euro zuzüglich Zinsen ab 14. April 2009 als Ersatz des durch die Handlungen und Unterlassungen dieses Organs verursachten immateriellen Schadens zu verurteilen, wobei sie sich verpflichtete, diesen Betrag für die Veröffentlichung ihres Freispruchs zu verwenden.

15.

Die Rechtsmittelführerin stützte diese Klage zunächst auf sechs Klagegründe, die eine angebliche qualifizierte Verletzung von Bestimmungen des Unionsrechts, die dem Einzelnen Rechte verleihen, durch den Rechnungshof betrafen. Sodann machte sie das Vorliegen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verstoß und dem von ihr erlittenen immateriellen und materiellen Schaden geltend.

16.

Das Gericht wies die Klage ab, da es der Ansicht war, dass der Rechnungshof keinen der ihm vorgeworfenen Verstöße gegen das Unionsrecht begangen habe.

17.

Soweit für das vorliegende Rechtsmittel von Interesse, hat das Gericht in den Rn. 27 bis 32 des angefochtenen Urteils insbesondere entschieden, dass die Handlungen des Rechnungshofs im Zusammenhang mit der Voruntersuchung nicht rechtswidrig gewesen seien. Dieses Organ habe nämlich, indem es die Akte mit den ersten gesammelten Informationen an das OLAF übermittelt habe, bevor es die Rechtsmittelführerin angehört habe, weder gegen die Erfordernisse aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 des Beschlusses 99/50 verstoßen noch die Verteidigungsrechte der Rechtsmittelführerin verletzt oder gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit verstoßen.

18.

Das Gericht ist in den Rn. 44 bis 47 des angefochtenen Urteils zum einen ferner auf die Rüge eingegangen, wonach der Rechnungshof es unterlassen habe, nach dem Urteil vom 2. Oktober 2008 eine die Rechtsmittelführerin von allen gegen sie gerichteten Vorwürfen freisprechende förmliche Entscheidung zu erlassen, und zum anderen auf die Rüge, nach der der Präsident des Rechnungshofs in seinem Schreiben vom 13. Mai 2004 eine unfreundliche und überflüssige Bemerkung betreffend den von der Mehrheit der Mitglieder des Organs geäußerten Standpunkt gemacht habe. Die gerügten Randnummern lauten wie folgt:

„44

Die dem Rechnungshof vorgeworfene Unterlassung ist nicht rechtswidrig.

45

Hierzu ist erstens hervorzuheben, dass die Klägerin aufgrund von Zweifeln freigesprochen wurde, die laut dem Urteil vom 2. Oktober 2008 durch einige Erklärungen ihres Kabinettschefs während der öffentlichen Verhandlung aufgekommen sind. Ohne dass darüber befunden werden müsste, ob die vom Bezirksgericht Luxemburg aufgezeigten Zweifel angemessen sind, ist festzustellen, dass dieser Grund für den Freispruch nicht bedeutet, dass die Vorwürfe gegen die Klägerin jeder Grundlage entbehren, sondern, wie es dieses Gericht dargelegt hat, bedeutet, dass sie nicht ohne den ‚geringsten Zweifel‘ nachgewiesen wurden.

46

Zweitens ist es, wie der Rechnungshof geltend macht, ausschließlich Sache der nationalen Justizbehörden, die Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht zu prüfen, und Sache des Gerichtshofs, sie in disziplinarischer Hinsicht nach Art. 247 Abs. 7 EG zu würdigen. Der Rechnungshof war daher insoweit unzuständig.

47

Drittens kann aus der fehlenden Anrufung des Gerichtshofs nach letzterer Bestimmung nicht abgeleitet werden, dass der Rechnungshof der Ansicht wäre, die gegen die Klägerin vorgebrachten Tatsachen entbehrten jeder Grundlage. Nach Art. 6 der am 31. Januar 2002 beschlossenen Geschäftsordnung des Rechnungshofes wird nämlich die in Rede stehende Anrufung einstimmig beschlossen. Folglich bedeutet die fehlende Anrufung des Gerichtshofs zwar, dass die Einstimmigkeit nicht erreicht wurde, sie gilt jedoch nicht als Stellungnahme des Rechnungshofs zu den Tatsachen. In diesem Zusammenhang war es nicht unangemessen, dass der Präsident des Rechnungshofs die Klägerin darauf hinwies, dass die große Mehrheit der Mitglieder des Organs ihr Verhalten als inakzeptabel angesehen habe, so dass die fehlende Anrufung des Gerichtshofs nicht als eine Verneinung der Richtigkeit des Sachverhalts verstanden werden kann, was im Übrigen auch nicht der Wirklichkeit entspräche.“

19.

Schließlich ist das Gericht auf die Rüge eingegangen, wonach der Rechnungshof aufgrund seiner Fürsorgepflicht den Freispruch der Rechtsmittelführerin der Presse und den Organen hätte mitteilen müssen. Hierzu hat es unter Bezugnahme auf die in den Rn. 45 und 46 des angefochtenen Urteils dargelegten Gründe ausgeführt, dass aus der Fürsorgepflicht keine Verpflichtung zur Veröffentlichung des Freispruchs der Rechtsmittelführerin abgeleitet werden könne.

IV – Zur Stützung des Rechtsmittels geltend gemachte Rechtsmittelgründe und wesentliche Argumente

20.

Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf vier Gründe.

21.

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund rügt die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und gegen Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verstoßen. Dieser Grundsatz gewährleiste nämlich insbesondere, dass ein Unionsgericht die Unschuld einer angeklagten Person nicht in Zweifel ziehen könne, wenn diese Person zuvor durch die endgültige Entscheidung eines nationalen Strafgerichts entlastet worden sei. Daraus ergebe sich, dass die Auffassung des Gerichts in den Rn. 43 bis 46 und 49 des angefochtenen Urteils, wonach es nicht rechtswidrig gewesen sei, dass der Rechnungshof zum einen keine Entscheidung erlassen habe, in der festgestellt werde, dass sich die Rechtsmittelführerin endgültig nicht vor dem Gerichtshof verantworten müsse, und dass dieser zum anderen ihren Ruf nicht wiederhergestellt habe, fehlerhaft sei.

22.

Die Rechtsmittelführerin rügt insbesondere den Wortlaut von Rn. 45 des angefochtenen Urteils und ist der Ansicht, dass die Würdigung des Gerichts in diesem Punkt einen offenkundigen Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung darstelle. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könne nämlich der Umstand, dass der Freispruch der Rechtsmittelführerin durch einen Restzweifel begründet worden sei, nichts daran ändern, dass das Gericht verpflichtet sei, sein Urteil nicht auf den in Rede stehenden Grund für den Freispruch zu stützen.

23.

Der Rechnungshof entgegnet, der erste Rechtsmittelgrund beruhe auf einer Verkennung der Tragweite von Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1 der Charta. Die Unschuldsvermutung gelte nämlich für die angeklagte Person vor dem Gericht, das über ihre Schuld oder Unschuld in Bezug auf die vor ihm erhobenen Anklagepunkte zu entscheiden habe. Im Rahmen der von der Rechtsmittelführerin erhobenen Klage wegen außervertraglicher Haftung habe jedoch ihre Schuld im Hinblick auf das luxemburgische Strafrecht nicht in Rede gestanden. Das Gericht habe daher nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen können.

24.

Außerdem beruhe dieser Rechtsmittelgrund auf der unrichtigen Annahme, dass der Rechnungshof und das Gericht die Begründetheit des Urteils vom 2. Oktober 2008 überprüft hätten. Vielmehr hätten beide Organe dieses Urteil in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeit im Zusammenhang mit dieser Rechtssache akzeptiert und daraus die Schlüsse gezogen, die im Rahmen ihrer jeweiligen Entscheidungsfindungsprozesse erforderlich gewesen seien. Insbesondere habe das Gericht das Urteil vom 2. Oktober 2008 als eine Tatsache angesehen, die es bei der Würdigung der Rechtmäßigkeit der Handlungen und Unterlassungen des Rechnungshofs zu berücksichtigen gehabt habe.

25.

Der Rechnungshof leitet aus den Rn. 120 bis 122 des Urteils vom 11. Juli 2006, Kommission/Cresson ( 6 ), ab, dass nichts das Gericht daran hindere, zwar die Entscheidung des Bezirksgerichts Luxemburg anzuerkennen, nach der bestimmte der Rechtsmittelführerin vorgeworfene Tatsachen nicht ohne jeden Zweifel nachgewiesen und folglich die in Rede stehenden Personen von den auf ihnen lastenden Anklagepunkten der Verstöße gegen das luxemburgische Strafrecht freizusprechen gewesen seien, aber eine andere Würdigung dieser Tatsachen im Zusammenhang mit seiner Prüfung einer möglichen außervertraglichen Haftung des Rechnungshofs im Hinblick auf das Unionsrecht vorzunehmen. Dadurch habe das Gericht in keiner Weise das Urteil vom 2. Oktober 2008 oder die Unschuldsvermutung, die der Rechtsmittelführerin vor diesem Gericht zugutegekommen sei, in Frage gestellt.

26.

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund rügt die Rechtsmittelführerin, das Gericht habe gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gegenüber dem Bezirksgericht Luxemburg verstoßen, indem es die von Letzterem angestellten Erwägungen und Würdigungen verfälscht habe.

27.

Dieser Grundsatz bedeute, dass, wenn ein nationales Gericht ein Urteil erlassen habe, das rechtskräftig geworden und mit dem eine Person von den ihr angelasteten Verstößen freigesprochen worden sei, die Organe der Union einschließlich des Gerichts verpflichtet seien, ein solches Urteil zu beachten und Letzterem nicht seine praktische Wirksamkeit zu nehmen.

28.

Obwohl die in Rede stehenden Tatsachen mit denen identisch seien, über die das Bezirksgericht Luxemburg entschieden habe, habe das Gericht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen, indem es eine völlig andere Würdigung derselben Tatsachen vorgenommen habe.

29.

Außerdem habe das Gericht in Rn. 35 des angefochtenen Urteils den Schlussfolgerungen des Bezirksgerichts Luxemburg widersprochen, indem es ausgeführt habe, dass „die Verwaltung jedes Urlaubssystems sich auf die Verpflichtung des Vorgesetzten gründet, die Anwesenheit des Personals unter seiner Verantwortung zu überprüfen und sicherzustellen, dass jede Abwesenheit der anwendbaren Urlaubsregelung entspricht“, und dass „[d]iese Verpflichtung … vom etwaigen Fehlen eines integrierten Systems, mit dem unabhängig vom Vorgesetzten überprüft werden kann, dass die Anzahl der als nicht verbraucht erklärten Urlaubstage am Ende jedes Jahres mit der Wirklichkeit übereinstimmt, unberührt [bleibt]“.

30.

Schließlich habe das Gericht das Urteil vom 2. Oktober 2008 nicht beachtet, soweit es in Rn. 38 des angefochtenen Urteils dargelegt habe, dass „das zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende mangelhafte System der Urlaubsaufzeichnung und ‑überwachung des Rechnungshofs nicht rechtfertigen kann, dass jegliche Untersuchung oder Verfolgung gegenüber der [Klägerin] eingestellt wird“, obwohl genau dieses mangelhafte Urlaubsverwaltungssystem des Rechnungshofs zum Freispruch der Rechtsmittelführerin geführt habe.

31.

In Erwiderung auf dieses Vorbringen trägt der Rechnungshof vor, der zweite Rechtsmittelgrund beruhe auf einer Verkennung der jeweiligen Rolle der betreffenden Organe sowie der Tragweite von Art. 4 Abs. 3 EUV. Das Gericht habe nämlich das Urteil vom 2. Oktober 2008 weder erneut überprüft noch seinen Tenor in Frage gestellt. Die unterschiedliche Würdigung einiger Tatsachen erkläre sich durch den unterschiedlichen Kontext der beiden Rechtsstreitigkeiten, nämlich zum einen ein Strafverfahren nach nationalem Recht und zum anderen eine Klage wegen außervertraglicher Haftung nach dem Unionsrecht.

32.

Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, das angefochtene Urteil sei mit einem Zuständigkeitsmangel des Gerichts behaftet, da dieses Fragen entschieden habe, die die dem Gericht von den Verträgen verliehenen Zuständigkeiten überschritten.

33.

Zum einen habe das Gericht, obwohl es in Rn. 46 des angefochtenen Urteils anerkenne, dass es ausschließlich Sache der nationalen Justizbehörden sei, die Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht zu prüfen, die ihm von den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten überschritten, indem es in Rn. 45 des angefochtenen Urteils eine Würdigung in der Sache betreffend den auf dem Bestehen eines Zweifels beruhenden Freispruchsgrund vorgenommen habe.

34.

Zum anderen habe das Gericht auch die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten, indem es die Feststellungen in Rn. 47 des angefochtenen Urteils getroffen habe. Da nämlich der Gerichtshof das einzige Organ sei, das in der Lage sei, über die sich aus dem Verhalten der Mitglieder des Rechnungshofs ergebende disziplinarische Verantwortung zu entscheiden, sei das Gericht, genauso wie das letztgenannte Organ in seinem Schreiben vom 13. Mai 2004, nicht befugt, gegenüber der Rechtsmittelführerin auch nur einen Verdacht zu äußern, der ein inakzeptables Verhalten ihrerseits vermuten lasse.

35.

Der Rechnungshof erwidert, dieser dritte Rechtsmittelgrund sei als teilweise unzulässig, soweit er einfach das Vorbringen in erster Instanz zum Schreiben vom 13. Mai 2004 wiederhole, und teilweise unbegründet zurückzuweisen.

36.

Zum letztgenannten Punkt bringt er erneut vor, das Gericht habe das Urteil vom 2. Oktober 2008 in keiner Weise in Frage gestellt. Die Beurteilung ein und desselben Verhaltens könne je nach der zuständigen Stelle zu unterschiedlichen Schlüssen führen.

37.

Mit ihrem vierten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union fehlerhaft ausgelegt und angewandt. Hinsichtlich der Frage der Verwendung einer gefälschten Urkunde habe das Gericht nämlich eine zusätzliche und nicht erforderliche Voraussetzung (die „Bösgläubigkeit“) aufgestellt, indem es in Rn. 32 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass „die etwaige Übermittlung des in Rede stehenden Dokuments durch den Rechnungshof entweder an das OLAF oder an die luxemburgischen Behörden nicht bedeutet, dass das Organ in Bezug auf die Echtheit der Unterschrift der Klägerin bösgläubig gehandelt hat“.

38.

Außerdem habe das Gericht auch einen Rechtsfehler bei der Auslegung von Art. 2 Unterabs. 2 des Beschlusses 99/50 in Verbindung mit seinem Art. 4 Unterabs. 1 begangen, indem es entschieden habe, dass die bloße Mitteilung des Bestehens einer vom OLAF geführten internen Untersuchung an die Rechtsmittelführerin hinreichend und es daher nicht erforderlich gewesen sei, sie von der Voruntersuchung durch den Rechnungshof zu unterrichten.

39.

Nach Ansicht des Rechnungshofs sind die in diesem vierten Rechtsmittelgrund enthaltenen Rügen unzulässig, da sie darin bestünden, zum einen die erneute Würdigung des für den vorliegenden Fall maßgeblichen Sachverhalts zu begehren und zum anderen schlicht die in erster Instanz vorgetragenen Argumente, insbesondere hinsichtlich der Rüge der fehlenden Mitteilung der Voruntersuchung, zu wiederholen.

40.

In der Sache habe das Gericht in Rn. 32 des angefochtenen Urteils keine zusätzliche Voraussetzung für die außervertragliche Haftung der Union aufgestellt, indem es festgestellt habe, dass die bloße Übermittlung eines Dokuments an das OLAF oder die luxemburgischen Behörden kein Hinweis für eine Bösgläubigkeit des Rechnungshofs in Bezug auf die Echtheit der Unterschrift der Rechtsmittelführerin sei. Ebenso habe das Gericht keinen Fehler bei der Auslegung von Art. 2 Unterabs. 2 des Beschlusses 99/50 begangen, da diese Bestimmung nicht dazu verpflichte, die Einleitung einer Voruntersuchung der Person mitzuteilen, die der Unregelmäßigkeiten verdächtigt werde, sondern bloß verlange, dass der Generalsekretär die im Rahmen einer solchen Untersuchung gesammelten Informationen unverzüglich an das OLAF übermittle.

V – Würdigung

41.

Ich werde in einem ersten Schritt den ersten bis dritten der von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Rechtsmittelgründe gemeinsam prüfen, da sich die Argumente, auf die sie gestützt sind, überschneiden oder dieselben Punkte des angefochtenen Urteils betreffen. Sodann werde ich in einem zweiten Schritt den vierten Rechtsmittelgrund prüfen.

A – Zu den Rechtsmittelgründen betreffend einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sowie die Unzuständigkeit des Gerichts

42.

Mit den ersten drei Rechtsmittelgründen sollen im Wesentlichen die Erwägungen des Gerichts in den Rn. 44 bis 49 des angefochtenen Urteils in Frage gestellt werden.

43.

Insoweit ist es wesentlich, sich die Rügen vor Augen zu führen, auf die das Gericht in diesem Teil des angefochtenen Urteils eingehen wollte.

44.

Erstens rügte die Rechtsmittelführerin, dass der Rechnungshof es versäumt habe, nach dem Urteil vom 2. Oktober 2008 eine förmliche Entscheidung zu erlassen, mit der sie von allen gegen sie gerichteten Vorwürfen freigesprochen werde, da Handlungen, die eine Verweisung der Rechtssache an den Gerichtshof nach Art. 247 Abs. 7 EG rechtfertigten, nicht nachgewiesen worden seien. Ihrer Erachtens hätte der Rechnungshof mit dieser Entscheidung darauf verzichten müssen, den Gerichtshof nach dieser Bestimmung anzurufen.

45.

Zweitens rügte die Rechtsmittelführerin, dass der Präsident des Rechnungshofs gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit und die Fürsorgepflicht verstoßen habe, indem er im Schreiben vom 13. Mai 2004 eine unfreundliche und überflüssige Bemerkung betreffend den von der Mehrheit der Mitglieder des Organs geäußerten Standpunkt gemacht habe.

46.

Drittens machte die Rechtsmittelführerin geltend, der Rechnungshof hätte aufgrund seiner Fürsorgepflicht ihren Freispruch der Presse und den Organen mitteilen müssen.

47.

Ich weise vorab darauf hin, dass das Gericht meines Erachtens diese drei Punkte des Vorbringens der Rechtsmittelführerin zu Recht zurückgewiesen hat.

48.

Wie Letztere jedoch geltend macht, ist die Argumentation des Gerichts in Rn. 45 des angefochtenen Urteils im Hinblick auf die Unschuldsvermutung problematisch.

49.

Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta „[gilt j]eder Angeklagte … bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig“. Diese Bestimmung entspricht Art. 6 Abs. 2 EMRK. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta hat das Recht auf die Unschuldsvermutung die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das entsprechende von der EMRK garantierte Recht.

50.

Die Unschuldsvermutung muss sowohl vor als auch nach dem Strafverfahren garantiert werden. Art. 6 Abs. 2 EMRK soll nämlich auch „verhindern, dass die Personen, die freigesprochen wurden oder gegen die die Verfolgung eingestellt wurde, von öffentlichen Bediensteten oder Behörden so behandelt werden, wie wenn sie tatsächlich der ihnen angelasteten Zuwiderhandlungen schuldig wären“ ( 7 ). Die Garantie des Rechts auf die Unschuldsvermutung nach einem Strafverfahren erklärt sich aus der Tatsache, dass „[o]hne darauf abzielenden Schutz, dass in jedem weiteren Verfahren ein Freispruch oder eine Einstellung der Verfolgung beachtet wird, die Garantien eines fairen Verfahrens nach Art. 6 [Abs. 2 EMRK] Gefahr liefen, theoretisch und illusorisch zu werden. Sobald das Strafverfahren abgeschlossen ist, steht auch der Ruf des Betroffenen und die Art, in der dieser in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, auf dem Spiel.“ ( 8 )

51.

Entsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass „sich der Anwendungsbereich von Art. 6 [Abs. 2 EMRK] nicht auf anhängige Strafverfahren beschränkt, sondern sich auf gerichtliche Entscheidungen nach der Einstellung der Verfolgung … oder nach einem Freispruch … erstrecken kann, soweit die in diesen Rechtssachen aufgeworfenen Fragen eine Folge und Ergänzung der betreffenden Strafverfahren darstellen, in denen der Kläger den Status des ‚Angeklagten‘ hatte“ ( 9 ). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht sodann der Frage nach, ob die nach einem Strafverfahren befassten nationalen Behörden und Gerichte „durch ihr Vorgehen, die Gründe ihrer Entscheidungen oder die in ihrer Begründung verwendete Sprache“ ( 10 )„die Unschuld des Klägers in Frage gestellt und so den Grundsatz der Unschuldsvermutung beeinträchtigt haben“ ( 11 ).

52.

Wie sich insbesondere aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 27. September 2007, Vassilios Stavropoulos/Griechenland, ergibt, „[ist] die Äußerung eines Verdachts gegen die Unschuld einer Person nach einem endgültigen Freispruch nicht mehr hinnehmbar“ ( 12 ). Nach der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs „ist, sobald der Freispruch endgültig ist – selbst wenn es sich um einen Freispruch im Zweifel nach Art. 6 [Abs. 2 EMRK] handelt –, eine Äußerung von Zweifeln in Bezug auf die Schuld einschließlich solcher, die die Gründe für den Freispruch betreffen, nicht mit der Unschuldsvermutung vereinbar“ ( 13 ).

53.

Im selben Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt, dass „nach dem Grundsatz in dubio pro reo, bei dem es sich um eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung handelt, kein qualitativer Unterschied zwischen einem Freispruch aus Mangel an Beweisen und einem Freispruch nach einer zweifelsfreien Feststellung der Unschuld einer Person bestehen darf. Freisprechende Urteile werden nämlich nicht nach den jeweils vom Strafrichter im Einzelfall erwogenen Gründen unterschieden. Im Gegenteil ist im Rahmen von Art. 6 [Abs. 2 EMRK] der Tenor eines freisprechenden Urteils von jeder anderen Behörde zu beachten, die unmittelbar oder inzident über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Betroffenen entscheidet.“ ( 14 )

54.

Angesichts dieser Rechtsprechung scheint mir der Wortlaut von Rn. 45 des angefochtenen Urteils angreifbar zu sein.

55.

Ich weise darauf hin, dass das Gericht in diesem Punkt zunächst hervorgehoben hat, dass die Rechtsmittelführerin „aufgrund von Zweifeln freigesprochen wurde, die laut dem Urteil vom 2. Oktober 2008 durch einige Erklärungen ihres Kabinettschefs während der öffentlichen Verhandlung aufgekommen sind“. Das Gericht hat weiter ausgeführt: „Ohne dass darüber befunden werden müsste, ob die vom Bezirksgericht Luxemburg aufgezeigten Zweifel angemessen sind, ist festzustellen, dass dieser Grund für den Freispruch nicht bedeutet, dass die Vorwürfe gegen die Klägerin jeder Grundlage entbehren, sondern, wie es dieses Gericht dargelegt hat, bedeutet, dass sie nicht ohne den ‚geringsten Zweifel‘ nachgewiesen wurden.“

56.

In diesem Teil seiner Erwägungen stützt sich das Gericht auf den Grund für den Freispruch im Strafverfahren und betont, dass es sich um einen Freispruch nach dem Grundsatz in dubio pro reo handle, um das Nichterlassen einer die Rechtsmittelführerin von allen Vorwürfen freisprechenden förmlichen Entscheidung durch den Rechnungshof zu rechtfertigen. Es verwendet daher den Freispruchsgrund, um das Vorliegen eines Fehlers des Rechnungshofs zu verneinen und daraus eine Konsequenz für die Würdigung der Schadensersatzklage in der Sache zu ziehen. Zusammengefasst ergibt sich aus Rn. 45 des angefochtenen Urteils die Begründung, dass der Rechnungshof, da die Rechtsmittelführerin nach dem Grundsatz in dubio pro reo freigesprochen worden sei und dieser Freispruchsgrund nicht hinreiche, um den Vorwürfen gegen sie jede Grundlage zu entziehen, den Erlass einer sie von allen gegen sie gerichteten Vorwürfen freisprechenden förmlichen Entscheidung nach dem Urteil vom 2. Oktober 2008 zu Recht verweigert habe.

57.

Das Gericht erweckt durch diese Formulierung seiner Erwägungen den Eindruck, es sei der Ansicht, ein Freispruch nach dem Grundsatz in dubio pro reo habe weniger Gewicht als ein Freispruch, der auf einer unmittelbareren Feststellung der Unschuld der Rechtsmittelführerin beruhe. Es schwächt die Entscheidung des Strafrichters ab, was gleichzeitig zu Zweifeln an der Unschuld der Rechtsmittelführerin beiträgt.

58.

Da es somit gegen die Vermutung der Unschuld der Rechtsmittelführerin verstoßen hat, hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen.

59.

Meiner Ansicht nach kann die Feststellung dieses Fehlers jedoch nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. Nach ständiger Rechtsprechung ist nämlich ein Rechtsmittel zurückzuweisen, wenn zwar die Gründe des Urteils des Gerichts eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, die Urteilsformel sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist ( 15 ).

60.

Ich weise insoweit darauf hin, dass das Gericht zu Recht in Rn. 46 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, dass „[es] ausschließlich Sache der nationalen Justizbehörden [ist], die Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht zu prüfen, und Sache des Gerichtshofs, sie in disziplinarischer Hinsicht nach Art. 247 Abs. 7 EG zu würdigen“. Es hat daraus zutreffend abgeleitet, dass „[d]er Rechnungshof … daher insoweit unzuständig [war]“.

61.

Es ist nämlich offensichtlich, dass der Rechnungshof nicht befugt ist, eine freisprechende Entscheidung, sei es in strafrechtlicher oder disziplinarischer Hinsicht, zu erlassen. Außerdem war der Rechnungshof keineswegs zur Veröffentlichung des Freispruchs der Rechtsmittelführerin verpflichtet. Das Gericht hat daher diese beiden Postulate der Rechtsmittelführerin auf der Grundlage der Erwägungen in Rn. 46 des angefochtenen Urteils zu Recht zurückgewiesen.

62.

Die einzige Befugnis des Rechnungshofs im Zusammenhang mit der vorliegenden Rechtssache war die Entscheidung, den Gerichtshof nach Art. 247 Abs. 7 EG anzurufen oder nicht, damit dieser im Sinne letzterer Bestimmung über das Vorliegen eines Verstoßes gegen eine Verpflichtung befindet, die sich aus dem Amt als Mitglied des Rechnungshofs ergibt.

63.

In dieser Hinsicht wäre die Begründung des Gerichts überzeugender und gleichzeitig vollständiger gewesen, hätte es die Eigenständigkeit von Straf- bzw. Disziplinarverfahren stärker betont.

64.

Sowohl in erster Instanz als auch im Stadium des vorliegenden Rechtsmittels stützte sich das Vorbringen der Rechtsmittelführerin großteils auf den Gedanken, dass es in gewisser Weise einen automatischen Zusammenhang zwischen einem strafrechtlichen Freispruch und dem Erlass einer Entscheidung durch den Rechnungshof gebe, mit der dieser darauf verzichtet, den Gerichtshof nach Art. 247 Abs. 7 EG anzurufen.

65.

Dieses Vorbringen der Rechtsmittelführerin ist völlig unzutreffend, wie sowohl aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch aus der des Gerichtshofs der Europäischen Union abgeleitet werden kann.

66.

Erstens steht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall des Freispruchs im Strafverfahren oder der Einstellung der Verfolgung das Recht auf Unschuldsvermutung der weiteren Einleitung von Disziplinarverfahren oder Schadensersatzklagen auf der Grundlage desselben Sachverhalts keineswegs entgegen.

67.

So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt, dass Disziplinarorgane in den Fällen, mit denen sie befasst sind, den Sachverhalt unabhängig würdigen können, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen für die Straftaten und die Disziplinarverstöße nicht identisch sind ( 16 ). In diesem Zusammenhang steht die Feststellung, dass Sachverhalte nicht als Straftaten eingestuft werden können, der Einleitung eines Disziplinarverfahrens auf der Grundlage desselben Sachverhalts nicht entgegen. Unter dem Blickwinkel des Rechts auf Unschuldsvermutung ist die einzige Grenze, dass im Disziplinarverfahren die strafrechtliche Unschuld der betroffenen Person nicht in Frage gestellt werden darf.

68.

Außerdem hat auf dem Gebiet der Schadensersatzklagen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 11. Februar 2003, Ringvold/Norwegen ( 17 ), anerkannt, dass „die Entschädigungsfrage Gegenstand einer gesonderten rechtlichen Prüfung sein musste, die auf Kriterien und Beweisanforderungen beruht, die sich in mehreren wesentlichen Punkten von den im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung anwendbaren unterscheiden“ ( 18 ). Entsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass „zwar der Freispruch im Strafverfahren im Rahmen des Schadensersatzprozesses nicht in Frage gestellt werden darf, dies jedoch nicht der Feststellung einer zivilrechtlichen Haftung aufgrund desselben Sachverhalts auf der Grundlage weniger strenger Beweisanforderungen entgegenstehen darf, die mit der Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigung verbunden ist“ ( 19 ).

69.

Zweitens hat der Gerichtshof aufgrund einer vergleichbaren Erwägung in seinem Urteil Kommission/Cresson die Eigenständigkeit von Strafverfahren einerseits und eines auf Art. 213 Abs. 2 EG gestützten Verfahrens zur Verhängung einer Sanktion bei Verletzung der sich aus dem Amt als Mitglied der Europäischen Kommission ergebenden Pflichten andererseits hervorgehoben.

70.

In diesem Urteil hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass er „nicht an die rechtliche Würdigung des Sachverhalts im Rahmen des Strafverfahrens gebunden“ ( 20 ) war und er „nach freiem Ermessen zu prüfen [hatte], ob der im Rahmen eines auf Artikel 213 Absatz 2 EG gestützten Verfahrens gerügte Sachverhalt eine Verletzung der sich aus dem Amt als Kommissionsmitglied ergebenden Pflichten darstellt[e]“ ( 21 ). Der Gerichtshof ist daher zu dem Ergebnis gekommen, dass der Beschluss der Chambre du conseil des Tribunal de première instance de Bruxelles (Belgien), mit dem das Fehlen von Anklagepunkten gegen Frau Cresson festgestellt worden war, ihn nicht band ( 22 ).

71.

Diese auf die Eigenständigkeit von Straf- und Disziplinarverfahren gestützten Erwägungen sind auf das zum hier maßgeblichen Zeitpunkt in Art. 247 Abs. 7 EG vorgesehene und nunmehr in Art. 286 Abs. 6 AEUV geregelte Verfahren übertragbar. Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof, wenn er zu prüfen hat, ob ein Mitglied des Rechnungshofs gegen die sich aus seinem Amt ergebenden Pflichten verstoßen hat oder nicht, durch ein die betreffende Person freisprechendes Strafurteil nicht gebunden ist.

72.

Auf derselben Grundlage, die auf die Eigenständigkeit von Straf- und Disziplinarverfahren abstellt, kann der Rechnungshof als zur Anrufung des Gerichtshofs zuständige Stelle durch ein solches Strafurteil nicht gebunden sein. Insbesondere hindert, um klar auf das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zu antworten, das Vorliegen eines Freispruchs im Strafverfahren den Rechnungshof in keiner Weise, den Gerichtshof nach Art. 286 Abs. 6 AEUV anzurufen. In einem solchen Fall behält der Rechnungshof sein Beurteilungsermessen in Bezug auf die etwaige Anrufung des Gerichtshofs.

73.

Ich leite aus alledem ab, dass ein Strafverfahren vor einem nationalen Gericht und das Verfahren nach Art. 247 Abs. 7 EG, jetzt Art. 286 Abs. 6 AEUV, nicht nur hinsichtlich ihres Gegenstands und ihres Zwecks unterschiedlich sind, sondern auch im Hinblick auf ihre Natur und den erforderlichen Beweisgrad. Obwohl sich die beiden Verfahren auf denselben Sachverhalt gründen, sind sie unabhängig, so dass ein Freispruch im Strafverfahren weder den Rechnungshof daran hindert, den Gerichtshof anzurufen, noch Letzteren, über das Vorliegen eines Verstoßes gegen die sich aus dem Amt als Mitglied des Rechnungshofs ergebenden Pflichten zu entscheiden, vorausgesetzt, die Würdigung des Strafrichters wird nicht in Frage gestellt.

74.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Akte, dass das Bezirksgericht Luxemburg in seinem Urteil vom 2. Oktober 2008 der Ansicht war, dass der Sachverhalt, wie er festgestellt wurde, nicht als Straftat im Sinne des luxemburgischen Rechts eingestuft werden konnte.

75.

Diese Beurteilung des Bezirksgerichts Luxemburg bedeutet jedoch nicht, dass der Rechnungshof davon ausgehen musste, dass ihm in Bezug auf die Verstöße bei der Urlaubsverwaltung die Anrufung des Gerichtshofs verwehrt sei. Zum einen ist nämlich der Grad der Genauigkeit des Sachverhalts oder der Beweise, der für die Einstufung als Straftat erforderlich ist, nicht notwendigerweise derselbe wie der, der für die Feststellung eines Verstoßes gegen die sich aus dem Amt als Mitglied des Rechnungshofs ergebenden Pflichten erforderlich ist. Zum anderen wäre es jedenfalls ausschließlich Sache des Gerichtshofs, würde er nach Art. 286 Abs. 6 AEUV angerufen, den Umfang der Rechtskraft zu beurteilen, der gegebenenfalls einem nationalen Strafurteil zuerkannt werden müsste.

76.

Daraus folgt, dass die Weigerung des Rechnungshofs, eine förmliche freisprechende Entscheidung zu erlassen und einen automatischen Zusammenhang zwischen dem Freispruch im Strafverfahren und der Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 247 Abs. 7 EG anzuerkennen, völlig gerechtfertigt war und im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels nicht mit dem Argument in Frage gestellt werden kann, dass die Zurückweisung des auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Weigerung gerichteten Vorbringens der Rechtsmittelführerin durch das Gericht einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung oder den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit darstelle.

77.

Im Einklang mit der Eigenständigkeit von Straf- und Disziplinarverfahren und in Ausübung seines Beurteilungsermessens hat der Rechnungshof auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen untersucht, ob die der Rechtsmittelführerin vorgeworfenen Tatsachen einen hinreichenden Schweregrad aufwiesen ( 23 ), um den Gerichtshof nach Art. 247 Abs. 7 EG anzurufen. Wie das Schreiben des Rechnungshofs vom 7. Juli 2009 zeigt, hat dieser bei der Entscheidung, den Gerichtshof zu dem die Urlaubsverwaltung betreffenden Aspekt nicht anzurufen, nicht nur den Freispruch der Rechtsmittelführerin im Strafverfahren berücksichtigt. Er hat auch andere Parameter erwogen ( 24 ).

78.

Ich werde nun die Rügen der Rechtsmittelführerin betreffend Rn. 47 des angefochtenen Urteils prüfen.

79.

In dieser Randnummer geht das Gericht auf das Vorbringen der Rechtsmittelführerin ein, der Präsident des Rechnungshofs habe gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit und die Fürsorgepflicht verstoßen, indem er in seinem Schreiben vom 13. Mai 2004 eine unfreundliche und überflüssige Bemerkung betreffend den von der Mehrheit der Mitglieder des Organs geäußerten Standpunkt gemacht habe.

80.

Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin hat das Gericht die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten und eine fehlerhafte Auslegung des Zuständigkeitsbereichs des Rechnungshofs bestätigt, als es in dieser Randnummer festgestellt habe, dass „es nicht unangemessen [war], dass der Präsident des Rechnungshofs die Klägerin darauf hinwies, dass die große Mehrheit der Mitglieder des Organs ihr Verhalten als inakzeptabel angesehen habe, so dass die fehlende Anrufung des Gerichtshofs nicht als Verneinung des Vorliegens des Sachverhalts verstanden werden kann“.

81.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der die gerügte Bemerkung enthaltende Teil des Schreibens vom 13. Mai 2004 ausschließlich die Behauptungen betreffend die persönlichen Darlehen zugunsten der Rechtsmittelführerin betrifft. Dieser Aspekt der Rechtssache war von dem zum Urteil vom 2. Oktober 2008 führenden Strafverfahren nicht umfasst. Der Freispruch der Rechtsmittelführerin in strafrechtlicher Hinsicht ist daher im Rahmen der Prüfung von Rn. 47 des angefochtenen Urteils nicht von Bedeutung.

82.

Dies vorausgeschickt, ist das Gericht meines Erachtens innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs geblieben, als es zum einen festgestellt hat, dass die fehlende Anrufung des Gerichtshofs nicht einer Verneinung der Richtigkeit des Sachverhalts gleichkam, und zum anderen, dass der Präsident des Rechnungshofs die gerügte Bemerkung an die Rechtsmittelführerin richten durfte.

83.

Die Würdigung in Rn. 47 des angefochtenen Urteils ist nämlich eine Antwort des Gerichts auf die Rüge der Klägerin, die Bemerkung des Präsidenten des Rechnungshofs in seinem Schreiben vom 13. Mai 2004 habe gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit und die Fürsorgepflicht verstoßen. Indem das Gericht im Rahmen der bei ihm anhängigen Klage wegen außervertraglicher Haftung auf diesen Gesichtspunkt eingegangen ist, hat es die Grenzen seiner Zuständigkeit nicht überschritten.

84.

Überdies ist die Nichtanrufung des Gerichtshofs durch den Rechnungshof Ausdruck dessen, dass nicht alle Mitglieder des letzteren Organs der Ansicht waren, dass der in Rede stehende Verstoß einen hinreichenden Schweregrad aufwies, um den Gerichtshof nach Art. 247 Abs. 7 EG anzurufen. Die Feststellung, dass in diesem Punkt keine Einstimmigkeit erzielt wurde, bedeutet nicht, dass kein Verstoß vorlag. Hierzu ist entsprechend dem Verfahren für Kommissionsmitglieder darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Cresson ausgeführt hat, dass für eine Verurteilung nach Art. 213 Abs. 2 EG eine Pflichtverletzung von einem gewissen Schweregrad vorliegen muss ( 25 ). Der Präsident des Rechnungshofs konnte daher im Rahmen seiner Zuständigkeit, und ohne gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit und die Fürsorgepflicht zu verstoßen, der Rechtsmittelführerin das Ergebnis der Abstimmung mitteilen und sie davon in Kenntnis setzen, dass die Mehrheit der Mitglieder des Rechnungshofs der Ansicht gewesen sei, dass ihr Verhalten völlig unangemessen gewesen sei, auch wenn es nicht einstimmig als hinreichend schwerwiegend angesehen worden sei, um eine Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 247 Abs. 7 EG zu rechtfertigen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Schreiben vom 13. Mai 2004 ausschließlich an die Rechtsmittelführerin gerichtet war und nichts in der Akte darauf hindeutet, dass es an andere Personen als seine Adressatin übermittelt wurde.

85.

Ich bin daher der Meinung, dass das Gericht in seinen Erwägungen in Rn. 47 des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler begangen hat. Ich weise nur darauf hin, dass das Gericht streng genommen die Einstufung des Verhaltens der Rechtsmittelführerin wie im Schreiben vom 13. Mai 2004, nämlich als „völlig unangemessen“ ( 26 ), hätte übernehmen müssen, statt es als „inakzeptabel“ einzustufen. Diese unterschiedliche Formulierung reicht jedoch meines Erachtens nicht aus, um das Vorliegen eines Rechtsfehlers festzustellen. Außerdem hat sich die Rechtsmittelführerin in diesem Punkt darauf beschränkt, eine Bemerkung in ihre Rechtsmittelschrift aufzunehmen, ohne daraus einen unmittelbaren Schluss auf das Vorliegen eines Rechtsfehlers zu ziehen ( 27 ).

86.

Schließlich bin ich der Ansicht, dass die Rn. 35 und 38 des angefochtenen Urteils im Hinblick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht zu beanstanden sind. Das Gericht hat nämlich zu Recht, und ohne das Urteil vom 2. Oktober 2008 in Frage zu stellen, im Wesentlichen festgestellt, dass das mangelhafte Urlaubsaufzeichnungs- und ‑überwachungssystem des Rechnungshofs zum einen nichts an der Verpflichtung des Vorgesetzten ändert, die Anwesenheit des ihm unterstellten Personals zu überprüfen und sicherzustellen, dass jede Abwesenheit der Urlaubsregelung entspricht, und zum anderen nicht rechtfertigen kann, dass jegliche Untersuchung oder Verfolgung gegenüber der Rechtsmittelführerin eingestellt wird.

87.

Da die Prüfung des ersten bis dritten Rechtsmittelgrundes der Rechtsmittelführerin mich nicht dazu veranlasst, dem Gerichtshof die Aufhebung des angefochtenen Urteils vorzuschlagen, werde ich nun den vierten Rechtsmittelgrund prüfen.

B – Zum vierten Rechtsmittelgrund: fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in Bezug auf die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union und den Beschluss 99/50

88.

Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin hat das Gericht einen Rechtsfehler bei der Auslegung von Art. 2 Unterabs. 2 des Beschlusses 99/50 in Verbindung mit seinem Art. 4 Unterabs. 1 begangen, da es entschieden habe, dass die bloße Mitteilung des Bestehens einer vom OLAF geführten internen Untersuchung an die Rechtsmittelführerin hinreichend gewesen sei und es daher nicht erforderlich gewesen sei, sie von der Voruntersuchung durch den Rechnungshof zu unterrichten.

89.

Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin ist das Gericht meines Erachtens in den Rn. 29 und 30 des angefochtenen Urteils zu Recht davon ausgegangen, dass Art. 4 des Beschlusses 99/50 den Rechnungshof weder verpflichtet, der Rechtsmittelführerin den Inhalt der nach Art. 2 dieses Beschlusses angelegten Akte über die Voruntersuchung bekannt zu geben, noch sie vor der Übermittlung dieser Akte an das OLAF anzuhören.

90.

Nach Art. 2 Unterabs. 2 des Beschlusses 99/50 obliegt dem Generalsekretär die Verpflichtung, dem OLAF unverzüglich jeden faktischen Hinweis, der Unregelmäßigkeiten vermuten lässt, zu übermitteln und, unbeschadet interner Untersuchungen des OLAF, eine Voruntersuchung durchzuführen.

91.

Wie das Gericht in Rn. 29 des angefochtenen Urteils darlegt, hat die Voruntersuchung, auf die sich diese Bestimmung bezieht, den Zweck, zum einen dem Generalsekretär die Beurteilung zu ermöglichen, ob die ihm zur Kenntnis gebrachten Umstände Unregelmäßigkeiten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union vermuten lassen, und zum anderen dem OLAF nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1073/1999 eine Akte zu übermitteln, die es Letzterem ermöglicht, zu beurteilen, ob eine interne Untersuchung nach Art. 5 Unterabs. 2 dieser Verordnung einzuleiten ist.

92.

Die Voruntersuchung stellt somit die Phase dar, in der Informationen über behauptete Unregelmäßigkeiten gesammelt werden und Gegenstand von Überprüfungen sind, um zu beurteilen, ob eine interne Untersuchung einzuleiten ist. Mit anderen Worten müssen die Informationen zur Stützung solcher Behauptungen geprüft werden, um ihre Plausibilität zu beurteilen, bevor sie an die für die Einleitung einer internen Untersuchung zuständigen Behörden, im vorliegenden Fall das OLAF, übermittelt werden.

93.

Da die Voruntersuchung nicht die Aufgabe hat, zur Annahme von Schlüssen über die fragliche Person zu führen, hat das Gericht in Rn. 29 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, dass die sich aus Art. 4 Unterabs. 1 Satz 2 des Beschlusses 99/50 ergebende Verpflichtung nicht die Handlungen des Generalsekretärs im Rahmen von Art. 2 dieses Beschlusses betrifft.

94.

In dieser Vorphase der Sammlung und Beurteilung der Informationen zur Stützung der Vorwürfe betreffend Unregelmäßigkeiten ist die Gefahr des Drucks auf Zeugen besonders groß. Es ist daher unabdingbar, dass weder die Wahrheitsfindung noch die Effizienz der Voruntersuchung behindert werden.

95.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Unterabs. 1 Satz 1 des Beschlusses 99/50 – soweit man davon ausgehen kann, dass diese Bestimmung sowohl die interne Untersuchung als auch die Voruntersuchung betrifft – die Regel, nach der die Person, gegen die Vorwürfe wegen Unregelmäßigkeiten erhoben werden, rasch von der Möglichkeit ihrer persönlichen Betroffenheit zu unterrichten ist, eine wesentliche Einschränkung enthält, nämlich dass diese Information erfolgt, „sofern dies nicht die Untersuchung beeinträchtigt“.

96.

Es steht fest, dass die Rechtsmittelführerin mit den Schreiben vom 8. und 26. April 2002 über die Eröffnung der Untersuchung des OLAF, über deren Gegenstand, die Identität der die Untersuchung führenden Personen und die Tatsache, dass diese sie zur Zusammenarbeit aufforderten, unterrichtet wurde. Außerdem wurde die Rechtsmittelführerin mit dem Schreiben vom 26. April 2002 darüber unterrichtet, dass vom Rechnungshof eine Voruntersuchung durchgeführt und eine diesbezügliche Akte an das OLAF übermittelt worden sei. Diese Mitteilungen entsprechen den Erfordernissen von Art. 4 Unterabs. 1 Satz 1 des Beschlusses 99/50, da sie den Grundsatz einer raschen Unterrichtung der betroffenen Person mit dem Erfordernis, die Effizienz der Untersuchung sicherzustellen, in Einklang bringen. Im Übrigen ist eine rasche Unterrichtung nicht gleichbedeutend mit einer Unterrichtung unmittelbar nach dem Beginn der Untersuchung.

97.

Das Vorbringen der Rechtsmittelführerin, mit dem die Erwägungen des Gerichts in den Rn. 29 und 30 des angefochtenen Urteils in Frage gestellt werden sollen, ist daher unbegründet.

98.

Dasselbe gilt für die Rüge, wonach das Gericht in Rn. 32 des angefochtenen Urteils die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union fehlerhaft ausgelegt und angewandt habe. Insoweit genügt der Hinweis, dass die Würdigung des Gerichts, dass „die etwaige Übermittlung des in Rede stehenden Dokuments durch den Rechnungshof entweder an das OLAF oder an die luxemburgischen Behörden nicht bedeutet, dass das Organ in Bezug auf die Echtheit der Unterschrift der Klägerin bösgläubig gehandelt hat“, nur hilfsweise erfolgte. Das Gericht hat nämlich festgestellt, es sei nicht nachgewiesen, dass das streitige Dokument, hinsichtlich dessen die Echtheit der Unterschrift bestritten worden sei, an das OLAF oder die luxemburgischen Behörden übermittelt worden sei. Da diese Feststellung in keiner Weise in Frage gestellt wird, ist letztere Rüge als ins Leere gehend anzusehen.

99.

Demnach ist der vierte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Das Rechtsmittel ist folglich insgesamt zurückzuweisen.

VI – Ergebnis

100.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

das Rechtsmittel zurückzuweisen und

Frau Kalliopi Nikolaou die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) T‑241/09, im Folgenden: angefochtenes Urteil.

( 3 ) Im Folgenden: Generalsekretär.

( 4 ) ABl. L 136, S. 1.

( 5 ) Rn. 47 bis 49 des Schreibens vom 7. Juli 2009.

( 6 ) C-432/04, Slg. 2006, I-6387.

( 7 ) Vgl. EGMR, Urteil vom 12. Juli 2013, Allen/Vereinigtes Königreich (§ 94).

( 8 ) Ebd.

( 9 ) Vgl. EGMR, Urteil vom 4. Juni 2013, Teodor/Rumänien (§ 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Ebd. (§ 40).

( 11 ) Ebd.

( 12 ) § 38 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 13 ) Ebd.

( 14 ) EGMR, Urteil Vassilios Stavropoulos/Griechenland (§ 39). Vgl. auch EGMR, Urteil vom 13. Juli 2010, Tendam/Spanien (§ 39).

( 15 ) Vgl. u. a. Urteil vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission (C‑221/10 P, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 14. Januar 2010, Vanjak/Kroatien (§ 69 bis 72).

( 17 ) Reports of judgments and decisions 2003-II.

( 18 ) § 38.

( 19 ) Ebd.

( 20 ) Rn. 121.

( 21 ) Ebd.

( 22 ) Rn. 122.

( 23 ) Urteil Kommission/Cresson (Rn. 72).

( 24 ) Diese anderen, in Rn. 48 dieses Schreibens genannten Parameter sind folgende: die „Tatsache, dass in Anbetracht der Rückzahlung des zu Unrecht an Herrn Koutsouvelis gezahlten Betrags kein Schaden für den Gemeinschaftshaushalt entstanden ist“, die „seit den betreffenden Ereignissen vergangene Zeit“, das „Gebrechen“ der Rechtsmittelführerin sowie der „Stress, der [ihr] für die Dauer des Strafverfahrens verursacht wurde“.

( 25 ) Rn. 72.

( 26 ) Vgl. Rn. 8 des angefochtenen Urteils.

( 27 ) Vgl. Fn. 1 der Rechtsmittelschrift.