Rechtssache C‑181/12

Yvon Welte

gegen

Finanzamt Velbert

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Düsseldorf)

„Freier Kapitalverkehr — Art. 56 EG bis 58 EG — Erbschaftsteuern — Erblasser und Erbe mit Wohnsitz in einem Drittland — Nachlassvermögen — In einem Mitgliedstaat belegenes Grundstück — Anspruch auf Inanspruchnahme eines Freibetrags auf die Steuerbemessungsgrundlage — Unterschiedliche Behandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 17. Oktober 2013

  1. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Liberalisierung des Kapitalverkehrs – Richtlinie 88/361 – Geltungsbereich – (Art. 56 Abs. 1 EG; Richtlinie 88/361, Anhang I)

  2. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen – Erbschaftsteuer – Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Erbschaftsteuern, nach der für ein im Gebiet dieses Staates belegenes Grundstück ein Freibetrag gewährt wird – Unterschiedliche Behandlung Gebietsansässiger und Gebietsfremder – Niedrigerer Freibetrag für Gebietsfremde – Unzulässigkeit – Rechtfertigungsgründe – Fehlen

    (Art. 56 EG und 58 EG)

  3. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern – Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, die am 31. Dezember 1993 bestanden – Begriff – Immobilieninvestitionen im Rahmen einer Erbschaft

    Ausschluss (Art. 56 EG und 57 Abs. 1 EG; Richtlinie 88/361 des Rates, Anhang I)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 18-21)

  2.  Die Art. 56 EG und 58 EG sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Erbschaftsteuern entgegenstehen, die für den Fall des Erwerbs eines im Gebiet dieses Staates belegenen Grundstücks durch Erbanfall vorsieht, dass der Freibetrag auf die Steuerbemessungsgrundlage dann, wenn der Erblasser und der Erwerber zum Zeitpunkt des Erbfalls ihren Wohnsitz in einem Drittland wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft hatten, niedriger ist als der Freibetrag, der zur Anwendung gekommen wäre, wenn zumindest eine dieser beiden Personen zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in dem genannten Mitgliedstaat gehabt hätte.

    Zum einen stellt diese nationale Regelung nämlich eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG dar.

    Zum anderen kann eine nationale Regelung, wenn sie für die Zwecke der Besteuerung einer von Todes wegen erworbenen Immobilie, die in dem betreffenden Mitgliedstaat belegen ist, gebietsfremde Erben, die diese Immobilie von einem gebietsfremden Erblasser erworben haben, einerseits und gebietsfremde oder gebietsansässige Erben, die eine solche Immobilie von einem gebietsansässigen Erblasser erworben haben, sowie gebietsansässige Erben, die diese Immobilie von einem gebietsfremden Erblasser erworben haben, andererseits auf die gleiche Stufe stellt, diese Erben im Rahmen dieser Besteuerung hinsichtlich der Anwendung eines Freibetrags auf die Steuerbemessungsgrundlage für diese Immobilie nicht unterschiedlich behandeln, ohne gegen die Vorgaben des Unionsrechts zu verstoßen. Indem der nationale Gesetzgeber Erwerbe von Todes wegen durch diese beiden Personengruppen – außer in Bezug auf die Höhe des Freibetrags, den der Erbe gegebenenfalls in Anspruch nehmen kann – gleich behandelt, hat er nämlich anerkannt, dass zwischen ihnen im Hinblick auf die Modalitäten und die Voraussetzungen für die Erhebung der Erbschaftsteuer kein objektiver Situationsunterschied besteht, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnte.

    Ebenso wie diese Eigenschaft als Steuerpflichtiger aber in keiner Weise vom Wohnsitz abhängig ist – da die fragliche Regelung unabhängig davon, ob Erblasser und Erbe in diesem Mitgliedstaat wohnhaft sind oder nicht, jeden Erwerb einer dort belegenen Immobilie der Erbschaftsteuer unterwirft –, erfasst der Zweck der teilweisen Steuerbefreiung des Familienvermögens in gleicher Weise alle im Mitgliedstaat erbschaftsteuerpflichtigen gebietsansässigen oder gebietsfremden Personen, da diese Befreiung auf die Herabsetzung der Gesamthöhe der Erbschaft abzielt.

    Da insoweit die Höhe des Freibetrags nicht von der Höhe der Steuerbemessungsgrundlage abhängig ist, sondern dem Erben aufgrund seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuerkannt wird, ist die beschränkte Steuerpflicht des gebietsfremden Erben eines gebietsfremden Erblassers kein Umstand, der im Hinblick auf den Freibetrag zu einem objektiven Unterschied zwischen der Situation dieses Erben einerseits und der Situation eines gebietsfremden Erben eines gebietsansässigen Erblassers oder der eines gebietsansässigen Erben eines gebietsansässigen oder gebietsfremden Erblassers andererseits führen könnte.

    (vgl. Randnrn. 26, 51, 53, 55, 68 und Tenor)

  3.  „Vermögensanlagen“ in Immobilien, die sich auf das Haus der Eltern der Erblasserin beziehen, zu privaten Zwecken getätigt wurden und nicht mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verbunden sind, fallen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 57 Abs. 1 EG.

    Nach dieser Bestimmung berührt nämlich Art. 56 EG nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestanden.

    Insoweit nennt Art. 57 Abs. 1 EG, der eine erschöpfende Liste von Kapitalbewegungen aufführt, die der Anwendung des Art. 56 Abs. 1 EG entzogen sein können, Erbschaften nicht. Diese Bestimmung ist jedoch als Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs eng auszulegen.

    Während aber Erbschaften unter die Rubrik XI („Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter“) des Anhangs I der Richtlinie 88/361 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags fallen, gehören „Direktinvestitionen“ wie auch „Immobilieninvestitionen“ zu anderen Rubriken, nämlich den Rubriken I bzw. II dieses Anhangs. Schon nach der Überschrift der Rubrik II des Anhangs I der Richtlinie 88/361 erfassen daher die in dieser Rubrik bezeichneten „Immobilieninvestitionen“ nicht die in Rubrik I dieses Anhangs bezeichneten Direktinvestitionen.

    Unter diesen Umständen sind mit der Bezugnahme in Art. 57 Abs. 1 EG auf „Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien“ nur diejenigen Anlagen in Immobilien gemeint, die unter die Rubrik I des Anhangs I der Richtlinie 88/361 fallende Direktinvestitionen darstellen.

    (vgl. Randnrn. 28, 29, 31, 33-35)


Rechtssache C‑181/12

Yvon Welte

gegen

Finanzamt Velbert

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Düsseldorf)

„Freier Kapitalverkehr — Art. 56 EG bis 58 EG — Erbschaftsteuern — Erblasser und Erbe mit Wohnsitz in einem Drittland — Nachlassvermögen — In einem Mitgliedstaat belegenes Grundstück — Anspruch auf Inanspruchnahme eines Freibetrags auf die Steuerbemessungsgrundlage — Unterschiedliche Behandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 17. Oktober 2013

  1. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr — Liberalisierung des Kapitalverkehrs — Richtlinie 88/361 — Geltungsbereich — (Art. 56 Abs. 1 EG; Richtlinie 88/361, Anhang I)

  2. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr — Beschränkungen — Erbschaftsteuer — Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Erbschaftsteuern, nach der für ein im Gebiet dieses Staates belegenes Grundstück ein Freibetrag gewährt wird — Unterschiedliche Behandlung Gebietsansässiger und Gebietsfremder — Niedrigerer Freibetrag für Gebietsfremde — Unzulässigkeit — Rechtfertigungsgründe — Fehlen

    (Art. 56 EG und 58 EG)

  3. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr — Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern — Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, die am 31. Dezember 1993 bestanden — Begriff — Immobilieninvestitionen im Rahmen einer Erbschaft

    Ausschluss (Art. 56 EG und 57 Abs. 1 EG; Richtlinie 88/361 des Rates, Anhang I)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 18-21)

  2.  Die Art. 56 EG und 58 EG sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats über die Berechnung von Erbschaftsteuern entgegenstehen, die für den Fall des Erwerbs eines im Gebiet dieses Staates belegenen Grundstücks durch Erbanfall vorsieht, dass der Freibetrag auf die Steuerbemessungsgrundlage dann, wenn der Erblasser und der Erwerber zum Zeitpunkt des Erbfalls ihren Wohnsitz in einem Drittland wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft hatten, niedriger ist als der Freibetrag, der zur Anwendung gekommen wäre, wenn zumindest eine dieser beiden Personen zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in dem genannten Mitgliedstaat gehabt hätte.

    Zum einen stellt diese nationale Regelung nämlich eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG dar.

    Zum anderen kann eine nationale Regelung, wenn sie für die Zwecke der Besteuerung einer von Todes wegen erworbenen Immobilie, die in dem betreffenden Mitgliedstaat belegen ist, gebietsfremde Erben, die diese Immobilie von einem gebietsfremden Erblasser erworben haben, einerseits und gebietsfremde oder gebietsansässige Erben, die eine solche Immobilie von einem gebietsansässigen Erblasser erworben haben, sowie gebietsansässige Erben, die diese Immobilie von einem gebietsfremden Erblasser erworben haben, andererseits auf die gleiche Stufe stellt, diese Erben im Rahmen dieser Besteuerung hinsichtlich der Anwendung eines Freibetrags auf die Steuerbemessungsgrundlage für diese Immobilie nicht unterschiedlich behandeln, ohne gegen die Vorgaben des Unionsrechts zu verstoßen. Indem der nationale Gesetzgeber Erwerbe von Todes wegen durch diese beiden Personengruppen – außer in Bezug auf die Höhe des Freibetrags, den der Erbe gegebenenfalls in Anspruch nehmen kann – gleich behandelt, hat er nämlich anerkannt, dass zwischen ihnen im Hinblick auf die Modalitäten und die Voraussetzungen für die Erhebung der Erbschaftsteuer kein objektiver Situationsunterschied besteht, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnte.

    Ebenso wie diese Eigenschaft als Steuerpflichtiger aber in keiner Weise vom Wohnsitz abhängig ist – da die fragliche Regelung unabhängig davon, ob Erblasser und Erbe in diesem Mitgliedstaat wohnhaft sind oder nicht, jeden Erwerb einer dort belegenen Immobilie der Erbschaftsteuer unterwirft –, erfasst der Zweck der teilweisen Steuerbefreiung des Familienvermögens in gleicher Weise alle im Mitgliedstaat erbschaftsteuerpflichtigen gebietsansässigen oder gebietsfremden Personen, da diese Befreiung auf die Herabsetzung der Gesamthöhe der Erbschaft abzielt.

    Da insoweit die Höhe des Freibetrags nicht von der Höhe der Steuerbemessungsgrundlage abhängig ist, sondern dem Erben aufgrund seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuerkannt wird, ist die beschränkte Steuerpflicht des gebietsfremden Erben eines gebietsfremden Erblassers kein Umstand, der im Hinblick auf den Freibetrag zu einem objektiven Unterschied zwischen der Situation dieses Erben einerseits und der Situation eines gebietsfremden Erben eines gebietsansässigen Erblassers oder der eines gebietsansässigen Erben eines gebietsansässigen oder gebietsfremden Erblassers andererseits führen könnte.

    (vgl. Randnrn. 26, 51, 53, 55, 68 und Tenor)

  3.  „Vermögensanlagen“ in Immobilien, die sich auf das Haus der Eltern der Erblasserin beziehen, zu privaten Zwecken getätigt wurden und nicht mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verbunden sind, fallen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 57 Abs. 1 EG.

    Nach dieser Bestimmung berührt nämlich Art. 56 EG nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestanden.

    Insoweit nennt Art. 57 Abs. 1 EG, der eine erschöpfende Liste von Kapitalbewegungen aufführt, die der Anwendung des Art. 56 Abs. 1 EG entzogen sein können, Erbschaften nicht. Diese Bestimmung ist jedoch als Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs eng auszulegen.

    Während aber Erbschaften unter die Rubrik XI („Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter“) des Anhangs I der Richtlinie 88/361 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags fallen, gehören „Direktinvestitionen“ wie auch „Immobilieninvestitionen“ zu anderen Rubriken, nämlich den Rubriken I bzw. II dieses Anhangs. Schon nach der Überschrift der Rubrik II des Anhangs I der Richtlinie 88/361 erfassen daher die in dieser Rubrik bezeichneten „Immobilieninvestitionen“ nicht die in Rubrik I dieses Anhangs bezeichneten Direktinvestitionen.

    Unter diesen Umständen sind mit der Bezugnahme in Art. 57 Abs. 1 EG auf „Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien“ nur diejenigen Anlagen in Immobilien gemeint, die unter die Rubrik I des Anhangs I der Richtlinie 88/361 fallende Direktinvestitionen darstellen.

    (vgl. Randnrn. 28, 29, 31, 33-35)