SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 14. November 2013 ( 1 )

Rechtssache C‑484/12

Georgetown University

gegen

Octrooicentrum Nederland, handelnd unter dem Namen NL Octrooicentrum

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank ’s‑Gravenhage [Niederlande])

„Humanarzneimittel — Verordnung (EG) Nr. 469/2009 — Art. 3 und 14 — Ergänzendes Schutzzertifikat (ESZ) — Verzicht auf ein Zertifikat: Anwendbares Recht und zeitliche Wirkungen — Wahl zwischen mehreren laufenden Anträgen auf Erteilung“

I – Einleitung

1.

Die vorliegenden Schlussanträge betreffen im Wesentlichen die Frage, inwiefern sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Art. 3 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ( 2 ) (im Folgenden: ESZ-Verordnung) dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass, wenn ein gültiges Grundpatent mehrere Erzeugnisse schützt, dem Inhaber des Grundpatents für jedes der geschützten Erzeugnisse ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel (im Folgenden: ESZ) erteilt wird, bei der Auslegung der erwähnten Verordnung auswirkt.

2.

Mit einem ESZ kann der Schutz für ein durch ein Grundpatent geschütztes Erzeugnis verlängert werden. Nach der ESZ-Verordnung und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein Erzeugnis entweder ein Wirkstoff oder eine Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels. Zweck des Systems ist es, die Mängel im Zusammenhang mit der Dauer des Genehmigungsverfahrens für das Inverkehrbringen, die die sich aus dem Patent ergebende tatsächliche Schutzdauer verkürzt, zu beheben. Das mit der ESZ-Verordnung eingeführte System betrifft allerdings nicht die Verlängerung der Laufzeit des Grundpatents als solchem, sondern nur den Schutz eines Erzeugnisses ( 3 ).

3.

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Patentrecht in der Europäischen Union nicht harmonisiert ist. Aus diesem Grund werden die ESZ in einem Kontext erteilt, in dem die Regelung für ESZ durch die ESZ-Verordnung vereinheitlicht worden ist, nicht aber ihre Grundlage (die Patente), was zu Problemen führt. Die Schnittstelle zwischen der für ESZ geltenden Regelung und dem nationalen Recht ist Gegenstand von Art. 19 der ESZ-Verordnung.

4.

Die ESZ-Verordnung ist vom Gerichtshof bereits u. a. in den Urteilen vom 24. November 2011, Medeva ( 4 ) sowie Georgetown University u. a. ( 5 ), ausgelegt worden, die Vorabentscheidungsersuchen zweiter britischer Gerichte zum Gegenstand hatten ( 6 ).

5.

In der vorliegenden Rechtssache stellt die Rechtbank ’s‑Gravenhage (Niederlande) fünf Vorlagefragen, von denen die erste mit den im Urteil Medeva behandelten Vorlagefragen übereinstimmt. Die Vorlage ist nämlich die unmittelbare Folge der bei dieser Gelegenheit vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der ESZ-Verordnung, wonach gemäß Art. 3 Buchst. c der genannten Verordnung, wenn ein Erzeugnis durch ein Patent geschützt wird, nicht mehr als ein ESZ für dieses Grundpatent erteilt werden kann ( 7 ).

6.

In der vorliegenden Rechtssache versucht Georgetown University mit der Auslegung, die sie dem vorlegenden Gericht vorschlägt, eine Lösung für den Fall zu bieten, dass der Inhaber eines Patents ein ESZ für ein Erzeugnis erhalten hat, bei dem es sich nicht um dasjenige handelt, das er eigentlich schützen wollte, aber nur ein ESZ pro Grundpatent erteilt werden kann.

7.

Angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in den Rechtssachen, in denen die Urteile Medeva und Georgetown University u. a. ergangen sind, ist der Gerichtshof bereits jetzt ausreichend informiert, um auf die erwähnte erste Frage zu antworten. Daher ist in der vorliegenden Rechtssache nur über die zweite bis fünfte Frage zu entscheiden, die noch ungeklärt sind. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht diese vier letztgenannten Fragen nur für den Fall gestellt hat, dass die erste Frage bejaht wird, was die oben in Nr. 1 aufgestellte Prämisse erklärt.

8.

Die in den vorliegenden Schlussanträgen zu behandelnden Vorlagefragen lassen sich zusammenfassen. Sie betreffen zum einen die Frage, ob der Inhaber eines bereits erteilten ESZ rückwirkend auf dieses verzichten kann (vgl. vierte und fünfte Frage des vorlegenden Gerichts), und zum anderen bestimmte prozessuale Aspekte, die einer Situation eigen sind, in der mehrere Anträge auf Erteilung eines ESZ gleichzeitig anhängig sind (vgl. zweite und dritte Frage des vorlegenden Gerichts).

9.

Ferner weise ich darauf hin, dass zwei weitere gegenwärtig beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen ebenfalls die Auslegung der ESZ-Verordnung betreffen. Da sich die Vorlagefragen des High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Vereinigtes Königreich) in den Rechtssachen Actavis Group und Actavis UK (C‑443/12) sowie Eli Lilly and Company (C‑493/12) teilweise mit denen der vorliegenden Rechtssache überschneiden, hat der Gerichtshof am 12. September 2013 eine gemeinsame mündliche Verhandlung für die drei Rechtssachen anberaumt, wobei er beschlossen hat, über die beiden letzten Rechtssachen ohne Schlussanträge zu entscheiden.

II – Rechtlicher Rahmen

ESZ-Verordnung

10.

Nach Art. 3 der ESZ-Verordnung wird das ESZ erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist (Buchst. a) und für das Erzeugnis nicht bereits ein ESZ erteilt wurde (Buchst. c).

11.

Nach Art. 14 der ESZ-Verordnung erlischt das ESZ u. a. am Ende seiner Laufzeit (Buchst. a), bei Verzicht des Inhabers des ESZ (Buchst. b) oder bei nicht rechtzeitiger Zahlung der festgesetzten Jahresgebühr (Buchst. c).

12.

Das ESZ ist gemäß Art. 15 Abs. 1 der ESZ-Verordnung nichtig, wenn es entgegen den Vorschriften ihres Art. 3 erteilt wurde (Buchst. a), wenn das Grundpatent vor Ablauf seiner gesetzlichen Laufzeit erloschen ist (Buchst. b), wenn „das Grundpatent für nichtig erklärt oder derartig beschränkt wird, dass das Erzeugnis, für welches das [ESZ] erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des Grundpatents erfasst wird, oder wenn nach Erlöschen des Grundpatents Nichtigkeitsgründe vorliegen, die die Nichtigerklärung oder Beschränkung gerechtfertigt hätten“ (Buchst. c).

13.

Gemäß Art. 19 Abs. 1 der ESZ-Verordnung finden, soweit diese keine Verfahrensvorschriften enthält, auf das ESZ die nach einzelstaatlichem Recht für das entsprechende Grundpatent geltenden Verfahrensvorschriften Anwendung, sofern das einzelstaatliche Recht keine besonderen Verfahrensvorschriften für ESZ vorsieht.

– Das niederländische Patentgesetz von 1995

14.

Im Hinblick auf die Beantwortung der fünften Vorlagefrage ist es sachdienlich, Art. 63 der Nederlandse Rijksoctrooiwet 1995 (niederländisches Reichspatentgesetz von 1995) wiederzugeben, der bestimmt:

„(1)   Ein Patentinhaber kann ganz oder teilweise auf sein Patent verzichten. Der Verzicht hat gemäß Art. 75 Abs. 5 bis 7 rückwirkende Kraft.

…“

15.

In Art. 75 des genannten Gesetzes heißt es wiederum:

„…

(5)   Die in den Art. 53, 53a, 71, 72 und 73 vorgesehenen Rechtswirkungen eines Patents gelten als von Anfang an ganz oder teilweise nicht eingetreten, je nachdem, ob das Patent ganz oder teilweise für nichtig erklärt worden ist.

(6)   Die Rückwirkung der Nichtigkeit berührt nicht

a)

eine andere Entscheidung als eine einstweilige Anordnung in Bezug auf Handlungen, die gegen das in den Art. 53 und 53a genannte Ausschließlichkeitsrecht des Patentinhabers verstoßen, oder in Bezug auf Handlungen im Sinne der Art. 71, 72 und 73, die vor der Nichtigerklärung rechtskräftig geworden und vollstreckt worden ist;

b)

einen vor der Nichtigerklärung geschlossenen Vertrag, soweit er vor der Nichtigerklärung erfüllt worden ist; aus Billigkeitsgründen kann jedoch verlangt werden, dass in Erfüllung des Vertrags gezahlte Beträge insoweit zurückerstattet werden, als die Umstände dies rechtfertigen.

(7)   Im Rahmen von Abs. 6 Buchst. b bezeichnet der Ausdruck ‚Abschluss eines Vertrags‘ auch die Erteilung einer Lizenz auf eine andere in den Art. 56 Abs. 2, 59 oder 60 angegebene Weise.“

16.

Es ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervorgeht, dass die niederländischen Rechtsvorschriften besondere Verfahrensregeln für ESZ enthalten.

III – Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

17.

Georgetown University reichte am 24. Juni 1993 eine europäische Patentanmeldung mit der Bezeichnung „Impfstoff gegen den Papillomavirus“ ein, die vom Europäischen Patentamt unter der Nr. EP 0647140 für ein Protein des humanen Papillomavirus registriert wurde, das neutralisierende Antikörper gegen die Virionen des Papillomavirus entstehen lassen kann. Dieses Patent wurde am 12. Dezember 2007 erteilt.

18.

Unter Verweis auf für die Arzneimittel Gardasil bzw. Cervarix erteilten Zulassungen reichte Georgetown University am 14. Dezember 2007 beim NL Octrooicentrum sieben Anmeldungen eines ESZ ein, die auf das Patent EP 0647140 Bezug nahmen. Zwei ESZ wurden am 15. Januar 2008 erteilt, eine Anmeldung mit der Nr. 300321 wurde am 19. Mai 2010 zurückgewiesen, und vier weitere blieben anhängig.

19.

Georgetown University focht die genannte Entscheidung über die Zurückweisung der Erteilung eines ESZ vor dem vorlegenden Gericht an.

20.

Im Anschluss an die Urteile Medeva und Georgetown University u. a. teilte Georgetown University dem vorlegenden Gericht mit, dass sie bereit sei, auf die bereits erteilten ESZ zu verzichten und alle anhängigen Anmeldungen zurückzunehmen, wenn das NL Octrooicentrum eine positive Entscheidung über die Anmeldung eines ESZ mit der Nr. 300321 erlasse.

21.

Da die Rechtbank ’s‑Gravenhage der Ansicht war, die Entscheidung des bei ihr anhängigen Rechtsstreits hänge u. a. von der Auslegung der Art. 3 und 14 der ESZ-Verordnung ab, beschloss sie, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mit Beschluss vom 12. Oktober 2012, bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen am 31. Oktober 2012, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht die [ESZ-Verordnung], insbesondere ihr Art. 3 Buchst. c, dem entgegen, dass, wenn ein gültiges Grundpatent mehrere Erzeugnisse schützt, dem Inhaber des Grundpatents für jedes der geschützten Erzeugnisse ein [ESZ] erteilt wird?

2.

Sofern die erste Frage zu bejahen ist: Wie ist Art. 3 Buchst. c der [ESZ-Verordnung] in dem Fall auszulegen, dass ein gültiges Grundpatent mehrere Erzeugnisse schützt und zum Zeitpunkt der Anmeldung eines [ESZ] für eines der durch das Grundpatent geschützten Erzeugnisse (A) zwar noch keine [ESZ] für andere durch dasselbe Grundpatent geschützte Erzeugnisse (B, C) erteilt worden waren, auf diese Anmeldungen für die Erzeugnisse (B, C) hin jedoch [ESZ] erteilt worden sind, bevor über die Anmeldung eines [ESZ] für das erstgenannte Erzeugnis (A) entschieden ist?

3.

Ist es für die Beantwortung der vorstehenden Frage von Bedeutung, ob die Anmeldung für eines der durch das Grundpatent geschützten Erzeugnisse (A) am selben Tag wie die Anmeldungen anderer durch dasselbe Grundpatent geschützter Erzeugnisse (B, C) eingereicht worden ist?

4.

Sofern die erste Frage zu bejahen ist: Kann ein [ESZ] für ein durch ein gültiges Grundpatent geschütztes Erzeugnis erteilt werden, wenn bereits zuvor für ein anderes durch dasselbe Grundpatent geschütztes Erzeugnis ein [ESZ] erteilt worden ist, der Anmelder aber auf das erstgenannte [ESZ] verzichtet, um auf der Grundlage desselben Grundpatents ein neues [ESZ] erhalten zu können?

5.

Sofern es für die Beantwortung der vorstehenden Frage erheblich ist, ob der Verzicht rückwirkende Kraft hat: Richtet sich die Frage der Rückwirkung eines Verzichts nach Art. 14 Buchst. b der [ESZ-Verordnung] oder nach dem nationalen Recht? Sofern sich die Frage der Rückwirkung eines Verzichts nach Art. 14 Buchst. b der [ESZ-Verordnung] richtet: Ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass ein Verzicht rückwirkende Kraft hat?

22.

Georgetown University, die niederländische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben, wobei die französische Regierung Erklärungen lediglich zur ersten, vierten und fünften Frage und die Kommission ausschließlich zur ersten Frage eingereicht hat.

IV – Würdigung

A – Einleitende Bemerkungen

23.

Wie ich bereits festgestellt habe, werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die zweite bis fünfte Vorlagefrage konzentrieren, die das vorlegende Gericht für den Fall stellt, dass die erste Frage bejaht wird. Daher wird meine Würdigung, obwohl die Mehrzahl der Verfahrensbeteiligten in der vorliegenden Rechtssache und in der anhängigen Rechtssache Actavis Group und Actavis UK vorgeschlagen haben, die genannte Frage, die dahin geht, ob das Unionsrecht dem entgegensteht, dass auf der Grundlage ein und desselben, mehrere Erzeugnisse schützenden Patents ein ESZ für jedes der geschützten Erzeugnisse erteilt werden kann, zu verneinen, von dem Postulat ausgehen, dass die erste Vorlagefrage zu bejahen ist.

24.

Bei der genannten Würdigung werde ich die Fragen wie oben in Nr. 8 angegeben zusammenfassen.

B – Zur vierten und zur fünften Frage

25.

Mit seiner vierten und fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Regelung für einen Verzicht durch den Inhaber des ESZ gilt und welche Wirkungen ein solcher Verzicht hat. Insbesondere möchte es wissen, ob sich der Verzicht auf ein ESZ, das für ein durch ein Grundpatent geschütztes Erzeugnis erteilt wurde, nach dem nationalen Recht oder nach Art. 14 Buchst. b der ESZ-Verordnung richtet und – im letztgenannten Fall – ob der genannte Verzicht seine Wirkungen nur für die Zukunft erzeugt oder rückwirkende Kraft hat, so dass der Anmelder eine neue Anmeldung eines ESZ für ein anderes Erzeugnis einreichen könnte.

26.

Vor dem vorlegenden Gericht hat Georgetown University angegeben, bereit zu sein, auf die beiden ESZ, die ihr für das europäische Grundpatent EP 0647140 erteilt worden waren, zu verzichten und alle anderen anhängigen Anmeldungen eines ESZ, die auf dem genannten Patent beruhen, zurückzunehmen, damit ihr auf der Grundlage ihrer Anmeldung mit der Nr. 300321 ein ESZ erteilt wird. Sie ist nämlich der Auffassung, im Hinblick auf das niederländische Patentrecht habe der Verzicht auf ein ESZ rückwirkende Kraft.

27.

Alle Verfahrensbeteiligten, die schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, stimmen darin überein, dass der Begriff „Verzicht“ ein Begriff des Unionsrechts sei, der eine einheitliche Auslegung erhalten müsse. Georgetown University ist zwar der Ansicht, dieser Verzicht müsse Rückwirkung haben, die niederländische und die französische Regierung vertreten jedoch ihrerseits die Auffassung, ein solcher Verzicht könne nur Wirkungen für die Zukunft haben.

28.

Erstens bin ich der Meinung, dass sich die Wirkungen des Verzichts auf das ESZ ausschließlich nach Art. 14 der ESZ-Verordnung und nicht nach dem nationalen Recht richten.

29.

Ich stelle fest, dass der Wortlaut von Art. 14 der ESZ-Verordnung keinen Verweis auf das nationale Recht enthält und keineswegs vorsieht, dass jeder Mitgliedstaat die Wirkungen des dort vorgesehenen Erlöschens festlegen kann ( 8 ). Hinzuzufügen ist, dass die Wirkungen des Erlöschens des ESZ nicht als Verfahrensfragen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der ESZ-Verordnung anzusehen sind, wonach, soweit diese Verordnung keine Vorschriften enthält, die nach einzelstaatlichem Recht für das Grundpatent geltenden Verfahrensvorschriften Anwendung finden. Es handelt sich nämlich nicht um eine Verfahrensfrage, sondern um eine materiell-rechtliche Frage.

30.

Was den Zweck dieser Vorschrift angeht, weise ich darauf hin, dass mit der ESZ-Verordnung eine einheitliche Lösung auf Unionsebene geschaffen werden soll, indem ein ESZ eingeführt wird, das in jedem Mitgliedstaat unter denselben Voraussetzungen erteilt wird, um „einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vor[zu]beugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der Union zu behindern und dadurch die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarkts unmittelbar zu beeinträchtigen“ ( 9 ).

31.

Daher steht Art. 14 der ESZ-Verordnung sowohl nach einer wörtlichen als auch nach einer teleologischen Auslegung dem entgegen, dass die Wirkungen des Verzichts auf das ESZ vom einzelstaatlichen Recht festgelegt werden.

32.

Zweitens geht aus dem Wortlaut der Art. 14 und 15 der ESZ-Verordnung hervor, dass der Verzicht auf das ESZ keine Rückwirkung haben kann. Die gleiche Feststellung ergibt sich aus der Auslegung der Ziele dieser Verordnung.

33.

Hierzu stelle ich fest, dass Art. 14 der ESZ-Verordnung die Gründe für das Erlöschen des ESZ aufführt, zu denen neben dem Verzicht das Ende der Laufzeit des ESZ, die Tatsache, dass die Jahresgebühr nicht gezahlt worden ist, und die Tatsache gehört, dass das Erzeugnis nicht mehr in den Verkehr gebracht werden darf. Wie das vorlegende Gericht feststellt, beziehen sich diese Erlöschensgründe auf Sachverhalte oder Ereignisse, die zu einem Ablauf der Wirksamkeit des ESZ für die Zukunft, d. h. ohne dessen rückwirkende Nichtigerklärung, führen.

34.

Im Übrigen hebt die französische Regierung zu Recht hervor, in der gängigen Rechtsterminologie bezeichne der Begriff „Erlöschen“ die Tatsache, dass u. a. ein Recht, eine Verpflichtung oder ein Tatbestand entfalle und aufgrund eines bestimmten Ereignisses, das ihm bzw. ihr ein Ende setze, daher keine Wirkungen mehr erzeuge. Dagegen impliziere dieser Terminus keine rückwirkende Beseitigung dieses Rechts, dieser Verpflichtung oder dieses Tatbestands. Diese Auslegung von Art. 14 der ESZ-Verordnung wird durch Art. 15 dieser Verordnung bestätigt, der die Gründe für die Nichtigkeit eines ESZ vorsieht.

35.

So bestimmt Art. 15 Abs. 1 der genannten Verordnung:

„Das [ESZ] ist nichtig,

a)

wenn es entgegen den Vorschriften des Artikels 3 erteilt wurde;

b)

wenn das Grundpatent vor Ablauf seiner gesetzlichen Laufzeit erloschen ist;

c)

wenn das Grundpatent für nichtig erklärt oder derartig beschränkt wird, dass das Erzeugnis, für welches das [ESZ] erteilt worden ist, nicht mehr von den Ansprüchen des Grundpatents erfasst wird, oder wenn nach Erlöschen des Grundpatents Nichtigkeitsgründe vorliegen, die die Nichtigerklärung oder Beschränkung gerechtfertigt hätten.“

36.

Festzustellen ist, dass der Verzicht auf das ESZ nicht zu diesen in Art. 15 Abs. 1 der ESZ-Verordnung aufgeführten Nichtigkeitsgründen gehört.

37.

Mit der von ihr vorgeschlagenen Auslegung versucht Georgetown University daher eine Situation zu korrigieren, in der dem Inhaber eines Patents ein ESZ für ein Erzeugnis erteilt worden ist, bei dem es sich nicht um dasjenige handelt, für das er den Schutz eigentlich erhalten möchte, aber nur ein ESZ pro Grundpatent erteilt werden kann.

38.

Dieses Anliegen ist verständlich. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass, auch wenn der Patentinhaber rückwirkend ( 10 ) auf sein Patent verzichten und damit dessen Rechtswirkungen in den von der anwendbaren Rechtsordnung gezogenen Grenzen beseitigen kann, dies nichts daran ändert, dass er gerade dadurch die Möglichkeit verliert, für dieselbe Erfindung erneut ein Patent anzumelden. Das Bestehen des früheren Patents hat dieses nämlich öffentlich gemacht; daher kann die Erfindung die im gesamten Patentrecht geltende Voraussetzung der Neuheit nicht erfüllen. Außerdem kann, da der Inhaber eines Patents nicht über ein solches „Reuerecht“ verfügt, das es ihm ermöglichen würde, den Schutzbereich rückwirkend neu festzulegen, auch dem Inhaber eines ESZ unter Bezugnahme auf eine Vorschrift wie Art. 63 des niederländischen Patentgesetzes von 1995 eine solche Möglichkeit nicht eingeräumt werden.

39.

Meiner Meinung nach kann der in Art. 14 Buchst. b der ESZ-Verordnung genannte Verzicht auf ein ESZ daher keine rückwirkende Kraft haben und die Voraussetzung, dass für das Erzeugnis nicht bereits ein ESZ erteilt wurde, nicht erfüllen.

40.

Nach meinem Dafürhalten ist nur diese Auslegung geeignet, die Rechtssicherheit für Dritte zu wahren, die sich zu Recht auf das erteilte ESZ haben stützen können, um zu erfahren, welches Erzeugnis durch es geschützt wird und wann dieser Schutz enden würde. Würde zugelassen, dass der Inhaber des ESZ dieses durch einen Verzicht nach seinem Inkrafttreten rückwirkend aufheben könnte, um es durch ein ESZ zu ersetzen, das sich hinsichtlich seines Gegenstands oder seiner Laufzeit vom Erstgenannten unterscheidet, würde das Ziel der Rechtssicherheit des mit der ESZ-Verordnung eingeführten Systems beeinträchtigt.

41.

Mit der ESZ-Verordnung wird nämlich ein Verfahren eingeführt, das dank der Veröffentlichung der Entscheidung über die Erteilung des ESZ und der Veröffentlichung des Antrags, der früh genug nach der Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen eingereicht werden muss, damit Dritte schnell hierüber informiert werden, die Transparenz des Systems gewährleistet ( 11 ). Ein solches Ziel steht dem entgegen, dass der Inhaber veröffentlichte Informationen jederzeit und in Abhängigkeit von seinen Interessen rückwirkend in Frage stellen kann.

42.

Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die vierte und die fünfte Frage dahin zu beantworten, dass sich der Verzicht auf das ESZ ausschließlich nach Art. 14 Buchst. b der ESZ-Verordnung richtet und, da dieser Verzicht nur für die Zukunft wirkt, später nur ein Erzeugnis zugelassen werden kann, für das noch kein ESZ im Sinne von Art. 3 Buchst. c der ESZ-Verordnung erteilt wurde.

C – Zur zweiten und zur dritten Frage

43.

Mit seiner zweiten und dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen erfahren, ob es dem Anmelder, der gleichzeitig mehrere Anmeldungen eines ESZ eingereicht hat, nach Art. 3 Buchst. c der ESZ-Verordnung vor der Erteilung eines ESZ freisteht, zu wählen, welche Anmeldung Priorität hat, oder ob diese Wahl Sache der für die Gewährung eines ESZ zuständigen nationalen Behörde ist.

44.

Alle Verfahrensbeteiligten, die schriftliche Erklärungen zu dieser Frage eingereicht haben, stimmen darin überein, dass es Sache des Patentinhabers sei, zu wählen, welche Anmeldung eines ESZ in dieser Konstellation Priorität habe. Die niederländische Regierung ist jedoch der Auffassung, diese Wahl müsse zum Zeitpunkt der Einreichung der Anmeldungen getroffen werden.

45.

Ich erinnere daran, dass diese Fragen für den Fall gestellt werden, dass die erste Frage dahin zu beantworten ist, dass nur ein ESZ pro Grundpatent erteilt werden kann. Dieser Fall beinhaltet die Antwort auf die vom vorlegenden Gericht in der zweiten Frage ins Auge gefasste Fallgestaltung, nämlich die Fallgestaltung, dass ein gültiges Grundpatent mehrere Erzeugnisse schützt und zum Zeitpunkt der Anmeldung eines ESZ für eines der durch das Grundpatent geschützten Erzeugnisse (Erzeugnis A) zwar noch keine ESZ für andere durch dasselbe Grundpatent geschützte Erzeugnisse (Erzeugnisse B und C) erteilt worden waren, auf diese Anmeldungen für die Erzeugnisse B und C hin jedoch später ESZ erteilt worden sind, bevor über die Anmeldung eines ESZ für das erstgenannte Erzeugnis (Erzeugnis A) entschieden wurde.

46.

Meines Erachtens ist es Sache des Patentinhabers, festzulegen, welche Anmeldung Priorität vor den anderen hat. Es ist notwendig, dass dieser oder sein Rechtsnachfolger innerhalb der in Art. 7 Abs. 1 der ESZ-Verordnung vorgesehenen Frist – entweder gleichzeitig oder nacheinander – mehrere Anmeldungen eines ESZ für die verschiedenen durch das Grundpatent geschützten Erzeugnisse einreichen kann, da das Grundpatent oder die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Einreichung der Anmeldungen eingeschränkt werden kann.

47.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nicht darauf ankommt, ob die Anmeldungen eines ESZ gleichzeitig oder nacheinander eingereicht worden sind, sofern die in Art. 7 Abs. 1 der ESZ-Verordnung vorgesehene Frist eingehalten worden ist, da die Rangfolge nicht vom Zeitpunkt der Anmeldung eines ESZ abhängt, sondern vom Zeitpunkt der Anmeldung des Grundpatents.

48.

Keine besondere Bestimmung der ESZ-Verordnung legt jedoch fest, welcher Anmeldung Vorrang zukommt, wenn mehrere Anmeldungen eines ESZ gleichzeitig anhängig sind.

49.

Die Schlüsselrolle des Patentinhabers bei der Festlegung des Schutzgegenstands eines ESZ hat die Kommission im Jahr 1990 in der Begründung ( 12 ) perfekt zusammengefasst. Auch Generalanwältin Trstenjak hebt in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache, in der das Urteil Medeva ergangen ist, hervor, dass der Patentinhaber selbst festlege, für welches durch ein und dasselbe Grundpatent geschützte Arzneimittel er ein ESZ anmelde ( 13 ).

50.

Hat der Patentinhaber bei der Einreichung der ESZ-Anmeldungen keine Wahl getroffen, ist er, da das Grundpatent und/oder die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Einreichung der genannten Anmeldungen eingeschränkt werden können, rechtlich auch nicht verpflichtet, eine solche Wahl zu treffen. In einem solchen Fall können mehrere Anmeldungen gleichzeitig anhängig sein.

51.

In einer solchen Situation sollten die für die Erteilung des ESZ zuständigen Behörden den Inhaber des betreffenden Patents meines Erachtens darum ersuchen, vor der erwähnten Erteilung eine Wahl zu treffen und zu erklären, für welchen Wirkstoff oder welche Wirkstoffzusammensetzung er ein auf dem Grundpatent beruhendes ESZ erhalten möchte.

52.

Nach der ESZ-Verordnung können die Behörden ein derartiges Ersuchen stellen. Nach meinem Dafürhalten kann ein solches Vorgehen von den für die Durchführung der ESZ-Verordnung verantwortlichen nationalen Behörden sogar verlangt werden, da das Recht auf eine gute Verwaltung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt ( 14 ).

53.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs scheint zu bestätigen, dass ein solches Ersuchen an die Person gerichtet werden kann, die ein ESZ angemeldet hat. Aus dem Urteil AHP Manufacturing ( 15 ) geht hervor, dass die ESZ-Verordnung die Reihenfolge der Anmeldungen nicht festlegt, wenn mehrere Anmeldungen eines ESZ gleichzeitig anhängig sind. In dieser Rechtssache handelte es sich zwar um zwei oder mehrere Inhaber eines Patents für das gleiche Erzeugnis, meiner Meinung nach gilt diese Auslegung jedoch entsprechend auch für den Fall, dass ein und derselbe Patentinhaber mehrere Anmeldungen für verschiedene Erzeugnisse eingereicht hat.

54.

Trifft ein Patentinhaber trotz einer entsprechenden Aufforderung der zuständigen Behörden keine Wahl, ist es gemäß Art. 19 der ESZ-Verordnung Sache der nationalen Behörden, daraus die eventuellen Konsequenzen nach einzelstaatlichem Recht zu ziehen.

55.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die zweite und die dritte Frage dahin zu beantworten, dass, wenn ein Antragsteller mehrere Anmeldungen eines ESZ für unterschiedliche, aber durch ein und dasselbe Patent geschützte Erzeugnisse eingereicht hat, es diesem obliegt, zu entscheiden, welche dieser Anmeldungen prioritär ist, und es, falls er keine Wahl trifft, Sache der nationalen Behörden ist, daraus die eventuellen Konsequenzen nach einzelstaatlichem Recht zu ziehen.

V – Ergebnis

56.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite bis fünfte Vorlagefrage der Rechtbank ’s-Gravenhage (Niederlande) wie folgt zu beantworten:

1.

Der Verzicht auf das ergänzende Schutzzertifikat richtet sich nach Art. 14 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel und nicht nach dem einzelstaatlichen Recht. Da dieser Verzicht darüber hinaus nur für die Zukunft wirkt, kann infolge eines solchen Verzichts später nur ein Erzeugnis zugelassen werden, für das noch kein Zertifikat im Sinne von Art. 3 Buchst. c der genannten Verordnung erteilt wurde.

2.

Hat ein Antragsteller mehrere Anmeldungen eines ergänzenden Schutzzertifikats für unterschiedliche, aber durch ein und dasselbe Patent geschützte Erzeugnisse eingereicht, obliegt es ihm, zu entscheiden, welche dieser Anmeldungen prioritär ist. Trifft er keine Wahl, ist es Sache der nationalen Behörden, daraus die eventuellen Konsequenzen nach einzelstaatlichem Recht zu ziehen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. L 152, S. 1.

( 3 ) Ein ähnliches System besteht für Pflanzenschutzmittel, vgl. Verordnung (EG) Nr. 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel (ABl. L 198, S. 30) und Urteile vom 10. Mai 2001, BASF (C-258/99, Slg. 2001, I-3643), vom 3. September 2009, AHP Manufacturing (C-482/07, Slg. 2009, I-7295), und vom 11. November 2010, Hogan Lovells International (C-229/09, Slg. 2010, I-11335).

( 4 ) C-322/10, Slg. 2011, I-12051.

( 5 ) C-422/10, Slg. 2011, I-12157.

( 6 ) Zu den anderen Rechtssachen vgl. u. a. Urteile, vom 23. Januar 1997, Biogen (C-181/95, Slg. 1997, I-357), AHP Manufacturing, Beschlüsse vom 25. November 2011, University of Queensland und CSL (C-630/10, Slg. 2011, I-12231) und vom 9. Februar 2012, Novartis (C‑442/11), sowie Urteil vom 19. Juli 2012, Neurim Pharmaceuticals (1991) (C‑130/11).

( 7 ) Urteile Medeva (Randnr. 41) und Georgetown University u. a. (Randnr. 34).

( 8 ) Zur Abgrenzung zwischen den Begriffen des Unionsrechts und der Anwendung des nationalen Rechts vgl. die Nrn. 27 bis 30 meiner Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil vom 11. April 2013, Soukupová (C‑401/11), ergangen ist.

( 9 ) Vgl. Urteil Medeva (Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie siebter Erwägungsgrund der ESZ-Verordnung.

( 10 ) Vgl. beispielsweise Art. 63 des niederländischen Patentgesetzes von 1995 und Art. 68 des am 5. Oktober 1973 in München unterzeichneten Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente in Verbindung mit Art. 105a Abs. 1 dieses Übereinkommens.

( 11 ) Vgl. Nr. 17 der Begründung des Vorschlags für eine Verordnung (EWG) des Rates vom 11. April 1990 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (KOM[90] 101 endg.), im Folgenden: Begründung.

( 12 ) Vgl. Begründung (Nr. 33 Abs. 2).

( 13 ) Nr. 66 dieser Schlussanträge.

( 14 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé (C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnrn. 37 und 38). Die Beachtung dieses Rechts obliegt den Unionsorganen gemäß Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, vgl. in diesem Sinne Nrn. 31 und 32 der Schlussanträge von Generalanwalt Bot in der Rechtssache, in der das Urteil vom 22. November 2012, M. (C‑277/11), ergangen ist.

( 15 ) Vgl. u. a. Randnrn. 24 bis 26. Es ist klarzustellen, dass diese Rechtssache die frühere ESZ-Verordnung und die Verordnung Nr. 1610/96 betraf.