URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
6. September 2012 ( *1 )
„Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 — Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen — Sachlicher Anwendungsbereich — Vernehmung eines Zeugen, der Partei des Hauptsacheverfahrens ist, durch ein Gericht eines Mitgliedstaats, wenn der Zeuge in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft ist — Möglichkeit der Ladung einer Partei als Zeuge vor das zuständige Gericht gemäß dem Recht des Mitgliedstaats dieses Gerichts“
In der Rechtssache C-170/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 1. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2011, in dem Verfahren
Maurice Robert Josse Marie Ghislain Lippens,
Gilbert Georges Henri Mittler,
Jean Paul François Caroline Votron
gegen
Hendrikus Cornelis Kortekaas,
Kortekaas Entertainment Marketing BV,
Kortekaas Pensioen BV,
Dirk Robbard De Kat,
Johannes Hendrikus Visch,
Euphemia Joanna Bökkerink,
Laminco GLD N-A,
Ageas NV, vormals Fortis NV,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič (Berichterstatter), E. Levits und J.-J. Kasel,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von Herrn Lippens, Herrn Mittler und Herrn Votron, vertreten durch P. D. Olden und H. M. H. Speyart, advocaten, |
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der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte, |
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der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, |
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der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, K. Petersen und J. Kemper als Bevollmächtigte, |
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von Irland, vertreten durch P. Dillon Malone, BL, |
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der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten, |
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der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten, |
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der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und H. Leppo als Bevollmächtigte, |
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der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters als Bevollmächtigten, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Mai 2012
folgendes
Urteil
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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. L 174, S. 1). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Lippens, Herrn Mittler und Herrn Votron (im Folgenden zusammen: Lippens u. a.), in Belgien wohnende Mitglieder der Geschäftsleitung der Ageas NV, vormals Fortis NV (im Folgenden: Fortis), einerseits und Herrn Kortekaas, der Kortekaas Entertainment Marketing BV, der Kortekaas Pensioen BV, Herrn De Kat, Herrn Visch, Frau Bökkerink und der Laminco GLD N-A (im Folgenden zusammen: Kortekaas u. a.), Inhaber von Wertpapieren von Fortis, andererseits wegen des Schadens, der Kortekaas u. a. dadurch entstanden sein soll, dass sie auf von Lippens u. a. verbreitete Informationen über die finanzielle Lage von Fortis vertraut hätten. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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Die Erwägungsgründe 2, 7, 8, 10 und 11 der Verordnung Nr. 1206/2001 lauten:
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Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 1206/2001 bestimmt: „(1) Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften
(2) Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder zu eröffnenden gerichtlichen Verfahren bestimmt sind. (3) Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck ‚Mitgliedstaat‘ die Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks.“ |
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Die Art. 10 bis 16 der Verordnung betreffen die Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht. |
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In Art. 10 („Allgemeine Bestimmungen über die Erledigung des Ersuchens“) der Verordnung Nr. 1206/2001 heißt es: „(1) Das ersuchte Gericht erledigt das Ersuchen unverzüglich, spätestens aber innerhalb von 90 Tagen nach Eingang des Ersuchens. (2) Das ersuchte Gericht erledigt das Ersuchen nach Maßgabe des Rechts seines Mitgliedstaats. (3) Das ersuchende Gericht kann … beantragen, dass das Ersuchen nach einer besonderen Form erledigt wird, die das Recht seines Mitgliedstaats vorsieht. Das ersuchte Gericht entspricht einem solchen Antrag, es sei denn, dass diese Form mit dem Recht des Mitgliedstaats des ersuchten Gerichts unvereinbar oder wegen erheblicher tatsächlicher Schwierigkeiten unmöglich ist. Entspricht das ersuchte Gericht aus einem der oben genannten Gründe nicht dem Antrag, so unterrichtet es das ersuchende Gericht … im Anhang hiervon. (4) Das ersuchende Gericht kann das ersuchte Gericht bitten, die Beweisaufnahme unter Verwendung von Kommunikationstechnologien, insbesondere im Wege der Videokonferenz und der Telekonferenz, durchzuführen. Das ersuchte Gericht entspricht einem solchen Antrag, es sei denn, dass dies mit dem Recht des Mitgliedstaats des ersuchten Gerichts unvereinbar oder wegen erheblicher tatsächlicher Schwierigkeiten unmöglich ist. ...“ |
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Art. 12 („Erledigung in Anwesenheit und unter Beteiligung von Beauftragten des ersuchenden Gerichts“) dieser Verordnung sieht vor: „(1) Sofern mit dem Recht des Mitgliedstaats des ersuchenden Gerichts vereinbar, haben die Beauftragten des ersuchenden Gerichts das Recht, bei der Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht zugegen zu sein. (2) Der Begriff ‚Beauftragte‘ im Sinne dieses Artikels umfasst vom ersuchenden Gericht nach Maßgabe des Rechts seines Mitgliedstaats bestimmte Gerichtsangehörige. Das ersuchende Gericht kann nach Maßgabe des Rechts seines Mitgliedstaats auch andere Personen wie etwa Sachverständige bestimmen. … (4) Wird die Beteiligung der Beauftragten des ersuchenden Gerichts an der Beweisaufnahme beantragt, legt das ersuchte Gericht nach Artikel 10 die Bedingungen für ihre Teilnahme fest. ...“ |
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Art. 17 der Verordnung Nr. 1206/2001, der die unmittelbare Beweisaufnahme durch das ersuchende Gericht regelt, bestimmt: „(1) Beauftragt ein Gericht eine unmittelbare Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat, so übermittelt es der … Zentralstelle oder zuständigen Behörde in diesem Staat … ein entsprechendes Ersuchen. … (3) Die Beweisaufnahme wird von einem nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedstaats des ersuchenden Gerichts bestimmten Gerichtsangehörigen oder von einer anderen Person wie etwa einem Sachverständigen durchgeführt. (4) Die genannte Zentralstelle oder die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats teilt dem ersuchenden Gericht … innerhalb von 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens mit, ob dem Ersuchen stattgegeben werden kann und, soweit erforderlich, unter welchen Bedingungen nach Maßgabe des Rechts ihres Mitgliedstaats die betreffende Handlung vorzunehmen ist. Die Zentralstelle oder die zuständige Behörde kann insbesondere ein Gericht ihres Mitgliedstaats bestimmen, das an der Beweisaufnahme teilnimmt, um sicherzustellen, dass dieser Artikel ordnungsgemäß angewandt wird und die festgelegten Bedingungen eingehalten werden. Die Zentralstelle oder die zuständige Behörde fördert den Einsatz von Kommunikationstechnologie, wie Video- und Telekonferenzen. (5) Die Zentralstelle oder die zuständige Stelle kann die unmittelbare Beweisaufnahme nur insoweit ablehnen, als
(6) Unbeschadet der nach Absatz 4 festgelegten Bedingungen erledigt das ersuchende Gericht das Ersuchen nach Maßgabe des Rechts seines Mitgliedstaats.“ |
9 |
Art. 21 („Verhältnis zu bestehenden oder künftigen Übereinkünften oder Vereinbarungen zwischen Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1206/2001 sieht in seinem Abs. 2 vor: „Diese Verordnung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, dass zwei oder mehr von ihnen untereinander Übereinkünfte oder Vereinbarungen zur weiteren Vereinfachung der Beweisaufnahme schließen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Verordnung vereinbar sind.“ |
Niederländisches Recht
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In den Niederlanden sind die Zeugenvernehmung und die vorgezogene Zeugenvernehmung durch das Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering (Zivilprozessordnung, im Folgenden: WBR) geregelt. |
11 |
In Art. 164 WBR heißt es: „(1) Auch die Parteien können als Zeugen auftreten. … (3) Wenn eine Partei, die zur Abgabe einer Erklärung als Zeuge verpflichtet ist, nicht zur Verhandlung erscheint, nicht die ihr gestellten Fragen beantwortet oder sich weigert, ihre Erklärung zu unterschreiben, kann der Richter die Schlussfolgerungen daraus ziehen, die er für angebracht hält.“ |
12 |
Nach Art. 165 Abs. 1 WBR ist „[j]ede Person, die auf gesetzliche Weise zur Vernehmung als Zeuge geladen ist, … zur Zeugenaussage verpflichtet“. |
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Art. 176 Abs. 1 WBR sieht vor: „Soweit nicht durch Übereinkommen oder EG-Verordnung etwas anderes bestimmt ist, kann das Gericht, wenn ein Zeuge im Ausland wohnt, eine von ihm zu bestimmende Behörde des Landes, in dem der Zeuge seinen Wohnsitz hat, ersuchen, die Vernehmung, wenn möglich unter Eid, durchzuführen, oder mit dieser Vernehmung den niederländischen Konsularbeamten beauftragen, in dessen Zuständigkeitsbereich der Wohnsitz dieses Zeugen liegt.“ |
14 |
Art. 186 WBR lautet: „(1) In den Fällen, in denen das Gesetz den Zeugenbeweis zulässt, kann eine vorgezogene Zeugenvernehmung auf Antrag einer Person, die daran ein Interesse hat, unverzüglich angeordnet werden, bevor ein Rechtsstreit anhängig gemacht worden ist. (2) Während ein Rechtsstreit anhängig ist, kann eine vorgezogene Zeugenvernehmung vom Richter auf Antrag einer Partei angeordnet werden.“ |
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Nach Art. 189 WBR finden „[d]ie Vorschriften über die Zeugenvernehmung … auf die vorgezogene Zeugenvernehmung entsprechende Anwendung“. |
Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefrage
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Am 3. August 2009 verklagten Kortekaas u. a., Inhaber von Wertpapieren von Fortis, Lippens u. a. sowie Fortis selbst vor der Rechtbank Utrecht. Im Rahmen dieser Klage verlangen Kortekaas u. a. Ersatz für den Schaden, der ihnen dadurch entstanden sein soll, dass sie aufgrund von Informationen über die finanzielle Lage von Fortis und die von Fortis im Jahr 2008 zu zahlende Dividende, die von Lippens u. a. in den Jahren 2007 und 2008 öffentlich verbreitet worden seien, Wertpapiere gehalten oder gekauft hätten. |
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Zur Klärung der von Lippens u. a. aufgestellten Behauptungen sowie der Frage, von welchen Informationen diese während des vorgenannten Zeitraums Kenntnis hatten, beantragten Kortekaas u. a. bei der Rechtbank Utrecht eine vorgezogene Zeugenvernehmung von Lippens u. a. Die Rechtbank gab diesem Antrag mit Beschluss vom 25. November 2009 statt und führte dabei aus, dass die Vernehmung von einem noch zu benennenden beauftragten Richter durchzuführen sei. |
18 |
Am 9. Dezember 2009 beantragten Lippens u. a. bei der Rechtbank Utrecht ein Rechtshilfeersuchen, um die Möglichkeit zu erhalten, durch einen französischsprachigen Richter in Belgien, ihrem Wohnsitzland, vernommen zu werden. Ihr Antrag wurde mit Beschluss vom 3. Februar 2010 zurückgewiesen. |
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Der Gerechtshof te Amsterdam, bei dem Lippens u. a. ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss anhängig machten, bestätigte den angefochtenen Beschluss mit Beschluss vom 18. Mai 2010 und begründete dies mit Art. 176 Abs. 1 WBR, wonach das Gericht, das einen Zeugen zu vernehmen hat, der sich im Ausland befindet, befugt, nicht aber verpflichtet ist, im Wege eines Rechtshilfeersuchens vorzugehen. Der Gerechtshof führte aus, dass die Zeugen grundsätzlich von dem Gericht zu vernehmen seien, bei dem das Verfahren anhängig sei, und dass im vorliegenden Fall kein besonderer Umstand vorliege, der eine Abweichung von dieser Regel zugunsten von Lippens u. a. rechtfertige, insbesondere unter Berücksichtigung des von Kortekaas u. a. erhobenen Widerspruchs. Eine Vernehmung in Belgien könne auch nicht durch sprachliche Gründe gerechtfertigt werden, weil sich Lippens u. a. bei der Vernehmung in den Niederlanden des Beistands eines Dolmetschers bedienen könnten. |
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Lippens u. a. legten gegen den Beschluss des Gerechtshof te Amsterdam beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein. |
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Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts verbietet die Verordnung Nr. 1206/2001 nicht, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats nach dem in diesem Staat geltenden Verfahrensrecht einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vorlädt und dass im Fall des Nichterscheinens dieses Zeugens die von dem Recht dieses Staates vorgesehenen Konsequenzen eintreten. |
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Dem vorlegenden Gericht zufolge lässt sich aus keiner Bestimmung der Verordnung Nr. 1206/2001 ableiten, dass die von dieser Verordnung vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung den Rückgriff auf vom Recht der Mitgliedstaaten vorgesehene Methoden der Beweiserhebung ausschlössen. Die Verordnung Nr. 1206/2001 solle lediglich die Beweiserhebung erleichtern und verpflichte die Mitgliedstaaten nicht dazu, die in ihrem nationalen Verfahrensrecht vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung zu ändern. Es stelle sich allerdings die Frage, ob die Mitgliedstaaten nicht infolge des Urteils vom 28. April 2005, St. Paul Dairy (C-104/03, Slg. 2005, I-3481, Randnr. 23), verpflichtet seien, bei der Erhebung von Beweisen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat befänden, auf die Verordnung zurückzugreifen. |
23 |
Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist die Verordnung Nr. 1206/2001, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1, dahin auszulegen, dass ein Gericht, das einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vernehmen will, für diese Form der Beweiserhebung stets von den durch diese Verordnung geschaffenen Methoden Gebrauch machen muss, oder ist es befugt, von den in seinem eigenen nationalen Prozessrecht vorgesehenen Methoden wie der Ladung des Zeugen vor dieses Gericht Gebrauch zu machen? |
Zur Vorlagefrage
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Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1206/2001, u. a. deren Art. 1 Abs. 1, dahin auszulegen sind, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats, das eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei als Zeugen vernehmen will, für die Durchführung der Zeugenvernehmung die von dieser Verordnung vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung anwenden muss oder ob dieses Gericht die Möglichkeit hat, die betreffende Partei nach dem Recht seines Mitgliedstaats vorzuladen und zu vernehmen. |
25 |
Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 ist die Verordnung Nr. 1206/2001 in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entweder das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht oder aber beantragt, in dem anderen Mitgliedstaat selbst unmittelbar Beweis erheben zu dürfen. |
26 |
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass sich der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1206/2001, wie er durch den genannten Artikel festgelegt wird und wie er sich aus der Systematik der Verordnung ergibt, auf zwei Methoden der Beweiserhebung beschränkt, nämlich zum einen die Durchführung einer Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht gemäß den Art. 10 bis 16 dieser Verordnung aufgrund eines Antrags des ersuchenden Gerichts eines anderen Mitgliedstaats und zum anderen die unmittelbare Durchführung einer Beweisaufnahme durch das ersuchende Gericht in einen anderen Mitgliedstaat, deren Art und Weise in Art. 17 dieser Verordnung geregelt ist. |
27 |
Die Verordnung Nr. 1206/2001 enthält hingegen keine Bestimmung, die die Möglichkeit regelt oder ausschließt, dass das Gericht eines Mitgliedstaats eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei vorlädt, damit sie vor diesem Gericht erscheint und unmittelbar aussagt. |
28 |
Die Verordnung Nr. 1206/2001 ist demzufolge grundsätzlich nur dann anwendbar, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats beschließt, die Beweiserhebung gemäß einer der beiden von dieser Verordnung vorgesehenen Methoden durchzuführen; in diesem Fall ist es verpflichtet, sich an die diesen Methoden zugehörigen Verfahren zu halten. |
29 |
Sodann ist daran zu erinnern, dass die Verordnung Nr. 1206/2001 ihren Erwägungsgründen 2, 7, 8, 10 und 11 zufolge die einfache, effiziente und schnelle Abwicklung grenzüberschreitender Beweisaufnahmen bezweckt. Dass ein Gericht eines Mitgliedstaats Beweise in einem anderen Mitgliedstaat erheben lässt, soll nicht zu einer Verlängerung der nationalen Verfahren führen. Deshalb wurde mit der Verordnung Nr. 1206/2001 eine für alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark verbindliche Regelung geschaffen, um Hindernisse auszuräumen, die in diesem Bereich entstehen können (vgl. Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński, C-283/09, Slg. 2011, I-601, Randnr. 62). |
30 |
Diesem Zweck wird eine Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1206/2001 nicht gerecht, die es einem Gericht eines Mitgliedstaats generell verbieten würde, eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei nach seinem nationalen Recht als Zeuge vorzuladen und diese gemäß seinem nationalen Recht zu vernehmen. Denn eine solche Auslegung liefe – wie die tschechische und die polnische Regierung sowie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt haben – darauf hinaus, dass die Möglichkeiten des betreffenden Gerichts, eine solche Partei zu vernehmen, eingeschränkt würden. |
31 |
Es ist somit offensichtlich, dass es unter bestimmten Umständen, wie insbesondere dann, wenn die als Zeuge geladene Partei bereit ist, freiwillig zu erscheinen, für das zuständige Gericht einfacher, effizienter und schneller sein kann, diese nach den Bestimmungen seines nationalen Rechts zu vernehmen, anstatt sich der von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung zu bedienen. |
32 |
Eine vom zuständigen Gericht aufgrund seines nationalen Rechts durchgeführte Vernehmung ermöglicht diesem nicht nur, die Partei unmittelbar zu befragen, sondern auch, sie mit den Aussagen anderer Parteien oder Zeugen, die bei der Vernehmung möglicherweise anwesend sind, zu konfrontieren sowie die Glaubhaftigkeit ihrer Zeugenaussage durch eventuelle Zusatzfragen zu überprüfen und dabei alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte der Rechtssache zu berücksichtigen. Eine solche Vernehmung unterscheidet sich somit von der Durchführung einer Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht gemäß den Art. 10 bis 16 der Verordnung Nr. 1206/2001, auch wenn Art. 12 dieser Verordnung unter bestimmten Bedingungen die Anwesenheit von Beauftragten des ersuchten Gerichts bei der Beweisaufnahme und deren Beteiligung hieran zulässt. Eine unmittelbare Beweisaufnahme nach Art. 17 der Verordnung ermöglicht dem ersuchenden Gericht zwar, eine Vernehmung nach dem Recht seines Mitgliedstaats selbst durchzuführen, aber eine solche Beweisaufnahme bleibt an die Genehmigung durch die Zentralstelle oder zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats und die von dieser festgelegten Bedingungen sowie an die anderen in diesem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen gebunden. |
33 |
Schließlich wird die Auslegung, wonach die Verordnung Nr. 1206/2001 die grenzüberschreitende Beweiserhebung nicht abschließend regelt, sondern eine solche Beweiserhebung lediglich erleichtern soll und insoweit den Rückgriff auf andere Instrumente mit demselben Ziel zulässt, durch Art. 21 Abs. 2 dieser Verordnung gestützt, der Übereinkünfte oder Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten zur weiteren Vereinfachung der Beweisaufnahme ausdrücklich zulässt, sofern sie mit der Verordnung vereinbar sind. |
34 |
Der Gerichtshof hat in Randnr. 23 des Urteils St. Paul Dairy zwar festgestellt, dass ein Antrag auf Zeugenvernehmung unter Umständen wie den dort in Rede stehenden als ein Mittel dazu verwendet werden könnte, sich den in der Verordnung Nr. 1206/2001 niedergelegten Regeln zu entziehen, die unter den gleichen Garantien und mit den gleichen Wirkungen für alle Rechtsbürger für die Übermittlung und die Erledigung der Ersuchen eines Gerichts eines Mitgliedstaats um Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat gelten. |
35 |
Diese Feststellung kann jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass sie das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in einem Rechtsstreit in der Sache zuständig ist und das einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vernehmen möchte, dazu verpflichtete, diese Vernehmung nach den Regeln der Verordnung Nr. 1206/2001 durchzuführen. |
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Sachverhalt, der dem Urteil St. Paul Dairy zugrunde lag, dadurch gekennzeichnet war, dass der von einer der Parteien gestellte Antrag auf vorgezogene Zeugenvernehmung unmittelbar an das Gericht des Wohnsitzmitgliedstaats des Zeugen gerichtet worden war, das jedoch für die Entscheidung des Rechtsstreits in der Sache nicht zuständig war. Ein solcher Antrag könnte in der Tat als ein Mittel dazu verwendet werden, sich den Regeln der Verordnung Nr. 1206/2001 zu entziehen, da er geeignet ist, dem zuständigen Gericht, an das der Antrag gerichtet werden müsste, die Möglichkeit zu nehmen, den betreffenden Zeugen gemäß den Bestimmungen dieser Verordnung zu vernehmen. Der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache unterscheidet sich insoweit von dem der Rechtssache St. Paul Dairy, als der Antrag auf vorgezogene Zeugenvernehmung beim zuständigen Gericht gestellt worden ist. |
37 |
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats die Möglichkeit hat, eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei nach dem Recht seines Mitgliedstaats als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. |
38 |
Dem zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats bleibt es außerdem unbenommen, aus dem Umstand, dass eine Partei ohne berechtigten Grund nicht als Zeuge erscheint, die vom Recht seines Mitgliedstaats vorgesehenen möglichen Konsequenzen zu ziehen, vorausgesetzt, dass sie unter Beachtung des Unionsrechts angewandt werden. |
39 |
Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1206/2001, insbesondere deren Art. 1 Abs. 1, dahin auszulegen sind, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats, das eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei als Zeugen vernehmen will, hinsichtlich der Durchführung der Zeugenvernehmung die Möglichkeit hat, die betreffende Partei nach dem Recht seines Mitgliedstaats vorzuladen und zu vernehmen. |
Kosten
40 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: |
Die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, insbesondere deren Art. 1 Abs. 1, sind dahin auszulegen, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats, das eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Partei als Zeugen vernehmen will, hinsichtlich der Durchführung der Zeugenvernehmung die Möglichkeit hat, die betreffende Partei nach dem Recht seines Mitgliedstaats vorzuladen und zu vernehmen. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.