URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. März 2013 ( *1 )

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Kleiner Grenzverkehr an den Landaußengrenzen der Union — Verordnung (EG) Nr. 1931/2006 — Verordnung (EG) Nr. 562/2006 — Höchstdauer des Aufenthalts — Berechnungsregeln“

In der Rechtssache C-254/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Magyar Köztársaság Legfelsőbb Bírósága (Ungarn) mit Entscheidung vom 3. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2011, in dem Verfahren

Szabolcs-Szatmár-Bereg Megyei Rendőrkapitányság Záhony Határrendészeti Kirendeltsége

gegen

Oskar Shomodi

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters J.-C. Bonichot (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterinnen C. Toader, M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Szabolcs-Szatmár-Bereg Megyei Rendőrkapitányság Záhony Határrendészeti Kirendeltsége, vertreten durch É. Tasnádi, jogtanácsos,

von Herrn Shomodi, vertreten durch L. Isaák, ügyvéd,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, K. Szíjjártó und Z. Tóth als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

der rumänischen Regierung, vertreten durch H. R. Radu, F. Abrudan und A. Crişan als Bevollmächtigte,

der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Dezember 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a, Art. 3 Nr. 3 und Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1931/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Festlegung von Vorschriften über den kleinen Grenzverkehr an den Landaußengrenzen der Mitgliedstaaten sowie zur Änderung der Bestimmungen des Übereinkommens von Schengen (ABl. L 405, S. 1, berichtigt im ABl. 2007, L 29, S. 3).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Szabolcs-Szatmár-Bereg Megyei Rendőrkapitányság Záhony Határrendészeti Kirendeltsége (Polizeidirektion des Komitats Szabolcs-Szatmár-Bereg – Grenzpolizeistelle Záhony) und Herrn Shomodi, einem ukrainischen Staatsangehörigen, darüber, dass ihm die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet verweigert worden war, weil er die im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs zulässige Höchstdauer des Aufenthalts im ungarischen Hoheitsgebiet überschritten habe.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Allgemeine Bestimmungen in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die keiner Visumpflicht unterliegen

3

Art. 20 Abs. 1 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen) bestimmt:

„Sichtvermerksfreie Drittausländer können sich in dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Datum der ersten Einreise an …“

4

Die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) sieht in ihrem dritten Erwägungsgrund vor:

„Beim Erlass gemeinsamer Maßnahmen bezüglich des Überschreitens der Binnengrenzen durch Personen sowie bezüglich der Grenzkontrollen an den Außengrenzen sollte dem in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand, insbesondere den einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen … sowie dem Gemeinsamen Handbuch [(ABl. 2002, C 313, S. 97)], Rechnung getragen werden.“

5

Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung legt die für Drittstaatsangehörige geltenden Einreisevoraussetzungen für Aufenthalte „von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum“ fest.

6

Nach ihrem Art. 35 lässt die Verordnung Nr. 562/2006 „die Gemeinschaftsvorschriften über den kleinen Grenzverkehr und bestehende bilaterale Abkommen über den kleinen Grenzverkehr unberührt“.

Spezielle Bestimmungen über den kleinen Grenzverkehr

7

Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Verordnung Nr. 1931/2006 lauten:

„(2)

Es liegt im Interesse der erweiterten Gemeinschaft, sicherzustellen, dass die Grenzen mit ihren Nachbarländern kein Hemmnis für den Handel, den sozialen und kulturellen Austausch oder die regionale Zusammenarbeit sind. Daher sollte ein wirksames System für den kleinen Grenzverkehr entwickelt werden.

(3)

Die Regelung für den kleinen Grenzverkehr stellt eine Ausnahmeregelung zu den allgemeinen Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreitende Personen dar, die in der Verordnung … Nr. 562/2006 … festgelegt sind.“

8

Im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1931/2006 wird u. a. der Grundsatz der „Erleichterung des Grenzübertritts von Bona-fide-Grenzbewohnern, die berechtigte Gründe haben, eine Landaußengrenze häufig zu überschreiten“, aufgestellt.

9

Art. 3 dieser Verordnung enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„…

2.   ‚Grenzgebiet‘ ist eine höchstens 30 km breite Zone, gerechnet ab der Grenze. Die betreffenden Staaten legen in ihren bilateralen Abkommen nach Artikel 13 fest, welche lokalen Verwaltungsbezirke als Grenzgebiet zu betrachten sind. Ist ein Teil eines solchen Bezirks zwischen 30 km und 50 km von der Grenze entfernt, wird er dennoch als Teil des Grenzgebiets betrachtet;

3)   ‚kleiner Grenzverkehr‘ ist das regelmäßige Überschreiten der Landaußengrenze durch Grenzbewohner für einen Aufenthalt in einem Grenzgebiet, beispielsweise aus sozialen, kulturellen oder nachgewiesenen wirtschaftlichen Gründen oder aus familiären Gründen, für einen Zeitraum, der die in dieser Verordnung festgelegte Frist nicht übersteigt;

…“

10

Die Durchführung der Regelung für den kleinen Grenzverkehr erfolgt nach Art. 13 der Verordnung Nr. 1931/2006 durch die Mitgliedstaaten, die zu diesem Zweck mit den ihnen benachbarten Drittstaaten bilaterale Abkommen unter der Kontrolle der Kommission schließen. In den bilateralen Abkommen wird nach Art. 5 der Verordnung „[d]ie zulässige Höchstdauer für einen ununterbrochenen Aufenthalt im Rahmen der Regelung für den kleinen Grenzverkehr … festgelegt; sie darf drei Monate nicht überschreiten“.

11

Durch Art. 7 der Verordnung Nr. 1931/2006 werden eine Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr eingeführt und die Merkmale dieser Genehmigung und die darin aufzunehmenden Angaben festgelegt, zu denen gehört, dass „der Inhaber nicht befugt ist, das Grenzgebiet zu verlassen, und dass jeglicher Missbrauch mit den in Artikel 17 genannten Sanktionen geahndet wird“. Nach dem letztgenannten Artikel müssen die Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein und „die Möglichkeit der Aufhebung und des Entzugs der Grenzübertrittsgenehmigungen für den kleinen Grenzverkehr“ umfassen.

12

Ferner heißt es im fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung:

„Allgemein sollte zur Vermeidung von Missbräuchen eine Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr nur Personen ausgestellt werden, die seit mindestens einem Jahr rechtmäßig in einem Grenzgebiet ansässig sind. In bilateralen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und benachbarten Drittstaaten kann eine längere Aufenthaltsdauer vorgesehen werden. …“

13

Schließlich darf nach Art. 9 der Verordnung Nr. 1931/2006 eine Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr nur erteilt werden, wenn der Grenzbewohner Dokumente vorlegt, aus denen sich u. a. berechtigte Gründe für das häufige Überschreiten der Landaußengrenze ergeben.

Ungarisches Recht

14

Hinsichtlich der allgemeinen Regeln für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen bestimmt § 40 Abs. 1 des Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen (a harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény):

„Die Grenzkontrollbehörde verweigert Drittstaatsangehörigen, die mit der Absicht eines Aufenthalts von bis zu drei Monaten einreisen wollen, die Einreise an der Grenze auf der Grundlage der Bestimmungen [der Verordnung Nr. 562/2006] und weist sie – unter Berücksichtigung ihrer Interessen – zurück. …“

15

Hinsichtlich des kleinen Grenzverkehrs sieht das zwischen der ungarischen Regierung und dem ukrainischen Ministerrat geschlossene Abkommen in seinem Art. 1 Abs. 5 vor, dass die Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr „ihren Inhaber [berechtigt], insbesondere bei Vorliegen sozialer, kultureller oder familiärer Gründe oder nachgewiesener wirtschaftlicher Gründe, die nicht in der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Sinne der nationalen Bestimmungen bestehen, mehrfach in das Grenzgebiet der anderen Vertragspartei einzureisen und sich dort innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten insgesamt drei Monate lang ununterbrochen aufzuhalten“. Nach Art. 3 Abs. 2 dieses Abkommens werden „[i]m Falle eines Missbrauchs der Genehmigung … die im nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen [verhängt]“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Herr Shomodi, der die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzt, ist Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr, die ihn berechtigt, sich in das Grenzgebiet Ungarns zu begeben. Am 2. Februar 2010 fand er sich am Grenzübergang Záhony ein. Die ungarische Polizei stellte bei dieser Gelegenheit fest, dass er sich zwischen dem 3. September 2009 und dem 2. Februar 2010 105 Tage im ungarischen Hoheitsgebiet aufgehalten hatte, wobei er sich fast täglich für mehrere Stunden dorthin begeben hatte. Da sich Herr Shomodi somit innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten mehr als drei Monate innerhalb des Schengen-Raums befunden hatte, verweigerte ihm die Szabolcs-Szatmár-Bereg Megyei Rendőrkapitányság Záhony Határrendészeti Kirendeltsége mit Entscheidung vom 2. Februar 2010 nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes Nr. II von 2007 die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet.

17

Herr Shomodi erhob gegen diese Entscheidung Klage vor dem Szabolcs-Szatmár-Bereg megyei bíróság (Komitatsgericht Szabolcs-Szatmár-Bereg), das die Entscheidung mit Urteil vom 26. Mai 2010 aufhob. Das Komitatsgericht erklärte zunächst die Verordnung Nr. 562/2006 und den zu ihrer Umsetzung dienenden § 40 Abs. 1 des Gesetzes Nr. II von 2007 für nicht anwendbar. Anschließend wandte es die Regeln über den kleinen Grenzverkehr an und vertrat die Auffassung, dass die Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr Anspruch auf eine unbegrenzte Zahl von Einreisen begründe und die Obergrenze von drei Monaten, die mit dem in der vorstehenden Randnr. 15 genannten Abkommen geschaffen worden sei, nur für ununterbrochene Aufenthalte gelte. Das Szabolcs-Szatmár-Bereg megyei bíróság schloss daraus, dass die von der Szabolcs-Szatmár-Bereg Megyei Rendőrkapitányság Záhony Határrendészeti Kirendeltsége angeführten Gründe die Zurückweisung von Herrn Shomodi nicht zu rechtfertigen vermochten.

18

Der mittels einer durch die Verwaltung eingelegten Revisionsbeschwerde gegen dieses Urteil angerufene Magyar Köztársaság Legfelsőbb Bírósága (Oberste Gerichtshof der Republik Ungarn) ist der Auffassung, dass die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit von der Auslegung von Bestimmungen der Verordnung Nr. 1931/2006 abhänge, und hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Bestimmung des Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006, der die zulässige Höchstdauer für einen ununterbrochenen Aufenthalt auf drei Monate begrenzt, insbesondere unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Art. 2 Buchst. a und 3 Nr. 3 der Verordnung dahin auszulegen, dass im Rahmen bilateraler Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und benachbarten Drittstaaten nach Art. 13 der Verordnung mehrfache Ein- und Ausreisen und ein ununterbrochener Aufenthalt von höchstens drei Monaten zulässig sind, so dass ein Grenzbewohner, der im Besitz einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr ist, vor Ablauf der Aufenthaltsdauer von drei Monaten die Kontinuität des Aufenthalts unterbrechen kann und nach erneutem Überschreiten der Grenze erneut Anspruch auf einen ununterbrochenen Aufenthalt von drei Monaten hat?

2.

Sollte die erste Frage bejaht werden: Kann davon ausgegangen werden, dass die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006 unterbrochen wird, wenn Ein- und Ausreise am selben Tag oder an aufeinanderfolgenden Tagen erfolgen?

3.

Sollte die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint werden: Welcher Zeitraum oder welches sonstige Beurteilungskriterium ist im Hinblick auf Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006 der Feststellung zugrunde zu legen, ob die Kontinuität des Aufenthalts unterbrochen wurde?

4.

Sollte die erste Frage verneint werden: Kann die Bestimmung des Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006, nach der ein ununterbrochener Aufenthalt von höchstens drei Monaten zulässig ist, dahin ausgelegt werden, dass die Dauer des Aufenthalts aufgrund mehrfacher Ein- und Ausreisen zu addieren ist und dass die Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr unter Berücksichtigung der Bestimmung des Art. 20 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – und aller sonstigen Bestimmungen zur Regelung des Schengen-Raums – keinen Anspruch auf einen weiteren Aufenthalt innerhalb von sechs Monaten seit der ersten Einreise begründet, wenn die Summe der Aufenthalte 93 Tage (drei Monate) beträgt?

5.

Sollte die vierte Frage bejaht werden: Sind bei der Berechnung der Summe an einem Tag erfolgte mehrfache Ein- und Ausreisen sowie eine einzelne Ein- und Ausreise am selben Tag zu berücksichtigen, und welche Berechnungsmethode ist dabei anzuwenden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur vierten Frage

19

Das vorlegende Gericht möchte wissen, wie – in Anbetracht der im Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehenen Aufenthaltsbeschränkung für nicht visumpflichtige Drittstaatsangehörige auf drei Monate innerhalb eines Gesamtzeitraums von sechs Monaten – die Beschränkung des jeweiligen „ununterbrochenen Aufenthalts“, zu dem der Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr im Sinne der Verordnung Nr. 1931/2006 berechtigt ist, auf drei Monate konkret zu bestimmen ist.

20

Damit stellt sich die Frage, ob die Verordnung Nr. 1931/2006 im Licht des Schengen-Besitzstands ausgelegt werden muss oder ob sie autonom auszulegen ist.

21

Im erstgenannten Fall, der nach Ansicht der ungarischen und der polnischen Regierung vorliegt, wäre die Verordnung Nr. 1931/2006 als Bestandteil des Schengen-Besitzstands anzusehen. In diesem Fall käme der dem Schengen-Besitzstand eigenen Regel, die Kurzaufenthalte nicht visumpflichtiger Drittstaatsangehöriger auf insgesamt drei Monate innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten beschränkt, Vorrang vor jeder anderen Vorschrift zu. Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr, die nach der Verordnung Nr. 1931/2006 von der Visumpflicht befreit sind, wären somit nicht davon ausgenommen. Die Befürworter dieser Auffassung machen geltend, dass mangels einer solchen Obergrenze für die Gesamtzahl der zulässigen aufeinanderfolgenden Aufenthalte die Inhaber dieser Genehmigung de facto ein potenziell unbeschränktes Aufenthaltsrecht hätten, da es ausreichen würde, dass sie nach drei Monaten das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verließen und am nächsten Tag wieder dorthin zurückkehrten, um ein neues dreimonatiges Aufenthaltsrecht beanspruchen zu können.

22

Diese Auffassung steht jedoch weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn der Verordnung Nr. 1931/2006 im Einklang.

23

Art. 5 dieser Verordnung überlässt die Festlegung der Höchstdauer des zulässigen Aufenthalts bilateralen Abkommen, wobei er eine Begrenzung von drei Monaten „für einen ununterbrochenen Aufenthalt“ vorsieht. Diese Klarstellung unterscheidet nach ihrem Wortlaut die zeitliche Begrenzung des kleinen Grenzverkehrs eindeutig von der „Schengen-Begrenzung“, die sich nicht auf ununterbrochene Aufenthalte bezieht. Eine solche Auslegung wird durch die Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1931/2006 bestätigt, aus denen hervorgeht, dass die Kommission zwar anfänglich eine Angleichung an den im Schengen-Besitzstand vorgesehenen Maximalaufenthalt von drei Monaten je Halbjahr vorgeschlagen hatte, der Unionsgesetzgeber sich aber für eine besondere Beschränkung, die auf ununterbrochene Aufenthalte abstellt, entschied. Insoweit begründet der Umstand, dass die Obergrenze, wie im Schengen-Besitzstand, drei Monate beträgt, keine Zweifel daran, dass diese Beschränkung im Verhältnis zu den allgemeinen rechtlichen Regelungen für nicht visumpflichtige Drittstaatsangehörige Spezialcharakter hat, da aus keiner Bestimmung der Verordnung Nr. 1931/2006 hervorgeht, dass die betreffenden drei Monate in denselben Sechsmonatszeitraum eingebettet sein sollen.

24

Im Übrigen fordert der Sinn der Verordnung Nr. 1931/2006, soweit noch erforderlich, ihre autonome Auslegung. Sowohl ihre Ziele als auch ihre Bestimmungen weisen auf die Absicht des Unionsgesetzgebers hin, für den kleinen Grenzverkehr von der Verordnung Nr. 562/2006 abweichende Regeln zu schaffen. Diese Regeln sollen es, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge festgestellt hat, den Bewohnern der betroffenen Grenzgebiete – um aktuellen oder überlieferten örtlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen – erlauben, die Landaußengrenzen der Union aus berechtigten Gründen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder familiärer Natur zu überschreiten – und zwar einfach, d. h. ohne übertriebene Verwaltungshürden, häufig, aber auch regelmäßig.

25

Die von der ungarischen und der polnischen Regierung geäußerten Befürchtungen hinsichtlich negativer Auswirkungen einer solchen Auslegung auf die öffentliche Ordnung an den Grenzen können nicht überzeugen, da das dem Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr damit eingeräumte Recht weder unbedingt noch absolut ist. Die Erteilung dieser Genehmigung ist nämlich an die Voraussetzung einer Mindestansässigkeit von einem Jahr im Grenzgebiet des Nachbarstaats geknüpft, deren Dauer durch ein bilaterales Abkommen verlängert werden kann. Zudem spricht nichts dagegen, dass ein solches Abkommen eine kürzere Höchstdauer des ununterbrochenen Aufenthalts festlegt als die in der Verordnung Nr. 1931/2006 vorgesehenen drei Monate, bei denen es sich lediglich um eine Höchstdauer handelt. Außerdem ist die Erleichterung des Grenzübertritts, wie schon aus dem Wortlaut des vierten Erwägungsgrundes und von Art. 9 Buchst. b der Verordnung hervorgeht, für Bona-fide-Grenzbewohner bestimmt, die ordnungsgemäß nachgewiesene berechtigte Gründe haben, eine Landaußengrenze häufig zu überschreiten. Insoweit steht es den zuständigen Behörden weiterhin frei, die in Art. 7 der Verordnung Nr. 1931/2006 angesprochenen Sanktionen gegenüber Grenzbewohnern zu verhängen, die ihre Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr missbräuchlich oder in betrügerischer Absicht verwenden.

26

Daher ist auf die erste und die vierte Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 1931/2006 dahin auszulegen ist, dass sich der Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr, die im Rahmen der durch diese Verordnung geschaffenen Sonderregelung für den kleinen Grenzverkehr erteilt worden ist, innerhalb der Begrenzungen, die die Verordnung und das zu ihrer Anwendung zwischen dem Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betreffende besitzt, und dem benachbarten Mitgliedstaat geschlossene bilaterale Abkommen vorsehen, im Grenzgebiet drei Monate lang frei bewegen können muss, wenn sein Aufenthalt dort nicht unterbrochen wird, und dass er nach jeder Unterbrechung seines Aufenthalts ein neues dreimonatiges Aufenthaltsrecht beanspruchen kann.

Zur zweiten Frage

27

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie häufig Unterbrechungen des Aufenthalts eines Inhabers einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006 zulässig sind.

28

Insoweit ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass der Aufenthalt eines Inhabers einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr in dem Moment als unterbrochen anzusehen ist, in dem der Betreffende die Grenze überschreitet, um in den Staat, in dem er ansässig ist, im Einklang mit der ihm erteilten Genehmigung zurückzukehren, ohne dass es erforderlich wäre, die Zahl der täglichen Grenzübertritte zu berücksichtigen.

29

Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006 dahin auszulegen ist, dass unter der in diesem Artikel angesprochenen Unterbrechung des Aufenthalts jeder Grenzübertritt, unabhängig von seiner Häufigkeit und sei es auch mehrmals täglich, zwischen dem Grenzmitgliedstaat und dem Drittstaat, in dem der Inhaber der Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr ansässig ist, im Einklang mit den in dieser Genehmigung festgelegten Bedingungen zu verstehen ist.

Zu den übrigen Fragen

30

Angesichts der Antworten auf die erste, die zweite und die vierte Frage sind die dritte und die fünfte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

31

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Verordnung (EG) Nr. 1931/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Festlegung von Vorschriften über den kleinen Grenzverkehr an den Landaußengrenzen der Mitgliedstaaten sowie zur Änderung der Bestimmungen des Übereinkommens von Schengen ist dahin auszulegen, dass sich der Inhaber einer Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr, die im Rahmen der durch diese Verordnung geschaffenen Sonderregelung für den kleinen Grenzverkehr erteilt worden ist, innerhalb der Begrenzungen, die die Verordnung und das zu ihrer Anwendung zwischen dem Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betreffende besitzt, und dem benachbarten Mitgliedstaat geschlossene bilaterale Abkommen vorsehen, im Grenzgebiet drei Monate lang frei bewegen können muss, wenn sein Aufenthalt dort nicht unterbrochen wird, und dass er nach jeder Unterbrechung seines Aufenthalts ein neues dreimonatiges Aufenthaltsrecht beanspruchen kann.

 

2.

Art. 5 der Verordnung Nr. 1931/2006 ist dahin auszulegen, dass unter der in diesem Artikel angesprochenen Unterbrechung des Aufenthalts jeder Grenzübertritt, unabhängig von seiner Häufigkeit und sei es auch mehrmals täglich, zwischen dem Grenzmitgliedstaat und dem Drittstaat, in dem der Inhaber der Grenzübertrittsgenehmigung für den kleinen Grenzverkehr ansässig ist, im Einklang mit den in dieser Genehmigung festgelegten Bedingungen zu verstehen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.