URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

19. Juli 2012 ( *1 )

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Verordnung (EG) Nr. 562/2006 — Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) — Art. 20 und 21 — Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen — Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets — Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen — Nationale Regelung, nach der Kontrollen der Identität, der Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltsrechts durch mit der Grenzüberwachung und der Kontrolle von Ausländern beauftragte Beamte in einer Zone von 20 Kilometern ab der gemeinsamen Grenze mit anderen Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen zulässig sind — Kontrollen zur Bekämpfung des illegalen Aufenthalts — Regelung, die bestimmte Voraussetzungen und Garantien insbesondere hinsichtlich der Häufigkeit und Intensität der Kontrollen vorsieht“

In der Rechtssache C-278/12 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 4. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2012, in dem Verfahren

Atiqullah Adil

gegen

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 4. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2012, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Zweiten Kammer vom 11. Juni 2012, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Adil, vertreten durch E. S. van Aken, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil als Bevollmächtigten,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch S. Menez als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgendes

Urteil

1

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Adil – der nach eigenen Angaben Drittstaatsangehöriger ist und der nach einer Kontrolle in den Niederlanden im Grenzgebiet zu Deutschland wegen seines irregulären aufenthaltsrechtlichen Status inhaftiert wurde – und dem Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel (Minister für Immigration, Integration und Asyl) wegen der Rechtmäßigkeit dieser Kontrolle und damit der gegen Herrn Adil verfügten Haft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Das Protokoll (Nr. 19) über den Schengen-Besitzstand

3

In der Präambel des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290) heißt es:

„Die Hohen Vertragsparteien –

angesichts dessen, dass die von einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 14. Juni 1985 und am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sowie damit zusammenhängende Übereinkommen und die auf deren Grundlage erlassenen Regelungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 in den Rahmen der Europäischen Union einbezogen wurden,

in dem Wunsch, den seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam weiterentwickelten Schengen-Besitzstand zu wahren und diesen Besitzstand fortzuentwickeln, um zur Verwirklichung des Ziels beizutragen, den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen zu bieten,

sind über folgende Bestimmungen übereingekommen, die dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt sind“.

4

Art. 2 dieses Protokolls bestimmt:

„Der Schengen-Besitzstand ist unbeschadet des Artikels 3 der Beitrittsakte vom 16. April 2003 und des Artikels 4 der Beitrittsakte vom 25. April 2005 für die in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Der Rat tritt an die Stelle des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses.“

Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen

5

Zum Schengen-Besitzstand gehört insbesondere das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnete Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).

6

In Art. 2 SDÜ, der das Überschreiten der Binnengrenzen betraf, hieß es:

„(1)   Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.

(3)   Die Anwendung von Artikel 22 und die Ausübung der Polizeibefugnisse durch die nach Maßgabe des nationalen Rechts zuständigen Behörden einer Vertragspartei in dem gesamten Hoheitsgebiet dieser Vertragspartei sowie die im Recht dieser Vertragspartei vorgesehenen Verpflichtungen über den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen bleiben von der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen unberührt.

…“

7

Art. 2 SDÜ wurde gemäß Art. 39 Abs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 mit Wirkung vom 13. Oktober 2006 aufgehoben.

Die Verordnung Nr. 562/2006

8

Die Erwägungsgründe 1 und 14 der Verordnung Nr. 562/2006 lauten:

„(1)

Der Erlass von Maßnahmen nach Artikel 62 Nummer 1 des [EG-Vertrags], die sicherstellen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, ist Teil des Ziels der Union nach Artikel 14 des [EG-Vertrags], einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

(14)

Die Kontrollen im Rahmen der allgemeinen Polizeibefugnisse [und] die nationalen Rechtsvorschriften über das Mitführen von Reise- und Identitätsdokumenten oder die Verpflichtung für Personen, ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats den Behörden zu melden, bleiben von der vorliegenden Verordnung unberührt.“

9

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 lautet:

„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.“

10

In Art. 2 Nrn. 1 und 9 bis 11 der Verordnung Nr. 562/2006 heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Binnengrenzen‘

a)

die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

9.

‚Grenzkontrollen‘ die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen;

10.

‚Grenzübertrittskontrollen‘ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen;

11.

‚Grenzüberwachung‘ die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen“.

11

Art. 3 der Verordnung Nr. 562/2006 sieht vor:

„Diese Verordnung findet Anwendung auf alle Personen, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet

a)

der Rechte der Personen, die das Gemeinschaftsrecht auf freien Personenverkehr genießen;

b)

der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung.“

12

Art. 20 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung Nr. 562/2006 bestimmt:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

13

Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) der Verordnung Nr. 562/2006 sieht vor:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)

die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittkontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)

keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)

auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)

in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)

auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

b)

die Durchführung von Sicherheitskontrollen bei Personen in See- oder Flughäfen durch die zuständigen Behörden nach Maßgabe des nationalen Rechts, die Verantwortlichen der See- oder Flughäfen oder die Beförderungsunternehmer, sofern diese Kontrollen auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen;

c)

die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

d)

die Verpflichtung für Drittstaatsangehörige, ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gemäß Artikel 22 des Schengener Durchführungsübereinkommens zu melden.“

Niederländisches Recht

14

Art. 6 des Polizeigesetzes (Politiewet) von 1993 bestimmt:

„Der Königlichen Marechaussee [Koninklijke Marechaussee] sind, soweit in anderen oder aufgrund anderer Gesetze nichts anderes bestimmt ist, folgende polizeiliche Aufgaben übertragen:

f)

die Ausführung der durch das Ausländergesetz von 2000 [Vreemdelingenwet 2000, im Folgenden: Ausländergesetz] oder auf seiner Grundlage übertragenen Aufgaben …;

g)

die Bekämpfung des Menschenschmuggels und des Betrugs mit Identitäts- oder Reisedokumenten;

…“

15

Nach Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes sind die mit der Grenzüberwachung oder der Kontrolle von Ausländern beauftragten Beamten entweder aufgrund von Tatsachen und Umständen, die nach objektiven Maßstäben den Verdacht eines illegalen Aufenthalts begründen, oder zur Bekämpfung eines illegalen Aufenthalts nach Grenzübertritt befugt, Personen zur Feststellung ihrer Identität, Staatsangehörigkeit und ihres aufenthaltsrechtlichen Status anzuhalten.

16

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die „Mobilen Sicherheitskontrollen“ („Mobiel Toezicht Veiligheid“, im Folgenden MTV-Kontrollen) auf Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes beruhen.

17

Die Durchführung von Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes wird nach dessen Abs. 6 durch Verordnung näher geregelt.

18

Bei der Verordnung, die die Befugnis zum Anhalten von Personen im Rahmen der MTV-Kontrollen näher regelt, handelt es sich um die Ausländerverordnung (Vreemdelingenbesluit 2000, im Folgenden: Ausländerverordnung).

19

Art. 4.17a der Ausländerverordnung, der aufgrund des Urteils vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667), mit Wirkung vom 1. Juni 2011 geändert wurde, sieht vor:

„(1)   Die in Art. 50 Abs. 1 des [Ausländergesetzes] genannte Befugnis, zur Bekämpfung eines illegalen Aufenthalts nach Grenzübertritt Personen zur Feststellung ihrer Identität, Staatsangehörigkeit und aufenthaltsrechtlichen Stellung anzuhalten, wird ausschließlich im Rahmen der Kontrolle von Ausländern ausgeübt:

a)

auf Flughäfen nach der Ankunft von Flügen aus dem Schengen-Gebiet;

b)

in Zügen höchstens 30 Minuten nach Übertritt der gemeinsamen Landgrenze mit Belgien oder Deutschland oder, falls innerhalb dieses Zeitraums der zweite Bahnhof nach Grenzübertritt noch nicht erreicht ist, bis äußerstenfalls zum zweiten Bahnhof nach Grenzübertritt;

c)

auf Straßen und Wasserstraßen in einem Gebiet bis zu 20 km ab der gemeinsamen Landgrenze mit Belgien oder Deutschland.

(2)   Die Kontrollen nach Abs. 1 werden auf der Grundlage von Informationen oder Erfahrungswerten über den illegalen Aufenthalt nach Grenzübertritt durchgeführt. Sie können in begrenztem Umfang auch zur Erlangung von Informationen über einen solchen illegalen Aufenthalt durchgeführt werden.

(3)   Die Kontrollen nach Abs. 1 Buchst. a werden für Flüge auf ein- und derselben Flugstrecke höchstens sieben Mal pro Woche und höchstens bei einem Drittel der Gesamtzahl der pro Monat auf dieser Flugstrecke geplanten Flüge durchgeführt. Bei diesen Kontrollen wird lediglich ein Teil der beförderten Fluggäste angehalten.

(4)   Die Kontrollen nach Abs. 1 Buchst. b werden pro Tag in höchstens zwei Zügen je Fahrtstrecke und in höchstens acht Zügen insgesamt sowie pro Zug in höchstens zwei Zugabteilen durchgeführt.

(5)   Die Kontrollen nach Abs. 1 Buchst. c werden auf ein- und derselben Straße oder Wasserstraße höchstens neunzig Stunden pro Monat und höchstens sechs Stunden pro Tag durchgeführt. Bei diesen Kontrollen wird nur ein Teil der vorbeifahrenden Fortbewegungsmittel angehalten.“

20

Laut der Vorlageentscheidung wurden in der Begründung für die genannte Änderung des Art. 4.17a der Ausländerverordnung folgende Gesichtspunkte hervorgehoben:

„Mit dieser Änderung [der Ausländerverordnung] soll sichergestellt werden, dass die Kontrolle von Ausländern zur Bekämpfung eines illegalen Aufenthalts nach Grenzübertritt … nicht die gleiche Wirkung hat wie Grenzübertrittskontrollen im Sinne des Schengener Grenzkodexes. Damit wird dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. Juni 2010 [Urteil Melki und Abdeli] und dem Urteil [des Raad van State] vom 28. Dezember 2010 Rechnung getragen, und die mobilen Kontrollen werden in Einklang mit Art. 21 Buchst. a des Schengener Grenzkodexes gebracht.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

Herr Adil, der nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger ist, wurde am 28. März 2012 als Fahrgast eines Autobusses des Unternehmens Euroline, den die Königliche Marechaussee im Rahmen einer MTV-Kontrolle anhielt, einer Personenkontrolle unterzogen. Die Kontrolle fand an der von Deutschland in die Niederlande führenden Fahrbahn der Autobahn A67/E34 auf dem Stadtgebiet von Venlo (Niederlande) statt.

22

Im Polizeiprotokoll vom 28. März 2012 über das Anhalten, die Festnahme und die Inhaftierung heißt es, dass die MTV-Kontrolle gemäß Art. 4.17a der Ausländerverordnung auf der Grundlage von Informationen oder Erfahrungswerten über den illegalen Aufenthalt nach Grenzübertritt durchgeführt worden sei, dass sie innerhalb einer Zone von 20 km ab der Landgrenze mit Deutschland stattgefunden habe, dass an dieser Stelle im Monat März eine oder mehrere Kontrollen mit einer Gesamtdauer von 54 Stunden und 38 Minuten stattgefunden hätten, dass an der Stelle am fraglichen Tag eine oder mehrere Kontrollen mit einer Gesamtdauer von einer Stunde stattgefunden hätten und dass bei diesen Kontrollen zwei Fahrzeuge, also ein Teil der dort vorüberfahrenden Fahrzeuge, tatsächlich angehalten worden seien.

23

Mit Entscheidung vom 28. März 2012 wurde Herr Adil auf der Grundlage des Ausländergesetzes inhaftiert.

24

Mit einer Klage vor der Rechtbank ’s-Gravenhage machte Herr Adil geltend, dass seine Kontrolle und der gegen ihn erlassene Haftbefehl rechtswidrig seien, da es sich bei der MTV-Kontrolle um eine durch Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verbotene Grenzkontrolle gehandelt habe. Herr Adil verwies insbesondere darauf, dass zum Zeitpunkt der Kontrolle in seinem Fall kein begründeter Verdacht eines illegalen Aufenthalts bestanden habe.

25

Den der Vorlageentscheidung beigefügten Dokumenten und den Erklärungen der niederländischen Regierung vor dem Gerichtshof ist zu entnehmen, dass Herr Adil, nachdem er zur Kontrolle angehalten worden war, einen Asylantrag stellte. Aus einer Abfrage der Datenbank Eurodac, die durch die Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens (ABl. L 316, S. 1) geschaffen wurde, ergab sich weiter, dass er bereits einen Asylantrag in Norwegen gestellt hatte. Vor der Rechtbank ’s-Gravenhage wandte sich Herr Adil außerdem gegen die Art und Weise der Behandlung seines Asylantrags.

26

Mit Urteil vom 16. April 2012 wies die Rechtbank ’s-Gravenhage die Klage von Herrn Adil als unbegründet ab.

27

Dieses Gericht stützte sich insbesondere auf eine Entscheidung des Raad van State vom 5. März 2012, der zufolge die MTV-Kontrollen der Verordnung Nr. 562/2006 nicht zuwiderliefen; mit dieser Entscheidung war eine vorangegangene Entscheidung des Raad van State vom 20. Oktober 2011 bestätigt worden. In seiner Entscheidung vom 5. März 2012 hatte der Raad van State insbesondere ausgeführt, dass Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 eine nicht abschließende Auflistung von Umständen enthalte, unter denen die Ausübung polizeilicher Befugnisse nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen im Sinne von Art. 20 dieser Verordnung gleichkomme.

28

Am 23. April 2012 legte Herr Adil gegen die Entscheidung der Rechtbank ’s-Gravenhage Rechtsmittel zum Raad van State (Abteilung für Verwaltungsstreitsachen) ein.

29

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass zwischen mehreren niederländischen Gerichten eine Meinungsverschiedenheit über die Vereinbarkeit der MTV-Kontrollen mit den Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 besteht.

30

So befand die Rechtbank Roermond (Strafrechtliche Abteilung) in einer Entscheidung vom 7. Februar 2012 unter Bezugnahme auf die vorgenannten Entscheidungen des Raad van State zur Rechtmäßigkeit der MTV-Kontrollen, dass die Rechtsprechung nach ihrem gegenwärtigen Stand der Klarheit ermangele, was die Frage angehe, ob die in Art. 4.17a der Ausländerverordnung vorgesehenen Garantien den im Urteil Melki und Abdel niedergelegten Voraussetzungen genügten. Dieses Gericht, von dem betont worden ist, dass der Wortlaut dieser Vorschrift in keiner Weise auf das Verhalten der betreffenden Person und das Vorliegen besonderer Umstände abstelle, aus denen sich die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung ergebe, hat dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei handelt es sich um die vor dem Gerichtshof weiterhin anhängige Rechtssache Jaoo (C-88/12).

31

Im gleichen Sinne entschied der Gerechtshof ’s-Hertogenbosch (Strafrechtliche Abteilung) in einer Entscheidung vom 11. Mai 2012, dass eine MTV-Kontrolle, auch wenn sie im Einklang mit Art. 4.17a der Ausländerverordnung durchgeführt werde, die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen habe und daher der Verordnung Nr. 562/2006 zuwiderlaufe. Nach Auffassung dieses Gerichts beruhen die MTV-Kontrollen nicht auf konkreten Tatsachen und Umständen, die den Verdacht eines illegalen Aufenthalts begründen. Ihre Durchführung sei ausschließlich eine Reaktion auf den beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritt, um überprüfen zu können, ob eine Person die erforderlichen Voraussetzungen dafür erfülle, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu betreten oder zu verlassen.

32

Der Raad van State hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen, dass er der Ausübung einer wie in Art. 50 des Ausländergesetzes gewährten und in Art. 4.17a der Ausländerverordnung näher geregelten nationalen Befugnis, in Gebieten hinter den Binnengrenzen Personenkontrollen durchzuführen, um zu überprüfen, ob die in dem Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllt sind, entgegensteht?

2.

a)

Steht Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 nationalen Kontrollen wie den in Art. 50 des Ausländergesetzes genannten entgegen, die auf der Grundlage von allgemeinen Informationen und Erfahrungswerten über den illegalen Aufenthalt von Personen am Ort der durchzuführenden Kontrolle, wie in Art. 4.17a Abs. 2 der Ausländerverordnung festgelegt, durchgeführt werden, oder müssen bei Durchführung solcher Kontrollen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich eine zu kontrollierende Person illegal in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält?

b)

Steht Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einer solchen Kontrolle entgegen, wenn sie durchgeführt wird, um die unter Buchst. a genannten allgemeinen Informationen und Erfahrungswerte über einen illegalen Aufenthalt zu erlangen, und dies in begrenztem Umfang geschieht?

3.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen, dass mit der Beschränkung der Kontrollbefugnis in der in einer gesetzlichen Regelung wie Art. 4.17a der Ausländerverordnung festgelegten Art und Weise hinreichend gewährleistet ist, dass eine Kontrolle nicht faktisch die nach Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 verbotene Wirkung einer Grenzübertrittskontrolle haben kann?

Zum Eilverfahren

33

In seiner Vorlageentscheidung vom 4. Juni 2012 hat der Raad van State beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

34

Zur Begründung dieses Antrags hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass Herr Adil seit seiner Anhaltung zur Kontrolle im niederländischen Grenzgebiet zu Deutschland einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen sei und dass die Antwort auf die vorgelegten Fragen für die Entscheidung über die gegen ihn verfügte Haft erheblich sei. Überdies seien verschiedene Verfahren wegen ähnlicher Inhaftierungen vor mehreren niederländischen Gerichten anhängig.

35

Die Zweite Kammer des Gerichtshofs hat am 11. Juni 2012 auf Bericht des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

36

Es ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Raad van State in seiner Vorlageentscheidung keine Angaben zu den von Herrn Adil gestellten Asylanträgen gemacht hat und dass zu den Auswirkungen dieser Anträge auf die gegen Herrn Adil verfügte Haft keine Frage gestellt worden ist.

37

Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind auf die Auslegung der Verordnung Nr. 562/2006 beschränkt.

38

Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die es den mit der Grenzüberwachung und der Kontrolle von Ausländern beauftragten Beamten erlaubt, in einem räumlichen Gebiet von 20 km ab der Landgrenze zwischen einem Mitgliedstaat und den Vertragsstaaten des SDÜ Kontrollen durchzuführen, um zu überprüfen, ob die zur Kontrolle angehaltenen Personen die in diesem Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllen, wenn diese Kontrollen auf allgemeinen Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem illegalen Aufenthalt von Personen an den Orten der Kontrollen beruhen, wenn sie in begrenztem Umfang auch zu dem Zweck durchgeführt werden dürfen, solche allgemeinen Informationen und Daten über die Erfahrung in diesem Bereich zu erlangen, und wenn ihre Durchführung bestimmten Beschränkungen insbesondere hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit unterliegt.

Erklärungen vor dem Gerichtshof

39

Herr Adil trägt vor, dass die niederländische Regelung nicht den in Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 festgelegten Voraussetzungen entspreche. Zunächst gehöre diese Regelung zu den nationalen Rechtsvorschriften über die Immigration und nicht zu denen über die Vorbeugung und Bekämpfung von Straftaten, und sie werde faktisch ausschließlich von Beamten angewandt, die speziell mit der Grenzüberwachung und der Kontrolle von Ausländern beauftragt seien. Weiter beruhten die MTV-Kontrollen im Unterschied zu den Kontrollen im übrigen Hoheitsgebiet, die das Vorliegen eines begründeten Verdachts auf illegalen Aufenthalt voraussetzten, ausschließlich auf einem Grenzübertritt und hätten den gleichen Zweck wie Grenzkontrollen. Die in der niederländischen Regelung vorgesehene Beschränkung der Intensität der MTV-Kontrollen sei nicht geeignet, in der Praxis zu verhindern, dass diese Kontrollen die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten.

40

Die tschechische Regierung ist der Auffassung, dass die MTV-Kontrollen im Gegensatz zu den im Urteil Melki und Abdeli geprüften Kontrollen den Zweck einer Grenzübertrittskontrolle im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 562/2006 verfolgten. Personenkontrollen im Anschluss an den Grenzübertritt, die die fragliche Grenze vor heimlicher Immigration schützen sollten, fielen in den Bereich der durch Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verbotenen Kontrollen an den Binnengrenzen. Daher brauche nicht geprüft zu werden, ob die niederländische Regelung Garantien wie die im Urteil Melki und Abdeli verlangten vorsehe.

41

Die niederländische, die deutsche und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission sind hingegen der Ansicht, dass Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 nicht einer nationalen Regelung entgegenstehe, die Kontrollen wie die MTV-Kontrollen vorsehe, welche in einem Grenzgebiet stattfänden, die die Bekämpfung des illegalen Aufenthalts bezweckten und deren Durchführung genaueren Regelungen und Einschränkungen unterliege.

42

Diese Regierungen heben hervor, dass mit den MTV-Kontrollen hauptsächlich der illegale Aufenthalt bekämpft, nicht aber festgestellt werden solle, ob eine Person in das niederländische Hoheitsgebiet einreisen dürfe. Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 stehe einem solchen Zweck nicht entgegen. Auch wenn die Bekämpfung des illegalen Aufenthalts nicht ausdrücklich unter den Zielen aufgeführt sei, die mit den Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets verfolgt würden und nach dieser Bestimmung zulässig seien, zeige nämlich der darin verwendete Ausdruck „insbesondere“, dass diese Auflistung nicht abschließend sei. Die mit Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 in Einklang stehenden polizeilichen Maßnahmen dürften darum auch andere Ziele verfolgen als die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität.

43

Zu der Grundlage der MTV-Kontrollen führt die niederländische Regierung unter Bezugnahme auf den Wortlaut von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 aus, dass die polizeilichen Maßnahmen auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen beruhen dürften. Wie sich aus Randnr. 74 des Urteils Melki und Abdeli ergebe, sei das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sich eine kontrollierte Person illegal in dem Mitgliedstaat aufhalte, nicht erforderlich.

44

Die Kommission meint, dass es die Selektivität der Kontrollen, infolge deren nur ein Teil der Passanten kontrolliert werde, wahrscheinlicher mache, dass die Kontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten. Dank dieser Selektivität seien die fraglichen Kontrollen eindeutig anderer Art als systematische Kontrollen an den Außengrenzen.

45

Zu dem Umstand, dass sich die MTV-Kontrollen im Grenzgebiet von den Kontrollen im übrigen Hoheitsgebiet unterscheiden, führen die niederländische, die deutsche und die französische Regierung sowie die Kommission aus, dass eine solche Differenzierung, wie sich aus dem Urteil Melki und Abdeli ergebe, nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zulässig sei. Diese Unterscheidung erscheine nämlich vernünftig angesichts des mit den Identitätskontrollen verfolgten Zwecks, den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen, sowie des Umstands, dass diese Kontrollen, um effektiv zu sein, den Besonderheiten der Grenzgebiete Rechnung tragen müssten.

46

Die niederländische Regierung und die Kommission sind der Ansicht, dass Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 auch nicht begrenzten Kontrollen entgegenstehe, mit denen ergänzende Informationen darüber gesammelt werden sollten, welche geänderten oder neuen Routen heimlich reisende Ausländer gewöhnlich wählten. Die Kommission unterstreicht jedoch, dass beide Arten von Kontrollen unter strenger Beachtung der gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen durchgeführt werden müssten.

47

Die niederländische, die deutsche und die französische Regierung sowie die Kommission sind zudem der Auffassung, dass Art. 4.17a der Ausländerverordnung, der insbesondere die Intensität und Häufigkeit der Kontrollen bestimmten Voraussetzungen unterwerfe, die Befugnis zur Durchführung der Kontrollen genügend eingrenze, um zu gewährleisten, dass diese Kontrollen nicht in der Praxis die gleiche Wirkung wie die durch Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 verbotenen Grenzübertrittskontrollen hätten. Die niederländische Regierung weist insoweit darauf hin, dass das tatsächliche Anhalten von Fahrzeugen auf der Grundlage von Profilen und Stichproben stattfinde, um zu gewährleisten, dass nur ein Teil der vorüberfahrenden Fahrzeuge wirklich angehalten werde. Folglich unterscheide sich die Planung und Durchführung dieser Kontrollen eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen.

Antwort des Gerichtshofs

48

Gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV in dessen Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) stellt die Union sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden.

49

Laut dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 562/2006 ist die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen Teil des Ziels der Union nach Art. 26 AEUV, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

50

Der Unionsgesetzgeber hat dieses Teilziel des Fehlens von Kontrollen an den Binnengrenzen dadurch umgesetzt, dass er gemäß Art. 62 EG, jetzt Art. 77 AEUV, die Verordnung Nr. 562/2006 erlassen hat, die laut ihrem 22. Erwägungsgrund den Schengen-Besitzstand ergänzt. Diese Verordnung enthält in ihrem Titel III eine Gemeinschaftsregelung für das Überschreiten der Binnengrenzen.

51

Nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 dürfen die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Nach Art. 2 Nr. 10 der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Grenzübertrittskontrollen“ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen.

52

Gemäß Art. 72 AEUV berührt dessen Titel V nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.

53

Insoweit bestimmt Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten.

54

Nach dieser Bestimmung der Verordnung Nr. 562/2006 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

55

Was Kontrollen wie die MTV-Kontrollen angeht, die auf Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes beruhen und unter den in Art. 4.17a der Ausländerverordnung näher geregelten Voraussetzungen durchgeführt werden, ist insbesondere festzustellen, dass sie nicht „an den Grenzen“ oder in dem Moment, in dem die Grenze überschritten wird, durchgeführt werden, sondern innerhalb des Hoheitsgebiets (vgl. in diesem Sinne Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 68).

56

Folglich bilden diese Kontrollen entgegen dem Vorbringen der tschechischen Regierung keine Grenzübertrittskontrollen, die durch Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 verboten sind, sondern Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, die unter Art. 21 dieser Verordnung fallen.

57

Es ist sodann zu prüfen, ob Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets, die wie die MTV-Kontrollen konzipiert sind und durchgeführt werden, jedenfalls durch Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 untersagt werden. Das wäre der Fall, wenn diese Kontrollen in Wirklichkeit die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 69).

58

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes Kontrollen, die speziell in den Grenzgebieten durchgeführt werden, und Kontrollen vorsieht, die im übrigen Hoheitsgebiet durchgeführt werden. Den Angaben in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte, die in der mündlichen Verhandlung näher erläutert worden sind, ist zu entnehmen, dass diese beiden Arten von Kontrollen zwar dasselbe Ziel der Bekämpfung des rechtswidrigen Aufenthalts haben, jedoch die Kontrollen außerhalb des Grenzgebiets auf einem begründeten Verdacht des illegalen Aufenthalts beruhen müssen. Im Rahmen der MTV-Kontrollen, die gemäß Art. 4.17a der Ausländerverordnung durchgeführt werden, dürfen Personen auf der Grundlage von Informationen oder Erfahrungswerten über den illegalen Aufenthalt nach einem Grenzübertritt und ohne Vorliegen eines solchen Verdachts angehalten werden.

59

Was erstens das mit der niederländischen Regelung über die MTV-Kontrollen verfolgte Ziel anbelangt, ist daran zu erinnern, dass nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere dann nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden darf, wenn eine oder mehrere der dort aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind, zu denen die in Ziff. i dieser Bestimmung festgelegte Voraussetzung gehört, dass die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben.

60

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen, deren Nachprüfung Sache des nationalen Gerichts ist, dass sich die mit den MTV-Kontrollen verfolgten Ziele in bestimmten wesentlichen Punkten von denen unterscheiden, die mit Grenzübertrittskontrollen verfolgt werden.

61

Gemäß Art. 2 Nrn. 9 bis 11 der Verordnung Nr. 562/2006 haben Grenzübertrittskontrollen zum einen das Ziel, sich zu vergewissern, dass die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus ihm ausreisen dürfen, und zum anderen, zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen (vgl. Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 71). Es handelt sich um Kontrollen, die systematisch durchgeführt werden dürfen.

62

Hingegen sollen mit den in der niederländischen Regelung vorgesehenen Kontrollen die Identität, die Staatsangehörigkeit und/oder das Aufenthaltsrecht der angehaltenen Person festgestellt werden, um hauptsächlich den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Es handelt sich um selektive Kontrollen, mit denen Personen in einer irregulären Lage ausfindig gemacht werden sollen und die von illegaler Einwanderung abschrecken sollen, wobei das mit diesen Kontrollen angestrebte Ziel im gesamten Hoheitsgebiet verfolgt wird, auch wenn für die Grenzgebiete besondere Vorschriften über die Durchführung der Kontrollen gelten.

63

Nach Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006 wird die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, in seinem nationalen Recht Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen und somit, um die Einhaltung dieser Verpflichtungen sicherzustellen, Identitätskontrollen vorzusehen, durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen nicht berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 71).

64

Auch der Umstand, dass die Identitätskontrollen, die auf der Grundlage von Art. 50 Abs. 1 des Ausländergesetzes gemäß Art. 4.17a der Ausländerverordnung durchgeführt werden, hauptsächlich der Bekämpfung des illegalen Aufenthalts nach einem Grenzübertritt dienen und dass Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 auf dieses Ziel nicht ausdrücklich Bezug nimmt, bedeutet nicht, dass ein dem Art. 21 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 562/2006 zuwiderlaufendes Ziel der Grenzkontrolle vorläge.

65

Zum einen enthält, wie die niederländische Regierung und die Kommission hervorgehoben haben, Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 weder eine abschließende Auflistung der Voraussetzungen, die polizeiliche Maßnahmen erfüllen müssen, um nicht als Maßnahmen mit gleicher Wirkungen wie Grenzübertrittskontrollen angesehen zu werden, noch eine abschließende Auflistung der Ziele, die mit diesen polizeilichen Maßnahmen verfolgt werden dürfen. Diese Auslegung wird durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 und in Ziff. ii dieses Art. 21 Buchst. a bestätigt.

66

Zum anderen wird weder durch Art. 79 Abs. 1 und 2 Buchst. c AEUV – wonach die Union eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwickelt, um insbesondere die Verhütung von illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt zu gewährleisten – noch durch die Verordnung Nr. 562/2006 die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Bekämpfung von illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt ausgeschlossen, auch wenn sie ihre Rechtsvorschriften so auszugestalten haben, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, Slg. 2011, I-12695, Randnrn. 30 und 33). Es wird nämlich sowohl durch Art. 21 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 562/2006 als auch durch den Wortlaut von Art. 72 AEUV bestätigt, dass die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berührt hat.

67

Dass die niederländische Regelung das Ziel verfolgt, den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen, bedeutet folglich nicht, dass die im Ausgangsverfahren in Frage stehenden MTV-Kontrollen die gleiche Wirkung hätten wie die durch Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 verbotenen Grenzübertrittskontrollen.

68

Die Einhaltung des Unionsrechts und insbesondere der Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 ist nämlich durch die Schaffung und Wahrung eines rechtlichen Rahmens zu sichern, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der Zuständigkeit für die Durchführung von Identitätskontrollen im Rahmen der Bekämpfung des illegalen Aufenthalts und daneben der mit illegaler Einwanderung verbundenen grenzüberschreitenden Kriminalität nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Melki und Abdeli, Randnrn. 73 und 74).

69

Zweitens genügt der bloße Umstand, dass der räumliche Geltungsbereich der durch eine nationale Regelung wie die niederländische verliehenen Befugnisse zu Kontrollen auf ein Grenzgebiet beschränkt ist, angesichts von Wortlaut und Ziel des Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 nicht, um festzustellen, dass die Ausübung dieser Befugnisse eine gleiche Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung hat (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 72). In Satz 1 dieser Bestimmung wird nämlich auf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts auch in Grenzgebieten ausdrücklich Bezug genommen.

70

Zwar hat der Gerichtshof hinsichtlich der Kontrollen auf Straßen und Wasserstraßen befunden, dass es ein Indiz für das Vorliegen einer gleichen Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 bilden kann, wenn eine nationale Bestimmung Sonderregeln für ihren räumlichen Geltungsbereich vorsieht. Dass diese Kontrollen mit dieser Bestimmung in Einklang stehen, ist bei Vorliegen eines solchen Indizes jedoch durch genauere Regelungen und Einschränkungen sicherzustellen, die die praktische Ausübung der den Mitgliedstaaten zustehenden polizeilichen Befugnisse so eingrenzen, dass eine solche gleiche Wirkung vermieden wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 72).

71

Drittens hat entgegen dem Vorbringen von Herrn Adil und der tschechischen Regierung der Umstand, dass die in einem Grenzgebiet durchgeführten MTV-Kontrollen im Unterschied zu den Identitätskontrollen im übrigen nationalen Hoheitsgebiet nicht von dem vorherigen Vorliegen eines begründeten Verdachts des illegalen Aufenthalts abhängen, nicht zur Folge, dass diesen MTV-Kontrollen die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen zuzusprechen wäre.

72

Nach Art. 21 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 dürfen nämlich polizeiliche Maßnahmen nicht Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn sie auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen.

73

Im Übrigen ist der Unionsgesetzgeber, wie aus den Erklärungen der deutschen Regierung hervorgeht, nicht dem Vorschlag der Kommission gefolgt, eine Identität der Modalitäten und Ziele hinsichtlich der Kontrollen der Mitgliedstaaten innerhalb ihres Hoheitsgebiets zu verlangen. Dass in Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 keine Voraussetzung festgelegt wird, mit der verlangt würde, dass Polizeikontrollen in einem Grenzgebiet mit den Kontrollen innerhalb des gesamten Hoheitsgebiets identisch sind, wird auch dadurch bestätigt, dass ein solches Identitätserfordernis hingegen in Art. 21 Buchst. b für Sicherheitskontrollen in See- und Flughäfen ausdrücklich vorgesehen ist.

74

Im Übrigen hat der Gerichtshof in Randnr. 74 des Urteils Melki und Abdeli anerkannt, dass eine nationale Regelung den Polizeibehörden eine besondere Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen verleihen darf, die auf ein Grenzgebiet beschränkt sind, ohne dass hierdurch, sofern bestimmte genauere Regelungen und Einschränkungen vorgesehen und gewahrt sind, gegen Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 verstoßen würde.

75

Je zahlreicher jedoch die Indizien für eine mögliche gleiche Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 sind, die sich aus dem mit Kontrollen in einem Grenzgebiet verfolgten Ziel, aus deren räumlichem Anwendungsbereich und daraus ergeben, dass die Grundlage dieser Kontrollen von der der Kontrollen im übrigen Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verschieden ist, umso strenger müssen die genaueren Regelungen und Einschränkungen sein und eingehalten werden, denen die Ausübung der ihnen zustehenden Polizeibefugnisse durch die Mitgliedstaaten unterliegt, um die Verwirklichung des Ziels der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 67 Abs. 1 AEUV sowie Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 nicht zu gefährden.

76

Der insoweit erforderliche Rahmen muss hinreichend genau und detailliert sein, um sowohl die Notwendigkeit der Kontrollen als auch die konkret gestatteten Kontrollmaßnahmen selbst Kontrollen unterziehen zu können.

77

Hinsichtlich des Erfordernisses dieses Rahmens ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich die mit den MTV-Kontrollen verfolgten Ziele, wie aus den Randnrn. 60 bis 67 des vorliegenden Urteils hervorgeht, in bestimmten wesentlichen Punkten von denen der Kontrollen an den Grenzen unterscheiden.

78

Weiter ist festzustellen, dass die MTV-Kontrollen im Einklang mit Art. 21 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf den illegalen Aufenthalt nach einem Grenzübertritt beruhen. Wie aus Randnr. 65 des vorliegenden Urteils hervorgeht, können polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung des illegalen Aufenthalts, gleichviel ob sie dem Begriff der öffentlichen Ordnung oder dem der öffentlichen Sicherheit zuzuordnen sind, unter die Regelung des Art. 21 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 562/2006 fallen. Die Verpflichtung, die MTV-Kontrollen auf solche Informationen und Erfahrungen zu stützen, dürfte im Übrigen zur Selektivität der durchgeführten Kontrollen beitragen.

79

Schließlich werden die MTV-Kontrollen mit Einklang mit Art. 21 Buchst. a Ziff. iii der Verordnung Nr. 562/2006 in eindeutig anderer Weise durchgeführt als systematische Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union.

80

Die MTV-Kontrollen auf den Straßen und Wasserstraßen im Grenzgebiet mit Belgien und Deutschland dürfen nämlich gemäß Art. 4.17a Abs. 5 der Ausländerverordnung nur für eine begrenzte Stundenzahl pro Monat und Tag und nur im Hinblick auf einen Teil der Fortbewegungsmittel durchgeführt werden, die diese Straßen und Wasserstraßen passieren.

81

Nach den von der niederländischen Regierung beigebrachten Informationen obliegt es überdies dem nationalen Gericht, zu überprüfen, dass die Kontrollen in der Praxis auf der Grundlage entweder von Profilen oder von Stichproben durchgeführt werden. Die Profile richten sich nach Informationen oder Daten, die erhöhte Risiken des illegalen Aufenthalts und der grenzüberschreitenden Kriminalität auf bestimmten Straßen, zu bestimmten Zeiten oder je nach Art oder anderen Merkmale des Fahrzeugs belegen.

82

Die in einer nationalen Regelung wie Art. 4.17a der Ausländerverordnung vorgesehenen genaueren Regelungen und Einschränkungen, um die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der durchführbaren Kontrollen einzugrenzen, sind geeignet, zu verhindern, dass die praktische Ausübung der durch das niederländische Recht verliehenen Polizeibefugnisse unter Verletzung von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu Kontrollen führt, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

83

Was die Kontrollen zur Erlangung von Informationen im Bereich des illegalen Aufenthalts nach einem Grenzübertritt anbelangt, sieht Art. 4.17a Abs. 2 der Ausländerverordnung vor, dass diese sogenannten „Informationskontrollen“ nur in begrenztem Umfang durchgeführt werden dürfen.

84

Auf eine Frage in der mündlichen Verhandlung haben die niederländische Regierung und die Kommission erläutert, dass diese Informationskontrollen ebenfalls die in der Ausländerverordnung vorgesehenen genaueren Regelungen und Einschränkungen wahren müssen, die nach dem Urteil Melki und Abdeli eingeführt wurden. Die Kommission hat insbesondere darauf hingewiesen, dass diese Kontrollen die zeitlichen Einschränkungen gemäß Art. 4.17a Abs. 5 der Ausländerverordnung, d. h. sechs Stunden pro Tag und 90 Stunden pro Monat, wahren müssen. Im Übrigen dürfen diese Kontrollen nicht häufiger sein als die MTV-Kontrollen, die Gegenstand der zweiten Vorlagefrage unter Buchst. a sind.

85

Da allein das nationale Gericht für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, ist es seine Sache, zu überprüfen, ob dies der Fall ist.

86

Sofern die beiden Arten der MTV-Kontrollen unter Einhaltung des rechtlichen Rahmens gemäß Art. 4.17a der Ausländerverordnung durchgeführt werden, sind sie zum einen selektiv und damit ohne systematischen Charakter und handelt es sich bei ihnen zum anderen um polizeiliche Maßnahmen, die, wie in Art. 21 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung Nr. 562/2006 verlangt, auf der Grundlage von Stichproben stattfinden.

87

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass auf der Grundlage der dem Gerichtshof verfügbaren Informationen nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehenden niederländischen genauere Regelungen und Einschränkungen hinsichtlich der Ausübung der polizeilichen Befugnisse enthalten, die sie den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats verleihen. Überdies erscheinen diese genaueren Regelungen und Einschränkungen geeignet, die Intensität und Häufigkeit der im Grenzgebiet durch diese Behörden durchführbaren Kontrollen zu begrenzen und das ihnen zustehende Ermessen bei der praktischen Ausübung ihrer Zuständigkeit zu leiten.

88

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die es den mit der Grenzüberwachung und der Kontrolle von Ausländern beauftragten Beamten erlaubt, in einem räumlichen Gebiet von 20 km ab der Landgrenze zwischen einem Mitgliedstaat und den Vertragsstaaten des SDÜ Kontrollen durchzuführen, um zu überprüfen, ob die zur Kontrolle angehaltenen Personen die in diesem Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllen, wenn diese Kontrollen auf allgemeinen Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem illegalen Aufenthalt von Personen an den Orten der Kontrollen beruhen, wenn sie in begrenztem Umfang auch zu dem Zweck durchgeführt werden dürfen, solche allgemeinen Informationen und Daten über die Erfahrung in diesem Bereich zu erlangen, und wenn ihre Durchführung bestimmten Beschränkungen insbesondere hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit unterliegt.

Kosten

89

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) sind dahin auszulegen, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die es den mit der Grenzüberwachung und der Kontrolle von Ausländern beauftragten Beamten erlaubt, in einem räumlichen Gebiet von 20 km ab der Landgrenze zwischen einem Mitgliedstaat und den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen Kontrollen durchzuführen, um zu überprüfen, ob die zur Kontrolle angehaltenen Personen die in diesem Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllen, wenn diese Kontrollen auf allgemeinen Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem illegalen Aufenthalt von Personen an den Orten der Kontrollen beruhen, wenn sie in begrenztem Umfang auch zu dem Zweck durchgeführt werden dürfen, solche allgemeinen Informationen und Daten über die Erfahrung in diesem Bereich zu erlangen, und wenn ihre Durchführung bestimmten Beschränkungen insbesondere hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit unterliegt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.