Rechtssache C-443/11

F. P. Jeltes u. a.

gegen

Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

„Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen — Art. 45 AEUV — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 71 — Vollarbeitsloser atypischer Grenzgänger, der seine persönlichen und beruflichen Bindungen im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung beibehalten hat — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 65 — Anspruch auf eine Leistung im Wohnmitgliedstaat — Zahlungsverweigerung durch den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung — Zulässigkeit — Erheblichkeit des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Juni 1986, Miethe (1/85) — Übergangsbestimmungen — Art. 87 Abs. 8 — Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 11. April 2013

  1. Soziale Sicherheit – Wandererwerbstätige – Arbeitslosigkeit – Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat – Anspruch auf die Leistungen des Wohnmitgliedstaats – Anwendung von Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 – Recht, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung zur Verfügung zu stellen

    (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung, Art. 65)

  2. Soziale Sicherheit – Wandererwerbstätige – Arbeitslosigkeit – Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat – Verweigerung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung durch den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung – Wohnsitzerfordernis des nationalen Rechts – Zulässigkeit – Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit – Fehlen

    (Art. 45 AEUV)

  3. Soziale Sicherheit – Wandererwerbstätige – Arbeitslosigkeit – Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat – Anwendung der Übergangsbestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 – Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts – Beurteilung durch das nationale Gericht

    (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung, Art. 87 Abs. 8)

  1.  Infolge des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung sind die Bestimmungen des Art. 65 dieser Verordnung nicht im Licht des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Juni 1986, Miethe (1/85), auszulegen. In Bezug auf einen vollarbeitslosen Arbeitnehmer, der zum Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, ist Art. 65 dahin zu verstehen, dass er einem solchen Arbeitnehmer die Möglichkeit bietet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung dieses Staates zur Verfügung zu stellen, aber nicht, um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, sondern nur, um dort Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch zu nehmen.

    (vgl. Randnr. 36 und Tenor 1)

  2.  Die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere die Bestimmungen von Art. 45 AEUV, sind dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung nicht daran hindern, im Einklang mit seinem nationalen Recht einem vollarbeitslosen Grenzgänger, der in diesem Mitgliedstaat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, eine Arbeitslosenunterstützung zu versagen, weil er nicht im Inland wohnt, sofern nach den Bestimmungen des Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen.

    Diese Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit können einem Versicherten nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist. Ein solcher Umzug kann nämlich aufgrund der Unterschiede, die in diesem Bereich zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den Versicherten in finanzieller Hinsicht mehr oder weniger vorteilhaft sein.

    Ein Unterschied zwischen den in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung vorgesehenen Leistungen und denen, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats gewährt werden, kann nicht als eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer angesehen werden, da er sich aus der fehlenden Harmonisierung des einschlägigen Unionsrechts ergibt.

    (vgl. Randnrn. 44-46, Tenor 2)

  3.  Die Bestimmungen des Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung sind auf vollarbeitslose Grenzgänger anzuwenden, die wegen der im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung beibehaltenen Bindungen gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 592/2008, von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage seiner Rechtsvorschriften Arbeitslosenunterstützung erhalten.

    Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht nämlich zugunsten einer Person, für die infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen als des durch Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmten Mitgliedstaats gelten, vor, dass die zuvor geltenden Rechtsvorschriften für einen bestimmten Zeitraum nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar bleiben, wenn sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert.

    In diesem Zusammenhang steht der Umstand, dass Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 zu Titel III dieser Verordnung gehört, einer Anwendung des Art. 87 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht entgegen.

    Was den Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts im Sinne von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in geänderter Fassung anbelangt, so ist dieser anhand der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu beurteilen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob Arbeitnehmer die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung erfüllen, die ihnen gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 in geänderter Fassung auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften gewährt worden war.

    (vgl. Randnrn. 49, 56, 61, 62, Tenor 3)


Rechtssache C-443/11

F. P. Jeltes u. a.

gegen

Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

„Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen — Art. 45 AEUV — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 71 — Vollarbeitsloser atypischer Grenzgänger, der seine persönlichen und beruflichen Bindungen im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung beibehalten hat — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 65 — Anspruch auf eine Leistung im Wohnmitgliedstaat — Zahlungsverweigerung durch den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung — Zulässigkeit — Erheblichkeit des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Juni 1986, Miethe (1/85) — Übergangsbestimmungen — Art. 87 Abs. 8 — Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 11. April 2013

  1. Soziale Sicherheit — Wandererwerbstätige — Arbeitslosigkeit — Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat — Anspruch auf die Leistungen des Wohnmitgliedstaats — Anwendung von Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 — Recht, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung zur Verfügung zu stellen

    (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung, Art. 65)

  2. Soziale Sicherheit — Wandererwerbstätige — Arbeitslosigkeit — Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat — Verweigerung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung durch den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung — Wohnsitzerfordernis des nationalen Rechts — Zulässigkeit — Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit — Fehlen

    (Art. 45 AEUV)

  3. Soziale Sicherheit — Wandererwerbstätige — Arbeitslosigkeit — Vollarbeitsloser Grenzgänger, der zum Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besondere persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat — Anwendung der Übergangsbestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 — Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts — Beurteilung durch das nationale Gericht

    (Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung, Art. 87 Abs. 8)

  1.  Infolge des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung sind die Bestimmungen des Art. 65 dieser Verordnung nicht im Licht des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Juni 1986, Miethe (1/85), auszulegen. In Bezug auf einen vollarbeitslosen Arbeitnehmer, der zum Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, ist Art. 65 dahin zu verstehen, dass er einem solchen Arbeitnehmer die Möglichkeit bietet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung dieses Staates zur Verfügung zu stellen, aber nicht, um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, sondern nur, um dort Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch zu nehmen.

    (vgl. Randnr. 36 und Tenor 1)

  2.  Die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere die Bestimmungen von Art. 45 AEUV, sind dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung nicht daran hindern, im Einklang mit seinem nationalen Recht einem vollarbeitslosen Grenzgänger, der in diesem Mitgliedstaat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, eine Arbeitslosenunterstützung zu versagen, weil er nicht im Inland wohnt, sofern nach den Bestimmungen des Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen.

    Diese Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit können einem Versicherten nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist. Ein solcher Umzug kann nämlich aufgrund der Unterschiede, die in diesem Bereich zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den Versicherten in finanzieller Hinsicht mehr oder weniger vorteilhaft sein.

    Ein Unterschied zwischen den in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung vorgesehenen Leistungen und denen, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats gewährt werden, kann nicht als eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer angesehen werden, da er sich aus der fehlenden Harmonisierung des einschlägigen Unionsrechts ergibt.

    (vgl. Randnrn. 44-46, Tenor 2)

  3.  Die Bestimmungen des Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung sind auf vollarbeitslose Grenzgänger anzuwenden, die wegen der im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung beibehaltenen Bindungen gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 592/2008, von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage seiner Rechtsvorschriften Arbeitslosenunterstützung erhalten.

    Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht nämlich zugunsten einer Person, für die infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen als des durch Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmten Mitgliedstaats gelten, vor, dass die zuvor geltenden Rechtsvorschriften für einen bestimmten Zeitraum nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar bleiben, wenn sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert.

    In diesem Zusammenhang steht der Umstand, dass Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 zu Titel III dieser Verordnung gehört, einer Anwendung des Art. 87 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht entgegen.

    Was den Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts im Sinne von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in geänderter Fassung anbelangt, so ist dieser anhand der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu beurteilen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob Arbeitnehmer die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung erfüllen, die ihnen gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71 in geänderter Fassung auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften gewährt worden war.

    (vgl. Randnrn. 49, 56, 61, 62, Tenor 3)