SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 4. September 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑140/13

Annett Altmann,

Torsten Altmann,

Hans Abel,

Doris Anschütz,

Heinz Anschütz,

Simone Arnold,

Barbara Assheuer,

Ingeborg Aubele,

Karl-Heinz Aubele

gegen

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main [Deutschland])

„Rechtsangleichung — Richtlinie 2004/39/EG — Art. 54 Abs. 1 und 2 — Berufsgeheimnis der Aufsichtsbehörden für Finanzdienstleister — Betrügerische Wertpapierfirma in Konkurs oder Liquidation — Auswirkung auf das Berufsgeheimnis — Weitergabe von Informationen im Rahmen zivil- oder handelsrechtlicher Verfahren, sofern sie für das betreffende Verfahren erforderlich sind“

I – Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts über das Berufsgeheimnis. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen geschädigten Investoren ( 2 ) und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden: BaFin) wegen der Entscheidung der BaFin vom 9. Oktober 2012, den Zugang zu bestimmten Dokumenten und Informationen über die Phoenix Kapitaldienst GmbH Gesellschaft für die Durchführung und Vermittlung von Vermögensanlagen (im Folgenden: Phoenix) zu verweigern.

2.

Im Hinblick auf das Unionsrecht sind im Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich drei Richtlinien aufgeführt, nämlich die Richtlinien 2004/109/EG ( 3 ), 2006/48/EG ( 4 ) und 2009/65/EG ( 5 ). Im Laufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof wurde jedoch klargestellt, dass allein die Vorschrift des Art. 54 der Richtlinie 2004/39/EG ( 6 ) der Auslegung durch den Gerichtshof bedarf.

3.

Im Rahmen der Aufgaben, die sie auf der Grundlage der verschiedenen Richtlinien ausüben, erhalten die Finanzaufsichtsbehörden nämlich von den Unternehmen, die sie überwachen, eine Vielzahl von Informationen. In der vorliegenden Rechtssache geht es um die Frage, ob die Investoren Zugang zu diesen Informationen erhalten können, nachdem hinsichtlich einer betrügerischen Wertpapierfirma das Insolvenzverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet wurde. Außerdem gilt es zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen „vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen, in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden können, sofern dies für das betreffende Verfahren erforderlich ist“.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Richtlinie 2004/39

4.

Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/39 bestimmt zum „Berufsgeheimnis“:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden, alle Personen, die für diese oder für Stellen, denen nach Artikel 48 Absatz 2 Aufgaben übertragen wurden, tätig sind oder waren, sowie die von den zuständigen Behörden beauftragten Wirtschaftsprüfer und Sachverständigen dem Berufsgeheimnis unterliegen. Diese dürfen vertrauliche Informationen, die sie in ihrer beruflichen Eigenschaft erhalten, an keine Person oder Behörde weitergeben, es sei denn in zusammengefasster oder allgemeiner Form, so dass die einzelnen Wertpapierfirmen, Marktbetreiber, geregelten Märkte oder anderen Personen nicht zu erkennen sind; davon unberührt bleiben Fälle, die unter das Strafrecht oder andere Bestimmungen dieser Richtlinie fallen.

(2)   Wurde gegen eine Wertpapierfirma, einen Marktbetreiber oder einen geregelten Markt durch Gerichtsbeschluss das Konkursverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet, so dürfen vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen, in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden, sofern dies für das betreffende Verfahren erforderlich ist.“

B – Deutsches Recht

5.

Die einschlägigen Bestimmungen des deutschen Rechts finden sich in:

§ 1 („Grundsatz“) und § 3 („Schutz von besonderen öffentlichen Belangen“) des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz ( 7 ), im Folgenden: IFG),

§ 9 („Verschwiegenheitspflicht“) des Gesetzes über das Kreditwesen (Kreditwesensgesetz ( 8 ), im Folgenden: KWG) und

§ 8 („Verschwiegenheitspflicht“) des Gesetzes über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz ( 9 ), im Folgenden: WpHG).

III – Das Ausgangsverfahren, die Vorlagefragen und das Verfahren vor dem Gerichtshof

6.

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass gegen Phoenix mit Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 1. Juli 2005 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Die Gesellschaft wurde bei dieser Gelegenheit aufgelöst und befindet sich seitdem im gerichtlichen Liquidationsverfahren. Das Geschäftsmodell der Gesellschaft war auf Anlagebetrug angelegt. Rund 30000 Anleger wurden geschädigt; die Schadenssumme beläuft sich auf 600 Mio. Euro.

7.

Zwei ehemalige Führungskräfte der Gesellschaft wurden in einem Strafverfahren durch Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 11. Juli 2006 der Untreue und des Anlagebetrugs für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und vier Monaten bzw. zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.

8.

Am 21. Mai 2012 beantragten die Kläger unter Berufung auf § 1 IFG ( 10 ) Einsicht in Unterlagen über Phoenix, u. a. in die Berichte von Wirtschaftsprüfern, die Verträge, die Aktennotizen, die internen Stellungnahmen, die einschlägige Korrespondenz sowie in die Tätigkeits- und Geschäftsberichte der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen. Der Antrag bezog sich weder auf Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse Dritter noch auf geheimhaltungspflichtige Informationen.

9.

Mit Entscheidung vom 31. Juli 2012 kam die BaFin dem Auskunftsersuchen weitgehend nach. Sie verweigerte den Antragstellern jedoch Einsicht in den Sonderprüfungsbericht von Ernst & Young vom 31. März 2002, in die Berichte der Wirtschaftsprüfer von Phoenix (sowohl für die Geschäftsjahre 1998 bis 2005 als auch die übrigen Berichte), in Phoenix betreffende interne Stellungnahmen, Berichte, Korrespondenz, Unterlagen, Absprachen, Verträge, Aktennotizen und Schreiben aus dem Zeitraum 1992 bis 2005 sowie in sämtliche nach Bekanntgabe des oben genannten Prüfungsberichts von Ernst & Young erstellten internen Stellungnahmen bzw. geführte Korrespondenz.

10.

Die BaFin lehnte diese Anträge mit der Begründung ab, die Gewährung des Zugangs zu den erbetenen Dokumenten hätte nachteilige Auswirkungen auf ihre Kontroll- und Aufsichtsaufgaben im Sinne des § 3 Nr. 1 Buchst. d IFG. Nach Auffassung der BaFin standen dem Informationszugang zudem gemäß § 3 Nr. 4 IFG die Verschwiegenheitspflichten aus § 9 KWG und § 8 WpHG entgegen ( 11 ).

11.

Am 21. August 2012 legten die Kläger gegen diesen ablehnenden Bescheid Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 9. Oktober 2012 wies die BaFin diesen Widerspruch zurück. Über die im Ausgangsbescheid genannten Ablehnungsgründe hinaus vertrat die BaFin die Auffassung, dem beantragten Informationszugang stehe der Schutz des geistigen Eigentums, der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sowie der Schutz personenbezogener Daten entgegen.

12.

Gegen diese Entscheidung der BaFin erhoben die Kläger am 12. November 2012 Klage vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, dem vorlegenden Gericht. Mit Urteil vom 11. Dezember 2012 verurteilte das vorlegende Gericht die BaFin, ungeachtet ihrer besonderen Verschwiegenheitspflicht aus § 9 KWG zumindest teilweise Zugang zu den erbetenen Informationen zu gewähren.

13.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht in einem Verfahren, das ebenfalls den Zugang zu Informationen der BaFin über Phoenix betraf, mit Urteil vom 12. März 2008 entschieden hatte, dass ein Informationsanspruch nach § 1 Abs. 1 IFG auch bestehe, wenn eine Geheimhaltung aufgrund der Schutzzwecke des § 9 KWG und des § 8 WpHG nicht mehr geboten sei. Insoweit hatte es ausgeführt, ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen dieser Gesellschaft bestehe nicht, weil die begehrten Informationen sich auf strafbare Handlungen oder sonstige schwerwiegende Rechtsverstöße bezögen.

14.

Das vorlegende Gericht hebt hervor, in einem Fall wie dem vorliegenden seien die Interessen von Phoenix nicht schutzbedürftig, so dass von der Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht nach § 9 KWG und § 8 WpHG ausnahmsweise abgesehen werden könne.

15.

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

… ( 12 )

2.

Kann sich eine Aufsichtsbehörde wie die BaFin gegenüber einer Person, die bei ihr den Zugang zu Informationen über einen bestimmten Finanzdienstleister nach dem IFG beantragt hat, auch dann auf die ihr u. a. nach Unionsrecht obliegenden Verschwiegenheitspflichten berufen, wie sie in § 9 KWG und § 8 WpHG normiert sind, wenn das wesentliche Geschäftskonzept der Gesellschaft, die Finanzdienstleistungen angeboten hatte, zwischenzeitlich aber wegen Insolvenz aufgelöst worden ist und sich in Liquidation befindet, in groß angelegtem Anlagebetrug verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern bestand und Verantwortliche dieser Gesellschaft rechtskräftig zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden sind?

16.

Der Antrag des vorlegenden Gerichts auf beschleunigtes Verfahren gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist durch Beschluss vom 28. Juni 2013 zurückgewiesen worden.

17.

Beim Gerichtshof sind schriftliche Erklärungen von der BaFin, von der deutschen, der estnischen, der griechischen und der portugiesischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden.

18.

Auf ein Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs gemäß Art. 101 der Verfahrensordnung hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mit am 19. Mai 2014 eingereichtem Schreiben mitgeteilt, dass es die erste Vorlagefrage zurückziehe, und weitere Informationen, insbesondere zur Art der Tätigkeit von Phoenix und zur Entscheidungserheblichkeit der Richtlinie 2004/39, erteilt.

19.

In der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2014 waren die Kläger, Herr Frank Schmitt als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Phoenix, die deutsche und die griechische Regierung sowie die Kommission vertreten.

IV – Würdigung

A – Einleitende Bemerkungen

20.

Hinsichtlich der im vorliegenden Fall einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts erinnere ich zunächst daran, dass in der Vorlageentscheidung drei Richtlinien genannt sind, nämlich die Richtlinien 2004/109, 2006/48 und 2009/65. Allerdings hat das vorlegende Gericht im Rahmen des Verfahrens vor dem Gerichtshof und im Anschluss an dessen schriftliche Hinweise und die von ihm gestellte Frage bestätigt, dass angesichts der Art der Tätigkeiten von Phoenix Art. 54 der Richtlinie 2004/39 einschlägig ist.

21.

Nach Darstellung des vorlegenden Gerichts übte Phoenix ihre geschäftliche Tätigkeit nämlich seit dem 26. März 1998 auf der Grundlage einer Erlaubnis nach § 64e Abs. 2 KWG aus. Nach dieser Bestimmung galt die Erlaubnis nach § 32 KWG, derer Phoenix im Hinblick auf die von ihr betriebenen Finanzkommissionsgeschäfte wie auch die Finanzportfolioverwaltung bedurfte, als erteilt, wenn das Institut am 1. Januar 1998 zulässigerweise tätig war, ohne über eine Erlaubnis der BaFin zu verfügen, und das Institut bis zum 1. April 1998 ihre nach dem KWG erlaubnispflichtigen Tätigkeiten und die Absicht anzeigte, diese Tätigkeiten fortzuführen. Im vorliegenden Fall waren diese Voraussetzungen erfüllt. Der Erteilung einer ausdrücklichen Erlaubnis durch die BaFin bedurfte es daher nicht.

22.

Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Richtlinie 2004/39 für Wertpapierfirmen und geregelte Märkte gilt ( 13 ). Für die Zwecke der Richtlinie 2004/39 bezeichnet der Ausdruck „Wertpapierfirma“ jede juristische Person, die im Rahmen ihrer üblichen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit gewerbsmäßig eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen für Dritte erbringt und/oder eine oder mehrere Anlagetätigkeiten ausübt ( 14 ). Die „Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten“ umfassen jede in Anhang I Abschnitt A genannte Dienstleistung und Tätigkeit, die sich auf eines der Instrumente in Anhang I Abschnitt C bezieht ( 15 ), und insbesondere die Entgegennahme und Weiterleitung von Aufträgen, die ein oder mehrere Finanzinstrumente zum Gegenstand haben, den Handel für eigene Rechnung, die Portfolioverwaltung und die Anlageberatung über Wertpapiere, Währungen, Zinssätze oder ‑erträge, oder andere Derivat-Instrumente, finanzielle Indizes oder Messgrößen, die effektiv geliefert oder bar abgerechnet werden können.

23.

Die Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, und das vorlegende Gericht selbst stimmen offenbar darin überein, dass die Richtlinie 2004/39 auf die Tätigkeiten von Phoenix als Wertpapierfirma anwendbar ist. Unter diesen Umständen ist die vorliegende Analyse auf diese Richtlinie zu konzentrieren, obwohl sie in der Vorlageentscheidung nicht einmal erwähnt ist ( 16 ). Daher soll die zweite Vorlagefrage nur auf der Grundlage von Art. 54 der Richtlinie 2004/39 erörtert werden.

24.

Der Umstand, dass die auszulegende Richtlinie erst nach Zustellung der Vorlageentscheidung ausgetauscht wurde, stellt im vorliegenden Fall keine unüberwindliche Schwierigkeit für den Gerichtshof dar, weil er durch die schriftlichen Erklärungen und die Beantwortung der dem vorlegenden Gericht gestellten Fragen ergänzende Informationen erhalten hat. Da die Antwort, die der Gerichtshof nach Art. 101 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung auf das Klarstellungsersuchen erhalten hat, den Beteiligten gemäß Abs. 2 dieses Artikels zugestellt worden ist, hatten auch alle Mitgliedstaaten Gelegenheit, an der Anhörung teilzunehmen, um zu sämtlichen beim Gerichtshof eingereichten Schriftsätzen Stellung zu nehmen, oder gar die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen. Unter diesen Umständen besteht kein Anlass, die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens im Hinblick auf das Kriterium der praktischen Wirksamkeit des Art. 23 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ( 17 ) in Frage zu stellen.

25.

Nach Darstellung des vorlegenden Gerichts bestand das Geschäftsmodell von Phoenix in einem groß angelegten Betrug. Ich teile die von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung, dass dieser Umstand der Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/39 im vorliegenden Fall nicht entgegenstehen kann, weil Phoenix als Wertpapierfirma zugelassen war und als solche von der BaFin beaufsichtigt wurde.

26.

Was schließlich die Identifizierung der auszulegenden Bestimmung betrifft, ist festzustellen, dass „Fälle, die unter das Strafrecht fallen“, in Art. 54 der Richtlinie 2004/39 zweifach als Ausnahmen aufgeführt sind, nämlich in Abs. 1 und Abs. 3 ( 18 ).

27.

Meiner Ansicht nach haben diese beiden Ausnahmen, die im Gegensatz zu der in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehenen Ausnahme grundsätzlich immer anwendbar sind, den Zweck, jederzeit Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen zu ermöglichen, sogar während der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit der Wertpapierfirma, und erlauben es der Aufsichtsbehörde somit, Informationen für die Zwecke solcher Verfahren weiterzugeben. Ferner halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die Aufsichtsbehörde im Fall strafbarer Handlungen auch Informationen offenlegen darf, die unter das Berufsgeheimnis fallen, beispielsweise zur Beruhigung des Marktes in einer Situation, in der Gerüchte kursieren, das von der Behörde überwachte Unternehmen sei in kriminelle Aktivitäten verwickelt.

28.

Hier handelt es sich jedoch um ein Vorabentscheidungsersuchen eines Verwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens über den Zugang zu Informationen und Dokumenten einer Behörde, die zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Im Übrigen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Strafverfahren schon vor Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens abgeschlossen waren. Mithin verfolgt der Antrag auf Zugang zu Informationen und Dokumenten nicht das Ziel, diese für die Zwecke von Strafverfahren zu verwenden, denn in strafrechtlicher Hinsicht dürfte die „Sache Phoenix“ abgeschlossen sein.

29.

Folglich sind die in Art. 54 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/39 genannten Ausnahmen der „Fälle, die unter das Strafrecht fallen“, vorliegend nicht anwendbar. Da auch die anderen Absätze dieses Artikels, die den Austausch und die Übermittlung von Informationen zwischen den zuständigen Behörden und ihre Verwendung betreffen ( 19 ), nicht anwendbar sind, soll der Schwerpunkt auf die Auslegung der Abs. 1 und 2 dieser Bestimmung gelegt werden.

B – Zu Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/39

1. Die Verpflichtung zur Wahrung des Berufsgeheimnisses und die Möglichkeit der Weitergabe

30.

Art. 54 der Richtlinie 2004/39 betrifft seiner Überschrift zufolge das Berufsgeheimnis. Abs. 1 stellt das Grundprinzip auf, während die Abs. 2 bis 5 weitere Klarstellungen enthalten.

31.

Art. 54 der Richtlinie 2004/39 regelt Verschwiegenheitspflichten. Diese Verpflichtungen sind als zwingend formuliert. Hingegen sind die Ausnahmen fakultativ ( 20 ) ausgestaltet. Dieser Artikel sieht mit anderen Worten bestimmte Fälle vor, in denen die Weitergabe zulässig ist, legt aber nicht fest, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Behörden rechtlich verpflichtet sind, Geheimnisse offenzulegen.

32.

Art. 54 der Richtlinie 2004/39 bezeichnet nämlich nur die Situationen, in denen eine Weitergabe nach dem Unionsrecht zulässig ist. Eine Rechtspflicht zur Weitergabe kann sich nur aus anderen Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts ergeben, wie beispielsweise aus § 3 IFG oder aus einer verfahrensrechtlichen Vorschrift, die die Aufsichtsbehörde zur Aussage in einem Zivilverfahren oder handelsrechtlichen Verfahren verpflichtet. Allerdings kann eine Pflicht der Aufsichtsbehörde zur Weitergabe auf der Grundlage des nationalen Rechts nur in dem Umfang festgelegt werden oder Anwendung finden, in dem Art. 54 der Richtlinie 2004/39 dies erlaubt.

33.

Daraus folgt, dass die Antwort des Gerichtshofs nicht von einer Abwägung der Gründe abhängig sein kann, die für und gegen die Weitergabe der im vorliegenden Fall begehrten Informationen und Dokumente sprechen. Diese Abwägung ist entweder von der betreffenden Behörde oder vom zuständigen nationalen Gericht zu treffen, soweit die Weitergabe nach Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 zulässig ist. Der Gerichtshof hat lediglich die Grenzen zu bestimmen, die Art. 54 der Richtlinie 2004/39 der Weitergabe von Informationen durch die Aufsichtsbehörde setzt, oder, genauer gesagt, zunächst die Tragweite des Berufsgeheimnisses im vorliegenden Fall zu bestimmen und sodann den Rahmen zu definieren, in dem eine Ausnahme vom Berufsgeheimnis der Aufsichtsbehörde möglich ist. Ich möchte hinzufügen, dass Abs. 2 dieses Artikels als Ausnahmeregelung selbstverständlich eng auszulegen ist.

2. Die drei Arten von Verschwiegenheitspflichten

34.

Dem Berufsgeheimnis unterliegen nach Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 die vertraulichen Informationen, die eine zuständige Behörde im Sinne dieser Richtlinie in Ausübung ihrer Aufgaben erhalten hat. Die Richtlinie enthält weder eine genauere Definition dieser Informationen noch eine Definition der Konzeption des Berufsgeheimnisses im Vergleich zu Begriffen wie Betriebsgeheimnis, Geschäftsgeheimnis oder sonstigen Verschwiegenheitspflichten, die Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs ( 21 ) waren.

35.

Meines Erachtens können die in Art. 54 der Richtlinie 2004/39 genannten Informationen, über die eine Aufsichtsbehörde für Märkte für Finanzinstrumente verfügt und die somit unter das „Berufsgeheimnis“ fallen, verschiedenen Arten von Verschwiegenheitspflichten zugerechnet werden.

36.

Hierzu zählen erstens die Informationen, die dem sogenannten Bankgeheimnis unterliegen, das sich auf die Beziehungen zwischen dem Kreditinstitut, der Wertpapierfirma oder einem anderen Finanzunternehmen und deren Kunden und Vertragspartnern erstreckt ( 22 ). Meines Erachtens betrifft die Bezugnahme auf „vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen“, in Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 diese Kategorie vertraulicher Informationen.

37.

Zweitens gibt es Informationen, die durch das „Betriebsgeheimnis“ der beaufsichtigten Unternehmen geschützt werden. Dabei handelt es sich um die eigenen Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse der betreffenden Wertpapierfirmen oder Finanzunternehmen. Es liegt auf der Hand, dass das Vertrauen der beaufsichtigten Unternehmen, auf das die zuständigen Behörden angewiesen sind, von der Voraussetzung abhängig ist, dass derartige Geheimnisse einer Verpflichtung der Behörden zur Wahrung des Berufsgeheimnisses unterliegen. Wäre das nicht der Fall, würden die für die Aufsicht erforderlichen vertraulichen Informationen den Behörden nur widerstrebend oder gar nur unter Zwang erteilt.

38.

Drittens gibt es Informationen, die der eigenen Geheimhaltungspflicht der Aufsichtsbehörden unterliegen, dem sogenannten „aufsichtsrechtlichen Geheimnis“, das den Aufsichtsbehörden des Finanzsektors und ihren Mitarbeitern auferlegt ist ( 23 ). Zu dieser Kategorie gehören insbesondere die von den zuständigen Behörden angewandten Überwachungsmethoden, die Korrespondenz und der Informationsaustausch der verschiedenen zuständigen Behörden untereinander sowie zwischen ihnen und den beaufsichtigten Unternehmen und alle sonstigen nicht öffentlichen Informationen über den Stand der beaufsichtigten Märkte und die dort ablaufenden Transaktionen.

39.

In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren ist die Aufsichtsbehörde gehalten, diese drei Arten von Verschwiegenheitspflichten zu beachten. Die Voraussetzungen, unter denen Ausnahmen hiervon möglich sind, sind aber unterschiedlich ( 24 ).

40.

Erstens erlaubt die in Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 vorgesehene Ausnahme nicht die Weitergabe von Geheimnissen, die sich auf Dritte beziehen. Insoweit ist anzumerken, dass sich der im Ausgangsverfahren gestellte Antrag offenbar nicht auf derartige Informationen bezieht.

41.

Was zweitens das sogenannte aufsichtsrechtliche Geheimnis der zuständigen Behörde betrifft, weise ich darauf hin, dass die BaFin die Anträge der Kläger vor allem mit der Begründung zurückgewiesen hat, die Gewährung des Zugangs zu den begehrten Dokumenten hätte nachteilige Auswirkungen auf ihre Kontroll- und Aufsichtsaufgaben.

42.

Nach meiner Ansicht betrifft die zweite Vorlagefrage aber in Wirklichkeit nicht die sogenannten aufsichtsrechtlichen Geheimnisse, sondern bezieht sich darauf, ob das Berufsgeheimnis der zuständigen Aufsichtsbehörde sich auf die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse einer Wertpapierfirma erstreckt, hinsichtlich deren das Insolvenzverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung angeordnet wurde und deren Tätigkeit in strafbaren Handlungen oder anderen schwerwiegenden Rechtsverletzungen bestand. Daher werde ich nachstehend den zuletzt genannten Fall untersuchen.

3. Zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse einer betrügerischen Gesellschaft, hinsichtlich deren das Insolvenzverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung angeordnet wurde

43.

Fest steht, dass sich das Interesse am Schutz von Betriebs- oder anderen Geschäftsgeheimnissen verringern kann, und zwar im Allgemeinen bei der Einstellung der Geschäftstätigkeit des betreffenden Unternehmens. Dieses Schutzbedürfnis besteht jedoch uneingeschränkt fort, soweit es sich um Geschäftsgeheimnisse handelt, die einen wirtschaftlichen Wert haben, der als Vermögensbestandteil des Unternehmens bei einer Liquidation verwertet werden kann.

44.

Der Insolvenzverwalter von Phoenix hat in der mündlichen Verhandlung betont, dass diese Gesellschaft trotz ihrer Liquidation nach Abschluss des Insolvenzverfahrens Eigentümerin der zu ihrem Gesellschaftsvermögen gehörenden Gegenstände und Rechte bleibt. Eine betrügerische Gesellschaft, die sich im gerichtlichen Liquidationsverfahren befindet, kann schutzwürdige Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse haben wie etwa Berechnungen von Geschäftschancen, EDV-Programme oder Informationen über Vertriebsstrukturen.

45.

Ich bin auch der Ansicht, dass eine in der Insolvenz oder in der gerichtlichen Liquidation befindliche Wertpapierfirma über Informationen verfügen kann, die zu den Betriebs- oder gar Geschäftsgeheimnissen gehören, deren Vertraulichkeit innerhalb der zuständigen Aufsichtsbehörde durch das Berufsgeheimnis gemäß Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 geschützt ist. Während dieses Zeitraums ist die Verschwiegenheitspflicht aber weniger stark ausgeprägt als im Verlauf der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit der beaufsichtigten Unternehmen. Schon die Systematik des Art. 54 zeigt nämlich, dass das Berufsgeheimnis diesen Gesellschaften gegenüber in abgeschwächter Form besteht, da die in Abs. 2 vorgesehene Ausnahmeregelung andernfalls sinnlos wäre.

46.

Dieses Ergebnis ist von dem betrügerischen Charakter der Tätigkeiten des betreffenden Unternehmens unabhängig. Dieser Aspekt kann zwar bei der Anwendung der Ausnahmeregelung gemäß Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 im Rahmen der Entscheidung berücksichtigt werden, ob die Informationen weitergegeben werden oder nicht, ist aber nicht geeignet, die Anwendbarkeit des Berufsgeheimnisses gemäß Abs. 1 dieses Artikels von vornherein auszuschließen. Im Fall einer Wertpapierfirma, die sich in der Insolvenz oder in Zwangsliquidation befindet, schützt dieses Berufsgeheimnis letztlich die kollektiven wirtschaftlichen Interessen der Gläubiger und Investoren der Gesamtschuldnerin, die unter Umständen ebenfalls als Opfer der Straftaten anzusehen sind, die von den Geschäftsführern oder Gesellschaftern der betreffenden Gesellschaft begangen wurden.

47.

Aufgrund dieser Gesichtspunkte schlage ich vor, die zweite Vorlagefrage dahin gehend zu bejahen, dass eine Aufsichtsbehörde wie die BaFin sich gegenüber einer Person, die bei ihr den Zugang zu Informationen einer Wertpapierfirma beantragt hat, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf die Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gemäß Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 berufen kann. Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist es darüber hinaus aber erforderlich, dass der Gerichtshof die Auslegung der Ausnahmeregelung nach Abs. 2 dieses Artikels klärt.

4. Der Begriff „in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren“ in Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39

48.

Speziell die in Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 vorgesehene Ausnahme ist genau umrissen und lautet wie folgt:

„Wurde gegen eine Wertpapierfirma, einen Marktbetreiber oder einen geregelten Markt durch Gerichtsbeschluss das Konkursverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet, so dürfen vertrauliche Informationen, die sich nicht auf Dritte beziehen, in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden, sofern dies für das betreffende Verfahren erforderlich ist.“ ( 25 )

49.

Somit setzt die Anwendbarkeit des Abs. 2 zunächst voraus, dass hinsichtlich des fraglichen Unternehmens, in unserem Fall einer Wertpapierfirma, das Insolvenzverfahren eröffnet oder die Zwangsabwicklung eingeleitet wurde. In einem solchen Fall kann das in Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 vorgesehene Hindernis, das der Weitergabe vertraulicher Informationen entgegensteht, nach Maßgabe der in Abs. 2 dieses Artikels gestatteten Ausnahme ausgeräumt werden. Wie bereits ausgeführt, dürfen Informationen, die sich auf Dritte beziehen, auf der Grundlage der letztgenannten Bestimmung aber nicht weitergegeben werden. Zudem darf die Weitergabe nur „in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren“ erfolgen, und die Informationen müssen „für das betreffende Verfahren erforderlich“ sein.

50.

Festzuhalten ist, dass die Anwendbarkeit dieser Ausnahme die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder die Einleitung der Zwangsabwicklung gegen die Wertpapierfirma, den Marktbetreiber oder den geregelten Markt voraussetzt. Diese Ausnahme findet mit anderen Worten nur Anwendung, wenn die Dinge ernsthaft schiefgelaufen sind und die betreffende Einrichtung ihre gewöhnliche Geschäftstätigkeit eingestellt hat. Dieser Umstand rechtfertigt eine Abweichung von dem Berufsgeheimnis, dem die zuständige Aufsichtsbehörde unterliegt, damit andere berechtigte Interessen berücksichtigt werden können, insbesondere das Interesse an einem ordnungsgemäßen Ablauf zivil- und handelsrechtlicher Verfahren.

51.

Der Antrag auf Weitergabe vertraulicher Informationen muss im Rahmen zivil- oder handelsrechtlicher Verfahren gestellt werden ( 26 ). Dieses Kriterium wirft zwei Auslegungsfragen auf, die eng miteinander verbunden sind und von den Parteien ausgiebig erörtert wurden. Die erste Frage betrifft den Zusammenhang zwischen dem zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren und der Weitergabe vertraulicher Informationen, die unter das Berufsgeheimnis gemäß Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39 fallen. Die zweite Frage betrifft das Verhältnis zwischen den Begriffen des nationalen Verfahrensrechts und der Voraussetzung, dass es sich um Verfahren zivil- oder handelsrechtlicher Art handeln muss.

52.

Zu dem ersten Aspekt weise ich darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber die Weitergabe im Rahmen zivil- und handelsrechtlicher Verfahren und nicht für die Zwecke solcher Verfahren gestattet hat. Folglich erfordert die Anwendbarkeit von Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 nach dem Wortlaut dieser Ausnahme, die eng auszulegen ist, stets ein rechtshängiges zivil- oder handelsrechtliches Verfahren.

53.

Die Voraussetzung eines rechtshängigen zivil- oder handelsrechtlichen Verfahrens wird durch ein Insolvenz- oder Liquidationsverfahren naturgemäß erfüllt. Meines Erachtens geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung aber hervor, dass der Gesetzgeber die Fälle, in denen die Weitergabe vertraulicher Informationen zulässig ist, nicht auf diese Verfahren beschränken wollte, sondern im Gegenteil darauf bedacht war, auch andere Verfahren einzubeziehen, die mit dem betreffenden Hauptverfahren im Zusammenhang stehen ( 27 ).

54.

Somit kann die in Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 vorgesehene Ausnahme auch im Rahmen zivil- oder handelsrechtlicher Verfahren zwischen der in Insolvenz oder gar Liquidation befindlichen Gesellschaft und Dritten Anwendung finden, sofern sie die Einziehung von Forderungen der Gesellschaft, die Rückgabe ihr gehörender Gegenstände oder ihre Haftung aus Vertrag oder unerlaubter Handlung betreffen. Die Ziele der Rechtsvorschriften der Union über die Finanzmärkte erfordern es nun einmal, dass die Aufsichtsbehörden im Rahmen des Möglichen dazu beitragen, die wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse einer in Insolvenz befindlichen Wertpapierfirma ordnungsgemäß aufzuklären. Allerdings ergibt sich aus dem Urteil Paul u. a., dass dies nur im Rahmen der Grenzen möglich ist, die sich aus dem Schutz des Allgemeininteresses und insbesondere der Stabilität des Finanzsystems ergeben, der zu den ureigenen Aufgaben der Aufsichtsbehörden gehört ( 28 ).

55.

Meiner Ansicht nach schließt das Unionsrecht auch nicht Verfahren zwischen anderen Betroffenen aus, wie z. B. zwischen einzelnen Investoren oder Gläubigern der betreffenden Gesellschaft einerseits und deren Geschäftsleitung, Gesellschaftern oder Mitarbeitern andererseits, sei es im Interesse der in Insolvenz oder Liquidation befindlichen Gesellschaft (actio pro socio) oder in ihrem eigenen Interesse, soweit das nationale Recht derartige Klagen zulässt.

56.

Nicht unter diese Ausnahme fällt aber ein Antrag, der darauf abzielt, Zugang zu den der zuständigen Aufsichtsbehörde vorliegenden vertraulichen Informationen zu erhalten, um zu prüfen, ob sich darunter bestimmte Informationen befinden, die für einen späteren und unabhängigen Rechtsstreit dienlich sein könnten, denn ein solcher Rechtsstreit findet nicht im Rahmen eines laufenden zivil- oder handelsrechtlichen Verfahrens statt.

57.

Hinsichtlich des zweiten Aspekts bin ich mit der Kommission der Ansicht, dass Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 nicht an die Sparte der nationalen Gerichtsbarkeit als solche anknüpft, sondern vielmehr an die Art der Verfahren, in denen die Weitergabe erfolgen kann. Somit ist nicht ausgeschlossen, dass ein zivil- oder handelsrechtliches Verfahren ausnahmsweise aufgrund des nationalen Rechts vor einem Verwaltungsgericht stattfinden kann. Der Begriff der zivil- und handelsrechtlichen Verfahren deckt sich also nicht mit den Verfahren, die Gegenstand der Rechtsakte der Union über die Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen sind.

58.

Ein isoliertes Verwaltungsstreitverfahren vor einem Verwaltungsgericht hingegen, das den Zugang zu Dokumenten und Informationen betrifft, die einer Aufsichtsbehörde vorliegen, und nicht dazu dient, der Partei eines zivil- oder handelsrechtlichen Verfahrens ein faires Verfahren zu garantieren, sondern dazu, den Grundsatz der Transparenz im Rahmen des Zugangs zu Verwaltungsdokumenten sowie den Grundsatz der Informationsfreiheit durchzusetzen, fällt keinesfalls unter den Begriff des zivil- oder handelsrechtlichen Verfahrens im Sinne von Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39.

59.

Abschließend erinnere ich daran, dass die weiterzugebenden Informationen für das betreffende zivil- oder handelsrechtliche Verfahren erforderlich sein müssen. Die Weitergabe ist daher zu beschränken. In erster Linie obliegt die Beurteilung, ob eine Weitergabe erforderlich ist oder nicht, der betreffenden Aufsichtsbehörde selbst. Innerhalb der durch das nationale Recht gesetzten Grenzen kann jedoch das mit dem zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren befasste Gericht dazu berufen sein, festzustellen, was angesichts des laufenden Verfahrens erforderlich ist oder nicht. Soweit die Behörde und das mit dem zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren befasste Gericht unterschiedlicher Auffassung sind, richtet es sich nach den nationalen Vorschriften über die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den ordentlichen Gerichten und den Verwaltungsgerichten, ob das Gericht für Zivil- oder Handelssachen über diese Frage – als Frage der Anwendung der Verfahrensvorschriften über die Beweisaufnahme – verbindlich entscheiden kann oder ob es diese Frage einem zuständigen Verwaltungsgericht zur Entscheidung vorlegen muss.

60.

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts dürfte es sich bei dem Ausgangsverfahren um ein isoliertes Verwaltungsverfahren handeln, das außerhalb des von Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 vorgesehenen Rahmens stattfindet. Wenn das der Fall ist, was das nationale Gericht zu überprüfen hat, findet die in diesem Absatz vorgesehene Ausnahme keine Anwendung.

V – Ergebnis

61.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Verwaltungsgericht Frankfurt am Main vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:

Die zuständige Aufsichtsbehörde kann sich gegenüber einer Person, die bei ihr den Zugang zu Informationen über einen bestimmten Finanzdienstleister beantragt hat, der zwischenzeitlich wegen Insolvenz aufgelöst worden ist und sich in Liquidation befindet, auf die ihr nach Unionsrecht obliegenden Verschwiegenheitspflichten, insbesondere auf das Berufsgeheimnis gemäß Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates ungeachtet der Tatsache berufen, dass das wesentliche Geschäftskonzept dieser Gesellschaft in groß angelegtem Anlagebetrug verbunden mit der bewussten Schädigung von Anlegern bestand und Verantwortliche dieser Gesellschaft rechtskräftig zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

Wenn gegen eine Wertpapierfirma das Konkursverfahren eröffnet oder ihre Zwangsabwicklung eingeleitet worden ist, können vertrauliche Informationen, die keine Dritten betreffen, gemäß Art. 54 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 jedenfalls nur im Rahmen zivil- oder handelsrechtlicher Verfahren und auch nur dann weitergegeben werden, wenn dies für das laufende Verfahren erforderlich ist. Diese vertraulichen Informationen dürfen nicht für Zwecke eines späteren und unabhängigen Rechtsstreits weitergegeben werden, der nicht im Rahmen eines laufenden zivil- oder handelsrechtlichen Verfahrens stattfindet.


( 1 )   Originalsprache: Französisch.

( 2 )   Beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens sind die Kläger des Ausgangsverfahrens: Frau Altmann, Herr Altmann, Herr Abel, Frau Anschütz, Herr Anschütz, Frau Arnold, Frau Assheuer, Frau Aubele und Herr Aubele (im Folgenden zusammen: Kläger).

( 3 )   Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (ABl. L 390, S. 38).

( 4 )   Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (ABl. L 177, S. 1).

( 5 )   Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 302, S. 32).

( 6 )   Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. L 145, S. 1).

( 7 )   Vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722).

( 8 )   Neugefasst durch Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2776).

( 9 )   Neugefasst durch Bekanntmachung vom 9. September 1998 (BGBl. I S. 2708).

( 10 )   Nach dieser Vorschrift hat jeder nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen.

( 11 )   Diese Bestimmungen sehen Verschwiegenheitspflichten für Behörden und Personen, die die Aufsicht über Kreditinstitute und andere Finanzunternehmen führen oder daran mitwirken, sowie Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht vor.

( 12 )   Die erste, vom vorlegenden Gericht vor der mündlichen Verhandlung zurückgezogene Frage lautete: „Ist es mit dem Recht der Europäischen Union zu vereinbaren, dass zwingende Verschwiegenheitspflichten, die den nationalen Behörden, welche die Aufsicht über Finanzdienstleistungsunternehmen ausüben, obliegen und die ihre Grundlage in einschlägigen Rechtsakten des Unionsrechts haben (hier: Richtlinie 2004/109/EG, Richtlinie 2006/48/EG und Richtlinie 2009/65/EG) und entsprechend in nationales Recht umgesetzt worden sind, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland mit § 9 [KWG] und § 8 [WpHG] geschehen ist, durch die Anwendung und Auslegung einer nationalen prozessrechtlichen Vorschrift, wie sie § 99 VwGO darstellt, durchbrochen werden können?“

( 13 )   Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie.

( 14 )   Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1

( 15 )   Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1.

( 16 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil Fuß (C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39 und 40).

( 17 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil Medipac-Kazantzidis (C‑6/05, EU:C:2007:337, Rn. 31 bis 36).

( 18 )   Im Übrigen sind „Fälle, die unter das Strafrecht fallen“, in Art. 44 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/48 und in Art. 102 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2009/65 ebenfalls als Ausnahmen genannt.

( 19 )   Vgl. die Absätze 3 bis 5 des Art. 54 der Richtlinie 2004/39.

( 20 )   Zu den Ausnahmen siehe Abs. 1, letzte Zeilen („davon unberührt bleiben Fälle, die unter das Strafrecht oder andere Bestimmungen dieser Richtlinie fallen“), Abs. 2, Abs. 3 zu Beginn und am Ende („Unbeschadet der Fälle, die unter das Strafrecht fallen …“ und „Gibt die zuständige Behörde oder andere Behörde, Stelle oder Person, die die Information übermittelt, jedoch ihre Zustimmung, so darf die Behörde, die die Information erhält, diese für andere Zwecke verwenden“) sowie die Abs. 4 und 5.

( 21 )   Vgl. z. B. Urteile AKZO Chemie und AKZO Chemie UK/Kommission (53/85, EU:C:1986:256, Rn. 26 bis 28) und Bank Austria Creditanstalt/Kommission (T‑198/03, EU:T:2006:136, Rn. 70 bis 74).

( 22 )   Urteile der Weduwe (C‑153/00, EU:C:2002:735, Rn. 15 ff.) sowie X und Passenheim-van Schoot (C‑155/08 und C‑157/08, EU:C:2009:368, Rn. 50 und 58).

( 23 )   Zum Berufsgeheimnis der Bediensteten der für die Zulassung und Beaufsichtigung der Kreditinstitute zuständigen Behörden siehe Urteil Hillenius (110/84, EU:C:1985:495, Rn. 27 und 32).

( 24 )   Im Übrigen können die Informationen, über die die Aufsichtsbehörden verfügen, auch personenbezogene Daten enthalten. Ihre Verarbeitung und Übermittlung unterliegen besonderen Regelungen wie z. B. der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31).

( 25 )   Hervorhebung nur hier. Nach Struktur und Inhalt ähnliche Ausnahmen finden sich in Art. 44 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/48 und in Art. 102 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2009/65. Dagegen beruht Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2004/109 auf einem anderen Ansatz, indem die Beschränkung auf „zivil- oder handelsrechtliche Verfahren“ unerwähnt bleibt und den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt wird, etwaige Ausnahmen vorzusehen, und zwar mit folgendem Wortlaut: „Die unter das Berufsgeheimnis fallenden Informationen dürfen keiner anderen Person oder Behörde bekannt gemacht werden, es sei denn, dies ist in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehen.“

( 26 )   Auf Deutsch: „in zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren weitergegeben werden“; auf Englisch: „may be divulged in civil or commercial proceedings“, auf Finnisch: „siviili- tai kauppaoikeudellisessa menettelyssä“ (Hervorhebung nur hier).

( 27 )   Das ergibt sich aus der Verwendung des Plurals und dem Fehlen einer abschließenden Bezugnahme auf das eigentliche Insolvenz- oder Liquidationsverfahren. Wenn der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Weitergabe auf die zuletzt genannten Verfahren hätte beschränken wollen, hätte er eine Formulierung gewählt, die das Insolvenz- oder Liquidationsverfahren ausdrücklich nennt.

( 28 )   Vgl. in diesem Sinne Urteil Paul u. a. (C‑222/02, EU:C:2004:606, Rn. 40, 44 und 47).