SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NIILO JÄÄSKINEN
vom 24. Mai 2012 ( 1 )
Rechtssache C-170/11
Maurice Robert Josse Marie Ghislain Lippens, Gilbert Georges Henri Mittler, Jean Paul François Caroline Votron
gegen
Hendrikus Cornelis Kortekaas, Kortekaas Entertainment Marketing BV, Kortekaas Pensioen BV, Dirk Robbard De Kat, Johannes Hendrikus Visch, Euphemia Joanna Bökkerink, Laminco GLD N-A,Ageas NV, vormals Fortis NV
(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Niederlande])
„Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen — Erhebung von Beweisen — Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 — Sachlicher Anwendungsbereich — Von einem Gericht eines Mitgliedstaats durchgeführte Vernehmung von Zeugen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen — Zeugen, die auch die Parteien des Ausgangsverfahrens sind — Zwangsmaßnahmen — Etwaige Verpflichtung, eine der Arten der Beweiserhebung anzuwenden, die in der genannten Verordnung vorgesehen sind, oder Befugnis, diejenigen anzuwenden, die vom geltenden Verfahrensrecht des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem das betroffene Gericht seinen Sitz hat — Restgeltung des nationalen Rechts“
I – Einleitung
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1. |
In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof darum ersucht, die Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen auszulegen ( 2 ). Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, wie Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung auszulegen ist, der den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung festlegt, indem er die beiden Arten der justiziellen Zusammenarbeit benennt, auf die ein Gericht eines Mitgliedstaats ( 3 ) zurückgreifen kann, wenn es in einem anderen Mitgliedstaat eine Beweisaufnahme durchführen möchte. |
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2. |
Das Vorabentscheidungsersuchen wurde vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) im Rahmen einer Klage vorgelegt, die in der Sache bei einem niederländischen Gericht gegen in Belgien wohnhafte Beklagte erhoben wurde, deren vorgezogene Vernehmung als Zeugen von den Klägern beantragt wurde. Obwohl die Betroffenen den Wunsch geäußert haben, in französischer Sprache in ihrem Wohnsitzstaat vernommen zu werden, und zwar im Wege eines Antrags, der von dem befassten Gericht an die belgischen Justizbehörden nach der Verordnung Nr. 1206/2001 zu richten wäre, hat das Gericht diesen Antrag mit der Entscheidung, die Vernehmung habe in den Niederlanden stattzufinden, zurückgewiesen und die Zeugen nach nationalem Verfahrensrecht vor dieses Gericht geladen. |
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3. |
In diesem Zusammenhang soll sich der Gerichtshof dazu äußern, ob das Gericht eines Mitgliedstaats, das einen Zeugen – im vorliegenden Fall eine Partei des Rechtsstreits – vernehmen möchte, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, verpflichtet ist, die von der Verordnung Nr. 1206/2001 eingeführten Untersuchungsmethoden anzuwenden, oder die Möglichkeit hat, weiterhin diejenigen anzuwenden, die vom geltenden Verfahrensrecht des Staates seines Sitzes vorgesehen sind, indem es gegebenenfalls auf Zwangsmaßnahmen zurückgreift, wenn sich der Zeuge weigert. Somit ist – erstmals – festzustellen, ob die Verordnung Nr. 1206/2001 die Suche nach Beweisen von einem Mitgliedstaat aus in einen anderen ausschließlich und abschließend regelt oder ob sie andere Zugangswege zu solchen Beweisen fortbestehen lässt. |
II – Rechtlicher Rahmen
A – Verordnung Nr. 1206/2001
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4. |
In der Präambel der Verordnung Nr. 1206/2001 heißt es: „…
…
…
…“ |
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5. |
Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 1206/2001 bestimmt in seinen Abs. 1 und 2: „(1) Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften
(2) Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder zu eröffnenden gerichtlichen Verfahren bestimmt sind.“ |
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6. |
Die Art. 10 bis 16 in Abschnitt 3 derselben Verordnung legen die Modalitäten der Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht fest (Methode der so genannten „mittelbaren“ Zusammenarbeit). |
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7. |
Art. 10 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1206/2001 stellt klar, dass „[d]as ersuchte Gericht … das Ersuchen nach Maßgabe des Rechts seines Mitgliedstaats [erledigt]“. |
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8. |
Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor, dass die mittelbare Beweisaufnahme in Anwesenheit und unter Beteiligung der Parteien abläuft; er bestimmt: „Sofern im Recht des Mitgliedstaats des ersuchenden Gerichts vorgesehen, haben die Parteien und gegebenenfalls ihre Vertreter das Recht, bei der Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht zugegen zu sein.“ |
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9. |
Art. 13 dieser Verordnung erlaubt die Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen der Methode der mittelbaren Beweisaufnahme folgendermaßen: „Soweit erforderlich, wendet das ersuchte Gericht bei der Erledigung des Ersuchens geeignete Zwangsmaßnahmen in den Fällen und in dem Umfang an, wie sie das Recht des Mitgliedstaats des ersuchten Gerichts für die Erledigung eines zum gleichen Zweck gestellten Ersuchens inländischer Behörden oder einer beteiligten Partei vorsieht.“ |
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10. |
Art. 17 der Verordnung, der die unmittelbare Beweisaufnahme durch das ersuchende Gericht regelt (Methode der sogenannten „unmittelbaren“ Zusammenarbeit), sieht vor: „(1) Beauftragt ein Gericht eine unmittelbare Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat, so übermittelt es der … Zentralstelle oder zuständigen Behörde in diesem Staat … ein entsprechendes Ersuchen. (2) Die unmittelbare Beweisaufnahme ist nur statthaft, wenn sie auf freiwilliger Grundlage und ohne Zwangsmaßnahmen erfolgen kann. Macht die unmittelbare Beweisaufnahme die Vernehmung einer Person erforderlich, so teilt das ersuchende Gericht dieser Person mit, dass die Vernehmung auf freiwilliger Grundlage erfolgt. (3) Die Beweisaufnahme wird von einem nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedstaats des ersuchenden Gerichts bestimmten Gerichtsangehörigen oder von einer anderen Person wie etwa einem Sachverständigen durchgeführt. …“ |
B – Nationales Recht
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11. |
In den Niederlanden sind die Zeugenvernehmung und die vorgezogene Zeugenvernehmung durch das Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering (niederländische Zivilprozessordnung, im Folgenden: WBR) ( 5 ) geregelt. |
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12. |
In Art. 164 WBR heißt es: „(1) Auch die Parteien können als Zeugen auftreten. … (3) Wenn eine Partei, die zur Abgabe einer Erklärung als Zeuge verpflichtet ist, nicht zur Verhandlung erscheint, nicht die ihr gestellten Fragen beantwortet oder sich weigert, ihre Erklärung zu unterschreiben, kann der Richter die Schlussfolgerungen daraus ziehen, die er für angebracht hält.“ |
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13. |
Art. 165 Abs. 1 WBR bestimmt, dass „[j]ede Person, die nach dem Gesetz zur Vernehmung als Zeuge geladen ist, … zur Zeugenaussage verpflichtet [ist]“. |
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14. |
Art. 176 Abs. 1 WBR sieht vor: „Soweit nicht durch Übereinkommen oder EG-Verordnung etwas anderes bestimmt ist, kann das Gericht, wenn ein Zeuge im Ausland wohnt, eine von ihm zu bestimmende Behörde des Landes, in dem der Zeuge seinen Wohnsitz hat, ersuchen, die Vernehmung, wenn möglich unter Eid, durchzuführen, oder mit dieser Vernehmung den niederländischen Konsularbeamten beauftragen, in dessen Zuständigkeitsbereich der Wohnsitz dieses Zeugen liegt.“ |
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15. |
Art. 186 WBR lautet: „(1) In den Fällen, in denen das Gesetz den Zeugenbeweis zulässt, kann auf Antrag des Betroffenen unverzüglich eine vorgezogene Zeugenvernehmung angeordnet werden, bevor ein Rechtsstreit anhängig gemacht worden ist. (2) Während ein Rechtsstreit anhängig ist, kann eine vorgezogene Zeugenvernehmung vom Richter auf Antrag einer Partei angeordnet werden.“ |
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16. |
Art. 189 WBR bestimmt, dass „[d]ie Vorschriften über die Zeugenvernehmung … auf die vorgezogene Zeugenvernehmung entsprechende Anwendung [finden]“. |
III – Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
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17. |
Am 3. August 2009 befassten mehrere Inhaber (im Folgenden: Kortekaas u. a.) ( 6 ) von Wertpapieren der Gesellschaft Fortis NV ( 7 ) die Rechtbank Utrecht (Niederlande) mit einem Verfahren gegen drei Mitglieder der Geschäftsleitung dieser Gesellschaft, die in Belgien wohnhaft sind ( 8 ) (im Folgenden: Lippens u. a.), und gegen die Gesellschaft selbst, in dem sie deren Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz aufgrund der Begehung rechtswidriger Handlungen beantragten. |
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18. |
Im Rahmen dieses Hauptsacheverfahrens haben Kortekaas u. a. am 6. August 2009 bei der Rechtbank Utrecht eine vorgezogene Vernehmung von Lippens u. a. als Zeugen in Bezug auf ihre Äußerungen beantragt. Die Rechtbank Utrecht hat diesem Antrag mit Beschluss vom 25. November 2009 stattgegeben und darauf hingewiesen, dass die Vernehmung von einem noch zu benennenden beauftragten Richter durchzuführen sei. |
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19. |
Am 9. Dezember 2009 haben Lippens u. a. bei der Rechtbank Utrecht ein Rechtshilfeersuchen beantragt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, durch einen französischsprachigen Richter in Belgien, ihrem Wohnsitzland, vernommen zu werden. Ihr Antrag ist mit Beschluss vom 3. Februar 2010 zurückgewiesen worden. |
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20. |
Der mit dem von Lippens u. a. eingelegten Rechtsmittel befasste Gerechtshof te Amsterdam bestätigte den angefochtenen Beschluss mit Beschluss vom 18. Mai 2010 auf der Grundlage von Art. 176 Abs. 1 WBR, der das niederländische Gericht, das einen Zeugen zu vernehmen hat, der sich im Ausland befindet und nicht freiwillig vor dem niederländischen Gericht erscheinen möchte, befugt, nicht aber verpflichtet, im Wege des Rechtshilfeersuchens vorzugehen. Der Gerechtshof te Amsterdam hat ausgeführt, dass die Zeugen grundsätzlich von dem Gericht zu vernehmen seien, bei dem das Hauptsacheverfahren anhängig sei, und dass im vorliegenden Fall kein besonderer Umstand vorliege, der eine Abweichung von dieser Regel zugunsten von Lippens u. a. rechtfertige, insbesondere unter Berücksichtigung des von Kortekaas u. a. erhobenen Widerspruchs. Auch könne eine Vernehmung in Belgien nicht durch sprachliche Gründe gerechtfertigt werden, weil Lippens u. a. einen Dolmetscher der französischen Sprache mitbringen könnten, der bei ihrer Vernehmung in den Niederlanden Beistand leisten könne. |
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21. |
Lippens u. a. haben gegen die Entscheidung des Gerechtshof te Amsterdam beim Hoge Raad der Nederlanden Kassationsbeschwerde eingelegt. |
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22. |
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts verwehrt es die Verordnung Nr. 1206/2001 einem Gericht mit Sitz in einem Mitgliedstaat nicht, nach dem geltenden Verfahrensrecht dieses Staats einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vor dieses Gericht zu laden und im Fall der Weigerung, vor Gericht zu erscheinen, die von den genannten Vorschriften vorgesehenen Konsequenzen zu ziehen. Weder der Wortlaut noch der zweite oder der fünfte Erwägungsgrund ( 9 ) der Verordnung Nr. 1206/2001 ließen die Schlussfolgerung zu, dass die von dieser Verordnung vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung den Rückgriff auf andere Rechtsinstrumente ausschlössen. Diese Verordnung ziele nur darauf ab, die Beweiserhebung zu erleichtern, und verpflichte die Mitgliedstaaten nicht dazu, die in ihrem nationalen Verfahrensrecht vorgesehenen Methoden der Beweiserhebung zu ändern. |
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23. |
Außerdem bezieht sich dieses Gericht auf das Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 18. März 1970, an dessen Stelle in Bezug auf die elf Mitgliedstaaten, für die dieses Übereinkommen gegolten hat, die Verordnung Nr. 1206/2001 getreten ist ( 10 ). Das Gericht hebt hervor, es sei fragwürdig, ob das Übereinkommen ausschließliche und zwingende Wirkung habe oder ob es Platz für andere Instrumente lasse, wie dies vom Supreme Court der Vereinigten Staaten vertreten worden sei ( 11 ). Es fügt hinzu, dass in einem Urteil des Gerichtshofs dagegen ein Anhaltspunkt dafür enthalten sei, dass der Verordnung Nr. 1206/2001 nach den Worten dieses Gerichts ( 12 )„ausschließliche Wirkung“ zukomme. |
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24. |
Der Hoge Raad der Nederlanden hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist die Verordnung Nr. 1206/2001, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1, dahin auszulegen, dass ein Gericht, das einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vernehmen will, für diese Form der Beweiserhebung stets von den durch diese Verordnung geschaffenen Methoden Gebrauch machen muss, oder ist es befugt, von den in seinem eigenen nationalen Prozessrecht vorgesehenen Methoden wie der Ladung des Zeugen vor dieses Gericht Gebrauch zu machen? |
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25. |
Das Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden ist am 7. April 2011 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden. |
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26. |
Lippens u. a., die niederländische, die tschechische, die deutsche, die österreichische, die polnische und die finnische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. |
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27. |
In einer an die Parteien und an die anderen Beteiligten gerichteten Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof die folgenden Fragen zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung gestellt:
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28. |
In der mündlichen Verhandlung, die am 7. März 2012 stattgefunden hat, haben Lippens u. a., die niederländische, die tschechische, die deutsche, die irische und die finnische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht. |
IV – Würdigung
A – Problemstellung in der Rechtssache
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29. |
Jedes Gericht eines Mitgliedstaats kann seine Befugnisse und seine „Hoheitsgewalt“, d. h. seine Vollstreckungsgewalt, nur in den Grenzen seines geografischen Zuständigkeitsbereichs rechtsgültig ausüben. Für diese Regel gibt es eine Ausnahme in Bezug auf die Beweisaufnahme, die das Gericht nämlich im gesamten Staatsgebiet durchführen kann. Dennoch kann aufgrund des völkerrechtlichen Grundsatzes der Territorialität, der mit dem Grundsatz staatlicher Souveränität verbunden ist, das Gericht normalerweise nicht tätig werden, um solche Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat zu vollstrecken. |
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30. |
Wie jedoch die Präambel der Verordnung Nr. 1206/2001 hervorhebt, ist „es für eine Entscheidung in einem bei einem Gericht eines Mitgliedstaats anhängigen zivil- oder handelsrechtlichen Verfahren oft erforderlich …, in einem anderen Mitgliedstaat Beweis erheben zu lassen, [und daher zweckdienlich,] … die Zusammenarbeit der Gerichte der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme weiter [zu verbessern]“ ( 13 ). Die genannte Verordnung kommt somit dem wachsenden Bedürfnis in der Europäischen Union nach, Beweise in einem anderen Mitgliedstaat als dem zu erheben, in dem ein gerichtliches Verfahren eingeleitet wurde oder werden könnte ( 14 ), wenn der Rechtsstreit einen Auslandsbezug aufweist. |
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31. |
Da der Begriff der Beweisaufnahme im Sinne der Verordnung Nr. 1206/2001 nicht in ihr definiert wird, ist der Gerichtshof bereits darum ersucht worden, im Wege ihrer Auslegung die Umrisse einer Definition festzulegen ( 15 ). Meiner Ansicht nach ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Zeugenvernehmung wie die im Ausgangsrechtsstreit in Betracht gezogene unter diesen Begriff fällt ( 16 ). |
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32. |
Der Hauptzweck der Verordnung Nr. 1206/2001 ist es, zu bestimmen, wie ein Gericht eines Mitgliedstaats auf vereinfachte und beschleunigte Weise ( 17 ) Beweise, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, unter Mitwirkung von dessen Behörden erheben kann. Hierfür stehen ihm zwei Methoden der Rechtshilfe zur Verfügung, deren Inhalt in Art. 1 Abs. 1 der genannten Verordnung kurz dargestellt ist:
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33. |
Im Wesentlichen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof zum ersten Mal um Aufschluss darüber, ob in dem Fall, dass ein Gericht eine Beweiserhebung mit grenzüberschreitendem Bezug vornehmen möchte, wie die Vernehmung eines Zeugen, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet, dieses Gericht verpflichtet ist, eine der beiden Methoden der Beweiserhebung zu wählen, die von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehen sind und oben beschrieben wurden, nämlich die mittelbare Beweiserhebung durch ein ersuchtes Gericht oder die unmittelbare Beweiserhebung durch das ersuchende Gericht, wie dies allein Lippens u. a. beim Gerichtshof geltend machen, oder ob dieses Gericht die Methoden anwenden darf, die vom Prozessrecht des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem es seinen Sitz hat. Dieses Vorabentscheidungsersuchen macht es erforderlich, den Umfang des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 1206/2001 zu definieren. |
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34. |
Weitere Probleme ergeben sich implizit aus der Begründung des Vorlagebeschlusses und aus den vom Gerichtshof gestellten Fragen zur mündlichen Beantwortung. Sie betreffen bestimmte praktische Konsequenzen der in dem zu erlassenden Urteil vorzunehmenden Auslegung, nämlich zum einen die etwaige Möglichkeit für das um die Vernehmung ersuchende Gericht, auf Zwangsmaßnahmen oder nachteilige Maßnahmen ( 21 ) zurückzugreifen, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Zeuge die Aussage verweigert, und zum anderen die etwaige Auswirkung des Umstands, dass der zu vernehmende Zeuge Partei des Rechtsstreits ist. |
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35. |
Eine eindeutige Antwort auf die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zu entnehmen. |
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36. |
Es finden sich nämlich bloße Andeutungen in dem im Vorlagebeschluss genannten Urteil St. Paul Dairy, das die Auslegung der im Brüsseler Übereinkommen enthaltenen Vorschriften für die gerichtliche Zuständigkeit betrifft und in dem Ausführungen zu der Verordnung Nr. 1206/2001 lediglich als obiter dictum vorgenommen wurden ( 22 ), ohne die dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache vorgelegte Problematik zu lösen. Gleiches gilt für das Urteil Aguirre Zarraga, das ebenfalls im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit erlassen wurde und zu verstehen gibt, dass das nationale Gericht die Wahl hat, auf den von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Mechanismus zurückzugreifen oder nicht ( 23 ). In Anbetracht der Besonderheit dieser beiden Urteile, die nicht die Auslegung der genannten Verordnung betrafen, sondern die von Vorschriften, deren Gegenstand und Anwendungsbereich sich deutlich von denen dieser Verordnung unterscheidet ( 24 ), und auch wenn diese Vorschriften ebenfalls auf die Schaffung eines europäischen Rechtsraums hinarbeiten, so hat sich der Gerichtshof vorliegend konkreter zu den Bedingungen zu äußern, unter denen die Anwendung der genannten Verordnung für ein Gericht obligatorisch ist. |
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37. |
Das meines Wissens einzige Urteil, das der Gerichtshof ( 25 ) über die Auslegung der Verordnung Nr. 1206/2001 erlassen hat, enthält meines Erachtens keine Gesichtspunkte, die für die Entscheidung der vorliegenden Rechtssache zweckdienlich wären ( 26 ). |
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38. |
Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich wie die Mehrheit der Streithelfer der Ansicht bin, dass, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats eine Beweiserhebung in einem anderen Mitgliedstaat für erforderlich hält, es zur Anwendung der von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Mechanismen nur in bestimmten Fällen und nicht systematisch verpflichtet ist, und zwar aus den von mir nun darzulegenden Gründen. |
B – Zur sachlichen Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1206/2001
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39. |
Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht insbesondere ersucht, ermöglicht zum Teil eine Äußerung zu der Frage, ob die beiden in ihm genannten Methoden der grenzüberschreitenden Beweiserhebung umfassend anzuwenden sind, d. h. in allen Fällen, in denen in Zivil- oder Handelssachen ein Auslandsbezug – wie vorliegend der Wohnsitz des Zeugen – das fragliche Beweismittel mit einem anderen Mitgliedstaat verbindet. |
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40. |
Durch die Angabe „wenn das Gericht eines Mitgliedstaats … ersucht“ ( 27 ) als einleitende Bedingung beschränkt der genannte Artikel meines Erachtens den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1206/2001 auf die beiden genau bestimmten Fälle, die er in der Folge nennt. Somit behält er ihre Anwendbarkeit den Fällen vor, in denen entweder die Zusammenarbeit eines Gerichts „eines anderen Mitgliedstaats“ nach Ansicht des Richters, der Beweis erheben möchte, erforderlich ist oder dieser Richter selbst „in einem anderen Mitgliedstaat“ Beweis erheben möchte. Dagegen hat die Verordnung nicht die Situation zu regeln, in der dieser Richter der Ansicht ist, dass er ein Beweismittel erheben kann – selbst wenn es in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist –, ohne den einen oder den anderen dieser beiden Zugangswege zu den Beweisen beschreiten zu müssen, d. h., ohne um das Tätigwerden der Justizbehörden des genannten Mitgliedstaats zu ersuchen und ohne sich in diesen Mitgliedstaat zu begeben. |
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41. |
Ebenso weisen der siebte und der fünfzehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1206/2001 darauf hin, dass sie es einem Gericht eines Mitgliedstaats ermöglichen soll, „in einem anderen Mitgliedstaat“ Beweis zu erheben und nicht im eigenen Land, wie das niederländische Gericht es im Ausgangsrechtsstreit durch Ladung des Zeugen vor dieses Gericht beabsichtigte. |
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42. |
Darüber hinaus möchte ich nach Vornahme einer teleologischen und nicht nur wörtlichen Auslegung hinzufügen, dass nach dem zweiten Erwägungsgrund der genannten Verordnung deren Ziel darin besteht, dass „die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten [der Mitgliedstaaten] auf dem Gebiet der Beweisaufnahme verbessert, insbesondere vereinfacht und beschleunigt werden [sollte]“; das Ziel wird im siebten Erwägungsgrund am Ende wiederholt. Auch der Titel der Verordnung Nr. 1206/2001 hebt hervor, dass deren Ziel einzig darin besteht, Mechanismen zur Erleichterung der „Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten“ einzuführen, und nicht darin, die in den Mitgliedstaaten geltenden Arten der Beweiserhebung durch Vereinheitlichung abzuschaffen. Wenn eine solche Zusammenarbeit nicht unerlässlich ist oder von einem Gericht nicht gewünscht wird, besteht meiner Ansicht nach kein Anlass, die Methoden der vereinfachten Rechtshilfe ( 28 ) anzuwenden, die durch diese Regelung eingeführt wurden, selbst wenn – wie im Ausgangsrechtsstreit – die Zeugen, die vorliegend auch Parteien sind, beantragen, dass sie zu ihren Gunsten angewandt werden. |
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43. |
Mit der Verordnung Nr. 1206/2001 wird nämlich nicht beabsichtigt, in das Amt des zuständigen Richters einzugreifen, indem seine Befugnis, die Leitung des Verfahrens in den Grenzen der für ihn geltenden Regeln des Völkerrechts, des Unionsrechts oder des nationalen Rechts zu gewährleisten, eingeschränkt würde, sondern sie verstärkt diese Befugnis und gibt ihr einen Rahmen, damit die Rechte der Parteien geschützt und die Vorrechte der anderen Mitgliedstaaten gewahrt werden. Meines Erachtens besteht der Zweck dieses Instruments darin, die grenzüberschreitende Tätigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten zu erleichtern, und nicht darin, diese Tätigkeit dadurch zu behindern, dass die den Gerichten zur Verfügung stehenden Mittel zur Beweiserhebung eingeschränkt würden. |
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44. |
Es liefe unmittelbar dem Geist der genannten Verordnung zuwider, wenn ihre zwingende Anwendung dazu führen würde, die Möglichkeiten der Beweiserhebung dadurch einzuschränken, dass einem Richter eines Mitgliedstaats die Befugnis genommen würde, auf alternative Methoden der Beweiserhebung dann zurückzugreifen, wenn dies seiner Ansicht nach den in der Verordnung Nr. 1206/2001 enthaltenen Instrumenten der grenzüberschreitenden gerichtlichen Zusammenarbeit vorzuziehen ist ( 29 ). |
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45. |
In dieser Hinsicht weise ich darauf hin, dass Art. 21 Abs. 2 der genannten Verordnung in Verbindung mit dem siebzehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung klarstellt, dass mit ihr nicht beabsichtigt ist, die Mitgliedstaaten daran zu hindern, dass zwei oder mehr von ihnen untereinander Übereinkünfte oder Vereinbarungen zur „weiteren“ ( 30 ) Vereinfachung der Zusammenarbeit im Bereich der Beweisaufnahme schließen oder beibehalten, sofern sie mit der Verordnung vereinbar sind. Dieser Vorbehalt zeigt, dass im Interesse größerer Wirksamkeit die Verfasser der Verordnung Nr. 1206/2001 das Konzept befürwortet haben, anderen Instrumenten auf diesem Gebiet einen Restanwendungsbereich zu belassen, wenn sich diese Instrumente in Anbetracht des Inhalts des Rechtsstreits als angemessener erweisen, was Garantien und konkrete Wirkungen angeht. |
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46. |
In der Praxis ist es möglich, dass die vom nationalen Recht vorgesehenen Untersuchungsmethoden genauso leistungsfähig oder sogar leistungsfähiger sind als die von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen. So geht aus dem Bericht der Kommission vom 5. Dezember 2007 ( 31 ), mit dem eine Bilanz der Anwendung der Verordnung Nr. 1206/2001 gezogen wird, hervor, dass nach der durchgeführten empirischen Studie ( 32 ) in einer Vielzahl von Fällen die Ersuchen um Beweiserhebung gemäß der genannten Verordnung innerhalb einer Frist ausgeführt wurden, die über der in Art. 10 Abs. 1 vorgesehenen Frist, nämlich 90 Tage nach Eingang des Ersuchens, lag und sich manchmal auf über 6 Monate erstreckte. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass es vorkommt, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats sich für eine Methode entscheidet, die keine zwischengeschaltete Stelle erfordert, wie die unmittelbare Ladung eines Zeugen vor dieses Gericht zur Aussage, um die Zügigkeit und somit die Effizienz des von ihm geleiteten Verfahrens zu gewährleisten. |
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47. |
Ich möchte klarstellen, dass die praktische Wirksamkeit der genannten Verordnung durch eine derartige Auslegung ihrer Bestimmungen nicht beeinträchtigt wird, da diese Verordnung nicht als Regelung für sämtliche Situationen, in denen sich ein Beweismittel in einem anderen Mitgliedstaat befindet, angelegt ist, sondern nur für die Situation, in der das Gericht, das den Beweis erheben möchte, feststellt, dass es die Hilfe der Behörden eines anderen Mitgliedstaats benötigt. Im letztgenannten Fall muss es eine Wahl treffen zwischen der mittelbaren Beweiserhebung, die den Nachteil aufweist, dass die ordnungsgemäße Durchführung der Beweiserhebung dem ersuchten Gericht überlassen werden muss und das zur Entscheidung berufene Gericht nicht selbst die Vernehmung des Zeugen vornimmt ( 33 ), und der unmittelbaren Beweiserhebung, die die Zustimmung des Mitgliedstaats erfordert, in dem sich die zu erhebenden Beweise befinden ( 34 ), und die dem Gericht die Möglichkeit der Anwendung von Zwangsmaßnahmen nimmt ( 35 ). Somit würde eine ausschließliche Anwendung der Verordnung Nr. 1206/2001 zumindest potenziell dazu führen, dass die Qualität der Vernehmung von Zeugen, die sich außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets befinden, manchmal im Vergleich zu der Situation, in der diese Verordnung nicht vorläge, schlechter ausfällt. Im Hinblick auf das Ziel der Verordnung, die Beweiserhebung zu erleichtern, kann dies nicht als zufriedenstellend angesehen werden. |
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48. |
In Anbetracht dessen hat meines Erachtens der europäische Gesetzgeber nicht die Absicht gehabt, die Anwendung der von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Methoden der justiziellen Zusammenarbeit systematisch vorzuschreiben, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats eine Beweiserhebung vornehmen möchte, die Verbindungen zu einem anderen Mitgliedstaat aufweist. Dies erscheint mir nur in dem – im Ausgangsrechtsstreit nicht vorliegenden – Fall obligatorisch, dass Beweis außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats des betroffenen Gerichts erhoben werden muss. Es erscheint mir in der Praxis zweckmäßig, dem genannten Gericht im Einzelfall die Beurteilung zu überlassen, welche Methode der Beweiserhebung – die des nationalen Rechts oder die des Unionsrechts – im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege die wirksamste ist, um die Beweise zu erheben, die es für die Entscheidung benötigt. |
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49. |
Nach dieser Darlegung der Gründe, aus denen ich ebenso wie die als Streithelfer auftretenden Mitgliedstaaten und die Kommission der Ansicht bin, dass die Anwendung der von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Methoden der Zusammenarbeit für das Gericht eines Mitgliedstaats, das die Vernehmung eines in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Zeugen durchführen möchte, nur dann geboten ist, wenn dieses Gericht es wünscht, dass er im letztgenannten Staat im Wege der einen oder der anderen der genannten Methoden vernommen wird, nicht aber, wenn es der Ansicht ist, dass es vorzuziehen wäre, dass er in das Hoheitsgebiet dieses Gerichts kommt, um ihn dort zu vernehmen, werde ich mich nun den konkreten Folgen der dem Gerichtshof hier vorgeschlagenen Auslegung hinsichtlich zweier besonderer Fälle zuwenden, die im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens angesprochen wurden. |
C – Zu zwei besonderen Problemen im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung
1. Vernehmung eines Zeugen, der die Aussage verweigert
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50. |
Nach dem Wortlaut seiner Vorabentscheidungsfrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht ausdrücklich um Aufschluss darüber, ob Zwangsmaßnahmen ( 36 ) oder nachteilige Maßnahmen ( 37 ) von einem Gericht eines Mitgliedstaats gegenüber einem Zeugen ergriffen werden dürfen, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und seiner Ladung vor Gericht nicht Folge leisten möchte. |
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51. |
Diese Problematik geht jedoch aus der Begründung des Vorlagebeschlusses hervor, da der Hoge Raad der Nederlanden klarstellt, dass seiner Ansicht nach die Verordnung Nr. 1206/2001 „der Annahme nicht entgegen[steht], dass ein niederländisches Gericht befugt ist, einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen zu laden, und sie … das Gericht auch nicht daran [hindert], bei Nichterscheinen des Zeugen die in seinem nationalen Prozessrecht vorgesehenen Maßnahmen zu treffen“ ( 38 ). |
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52. |
Vorab möchte ich feststellen, dass diese Problematik nicht der in der Praxis zweifellos häufigeren Situation entspricht, in der der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Zeuge spontan einwilligt, vor dem ladenden Gericht zu erscheinen, um seine Aussage zu machen. Da die Teilnahme an der Beweiserhebung dann freiwillig ist, besteht in diesem Fall kein Anlass, die in der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Mechanismen der justiziellen Zusammenarbeit anzuwenden. |
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53. |
Dennoch müssen zwei Fälle unterschieden werden, wenn sich ein Zeuge ohne triftigen Grund ( 39 ) weigert, von dem zuständigen Gericht vernommen zu werden, und das Gericht darauf beharrt, ihn vernehmen zu wollen. |
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54. |
Zum einen könnte das zuständige Gericht, wenn es – wie das niederländische Gericht dies im vorliegenden Ausgangsrechtsstreit zu tun wünschte – im Hoheitsgebiet des Staats seines Sitzes einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vernehmen möchte, in diesem Fall auf Zwangsmaßnahmen gegen den Betroffenen nur in den sich aus den Regeln des Völkerrechts ergebenden Grenzen zurückgreifen ( 40 ). Unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung gemachten Aussagen teilen meines Erachtens die als Streithelfer auftretenden Mitgliedstaaten alle den Standpunkt, wonach es nicht möglich ist, solche Maßnahmen gegen einen außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets befindlichen Zeugen anzuwenden, außer in Sonderfällen ( 41 ), in denen dies durch bilaterale oder multilaterale Übereinkommen erlaubt ist, die die beiden betroffenen Mitgliedstaaten binden. |
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55. |
Das Unionsrecht enthält nach seinem derzeitigen Stand keine Vorschriften, die diese Frage regeln. Allerdings begrenzen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie z. B. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. |
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56. |
Zum anderen wäre das letztgenannte Gericht, wenn die Vernehmung eines solchen Zeugen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Wohnsitzes stattfinden müsste, weil der Betroffene sich weigert, vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu erscheinen, das von der Vernehmung nicht absehen will, verpflichtet, auf eine der Arten der von der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Beweiserhebung, die eine unmittelbar, die andere mittelbar, zurückzugreifen, wie ich oben ausgeführt habe. |
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57. |
In dem Fall, dass das genannte Gericht diese Beweisaufnahme im Wege der sogenannten „unmittelbaren“ Methode selbst im Ausland vornehmen möchte, könnte es dies nach Art. 17 Abs. 2 der genannten Verordnung nur „auf freiwilliger Grundlage“ und „ohne Zwangsmaßnahmen“ tun, was ausschließt, dass der Zeuge zu dieser unmittelbaren Vernehmung gezwungen werden kann, es sei denn, es bestehen zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten Übereinkommen über die Zusammenarbeit. |
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58. |
In dem Fall dagegen, dass die Beweisaufnahme einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Zeuge wohnt, übertragen wird, erlaubt es Art. 13 dieser Verordnung, dass „das ersuchte Gericht bei der Erledigung des Ersuchens geeignete Zwangsmaßnahmen in den Fällen und in dem Umfang an[wendet], wie sie das Recht des Mitgliedstaats des ersuchten Gerichts für die Erledigung eines zum gleichen Zweck gestellten Ersuchens inländischer Behörden oder einer beteiligten Partei vorsieht“. Allerdings ist meines Erachtens die Entscheidung, eine vom vor Ort geltenden Recht erlaubte Zwangsmaßnahme gegen einen sich weigernden Zeugen anzuwenden, nicht Sache des in der Hauptsache angerufenen Gerichts, sondern des ersuchten Gerichts, das beurteilen muss, ob dies „erforderlich“ ist im Sinne des genannten Art. 13 am Anfang ( 42 ). Da außerdem die Weigerung, diese Zwangsregelung anzuwenden, mit keiner Sanktion bewehrt ist, bleibt sie wahrscheinlich ohne konkrete Auswirkung, was eine der Grenzen des von der Verordnung Nr. 1206/2001 eingerichteten Systems aufzeigt. |
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59. |
Ein ganz besonderer Fall der Zeugenvernehmung liegt dann vor, wenn – wie im Ausgangsrechtsstreit – die betroffene Person auch Partei des Hauptsacheverfahrens ist. |
2. Vernehmung eines Zeugen, der auch Partei ist
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60. |
Gemäß den Fragen, die der Gerichtshof den Streithelfern gestellt hat, wollte er beurteilen, ob es für die Beantwortung der Vorlagefrage darauf ankommt, ob der Zeuge Partei des Rechtsstreits oder Dritter in Bezug auf diesen ist. |
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61. |
In dieser Hinsicht wurden die Mitgliedstaaten, die mündliche Erklärungen abgegeben haben, um Klarstellung gebeten, ob die Einführung einer solchen Unterscheidung in die Antwort auf die Vorlagefrage sich auf die nationalen Verfahrensregeln auswirken würde, die in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten gelten. |
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62. |
Meines Erachtens ist es für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht erforderlich, sich zu diesem Punkt zu äußern, da das vorlegende Gericht ein dahin gehendes Ersuchen nicht, auch nicht stillschweigend, formuliert hat. Da jedoch die Parteien des Ausgangsrechtsstreits und die als Streithelfer auftretenden Mitgliedstaaten aufgefordert worden sind, dies in der mündlichen Verhandlung zu erörtern, möchte ich hierzu einige Ausführungen machen. |
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63. |
Ich weise darauf hin, dass die Verordnung Nr. 1206/2001 keine unterschiedliche Behandlung der als Zeugen vernommenen Personen vorsieht, je nachdem, ob sie Parteien des Hauptsacheverfahrens sind oder nicht. In Art. 11 dieser Verordnung werden lediglich im Rahmen der mittelbaren Beweisaufnahme die etwaige Anwesenheit und Beteiligung einer Partei – in Person oder durch einen Vertreter – erwähnt, wenn das ersuchte Gericht eine Beweisaufnahme, wie die Vernehmung eines Zeugen, vornimmt, wobei darauf hinzuweisen ist, dass diese Person ein Dritter oder die gegnerische Partei sein könnte, da diese Vorschrift in dieser Hinsicht keine Unterscheidung vornimmt. |
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64. |
In dem Fall, dass der zu vernehmende Zeuge Partei des Rechtsstreits ist und bereit ist, vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu diesem Zweck zu erscheinen, ist meiner Ansicht nach die Verordnung Nr. 1206/2001 nicht anzuwenden und kann die Vernehmung stattfinden, wenn die lex fori dies erlaubt. Im Fall der Weigerung eines solchen Zeugen, im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem das nationale Gericht seinen Sitz hat, vor Gericht zu erscheinen, oder im Fall seines Nichterscheinens vor diesem Gericht ist es ebenfalls Sache des nationalen Rechts, die konkreten Konsequenzen zu bestimmen, die das betroffene Gericht aus einem solchen Verhalten ziehen kann, wenn dieses Recht die Vernehmung einer Partei als Zeugen erlaubt. |
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65. |
Ich weise darauf hin, dass aus völkerrechtlicher Sicht die Rechtslage eines Zeugen, der auch Partei ist, sich von der eines Zeugen, der nicht Partei ist, unterscheidet, da die internationale Zuständigkeit des betroffenen Gerichts dessen Gerichtsgewalt und somit seine Befugnis erweitert, Zwangsmaßnahmen wie z. B. Zwangsgelder ( 43 ) gegen Parteien des Rechtsstreits zu ergreifen, selbst wenn sie im Ausland wohnen, was in Bezug auf die anderen Zeugen nicht der Fall ist. |
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66. |
In dem Fall dagegen, dass das genannte Gericht die Vernehmung einer Partei als Zeugen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des Wohnsitzes dieser Person in der Weise erwirken möchte, dass es diese selbst vernimmt oder sie durch ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats vernehmen lässt, wäre es erforderlich, einen der beiden in der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Kooperationsmechanismen anzuwenden, um eine grenzüberschreitende Beweiserhebung – gegebenenfalls mit Hilfe der nach Art. 13 dieser Verordnung zulässigen Zwangsmaßnahmen – durchzuführen, ebenso wie wenn dieser Zeuge in Bezug auf diesen Rechtsstreit ein Dritter wäre. |
V – Ergebnis
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67. |
Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Hoge Raad der Nederlanden vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten: Die Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1, ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, das einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen zu einem Rechtsstreit auf diesem Gebiet vernehmen will, nur dann zur Anwendung der von dieser Verordnung vorgesehenen Methoden der vereinfachten Rechtshilfe verpflichtet ist, wenn es beschließt, eine solche Beweiserhebung dadurch vorzunehmen, dass es entweder um die Mitwirkung des zuständigen Gerichts dieses anderen Mitgliedstaats oder um die Genehmigung, unmittelbar in dessen Hoheitsgebiet Beweis zu erheben, ersucht. Wenn dagegen wie im Ausgangsrechtsstreit ein Gericht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, einen in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Zeugen vernehmen möchte, kann es von den in seinem eigenen nationalen Prozessrecht vorgesehenen Methoden, wie z. B. der Ladung des Zeugen vor dieses Gericht, Gebrauch machen, sofern es diese Methoden in dem ihm vorliegenden Fall als hinreichend wirksam erachtet. |
( 1 ) Originalsprache: Französisch.
( 2 ) ABl. L 174, S. 1.
( 3 ) In den vorliegenden Schlussanträgen verweist der Begriff „Mitgliedstaat“ auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, mit Ausnahme des Königreichs Dänemark, im Einklang mit Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1206/2001.
( 4 ) ABl. L 160, S. 37.
( 5 ) Ich weise darauf hin, dass der Vorlagebeschluss nur Art. 176 Abs.1 WBR in der Fassung des Gesetzes vom 26. Mai 2004 (Stb. 2004, Nr. 258) wörtlich übernimmt und dass die übrigen der oben wiedergegebenen Auszüge aus dem WBR den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen in niederländischer Sprache entnommen sind, deren Übersetzung nicht amtlich ist.
( 6 ) Hendrikus Cornelis Kortekaas, Kortekaas Entertainment Marketing BV, Kortekaas Pensioen BV, Dirk Robbard De Kat, Johannes Hendrikus Visch, Euphemia Joanna Bökkerink und Laminco GLD N-A.
( 7 ) Die Fortis NV wurde während des Ausgangsverfahrens in die Ageas NV umbenannt.
( 8 ) Maurice Robert Josse Marie Ghislain Lippens, Gilbert Georges Henri Mittler und Jean Paul François Caroline Votron.
( 9 ) Dieser fünfte Erwägungsgrund enthält die standardmäßige Bezugnahme auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 3 EU.
( 10 ) Vgl. den sechsten Erwägungsgrund und Art. 21 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001.
( 11 ) Das vorlegende Gericht führt das Urteil vom 15. Juni 1987, Aérospatiale (ILM 1987, S. 1021-1045; 482 U.S. 522, 1987), an, in dem das genannte Gericht entschieden habe, dass dieses Übereinkommen Verfahren zur Erhebung von Beweisen in einem anderen Unterzeichnerstaat vorsehe, die für die amerikanischen Gerichte nicht ausschließlich und obligatorisch seien, sondern optional.
( 12 ) Das vorlegende Gericht bezieht sich auf Randnr. 23 des Urteils vom 28. April 2005, St. Paul Dairy (C-104/03, Slg. 2005, I-3481). Ich weise hier schon darauf hin, dass das genannte Urteil nicht die Auslegung der Verordnung Nr. 1206/2001 betrifft, sondern die des am 27. September 1968 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch die Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten geänderten Fassung (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen).
( 13 ) Siebter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1206/2001.
( 14 ) Nach ihrem Art. 1 Abs. 2 findet diese Verordnung nämlich sowohl auf gerichtliche Verfahren Anwendung, die bereits in der Hauptsache eingeleitet wurden, wie im vorliegenden Ausgangsverfahren, als auch auf diejenigen, die lediglich zu eröffnen sind.
( 15 ) Vgl. Nrn. 40 ff. der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache, in der der Beschluss vom 27. September 2007, Tedesco (C-175/06, Slg. 2007, I-7929), ergangen ist.
( 16 ) Art. 4 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung Nr. 1206/2001 nennt ausdrücklich die „Vernehmung einer Person“, was eine Formulierung ist, die hinreichend weit ist, um die Vernehmung eines Zeugen abzudecken, der auch Partei des Hauptsacheverfahrens ist. Nach Nr. 8 des Praktischen Leitfadens für die Anwendung der Verordnung über die Beweisaufnahme, der von den Kommissionsdienststellen in Absprache mit dem Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen erstellt wurde (im Folgenden: Praktischer Leitfaden; im Internet verfügbar unter der folgenden Adresse: http://ec.europa.eu/civiljustice/evidence/evidence_ec_guide_de.pdf), „[umfasst] [d]er Begriff ‚Beweis‘ … beispielsweise die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen oder die Anhörung der Parteien, die Prüfung von Schriftstücken, die Ermittlung des Sachverhalts, Nachprüfungen oder auch Sachverständigengutachten zur Familien- oder Kinderfürsorge“.
( 17 ) Vgl. zweiter Erwägungsgrund der genannten Verordnung.
( 18 ) Vgl. die Definitionen in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001.
( 19 ) Art. 17 Abs. 3 der genannten Verordnung erlaubt es, dass das ersuchende Gericht einen Gerichtsangehörigen oder eine andere Person bestimmt, z. B. einen Sachverständigen oder nach dem Praktischen Leitfaden sogar einen Beamten des konsularischen oder diplomatischen Dienstes oder einen Bevollmächtigten, nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört.
( 20 ) Zu den Befugnissen der Zentralstelle und/oder der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats, in dem die Beweise zu erheben sind, vgl. Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1206/2001.
( 21 ) Ich werde später (vgl. Nr. 50) auf den Inhalt dieser beiden Begriffe zurückkommen.
( 22 ) Oben genanntes Urteil, in dessen Randnr. 23 es heißt:
„Darüber hinaus könnte ein Antrag auf Zeugenvernehmung unter Umständen wie denjenigen des Ausgangsverfahrens als ein Mittel dazu verwendet werden, sich den Regeln zu entziehen, die unter den gleichen Garantien und mit den gleichen Wirkungen für alle Rechtsbürger für die Übermittlung und die Erledigung der Ersuchen eines Gerichts eines Mitgliedstaats um Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat gelten (vgl. Verordnung [Nr. 1206/2001]).“
( 23 ) Urteil vom 22. Dezember 2010 (C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247) zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Brüssel-IIa-Verordnung). Randnr. 67 dieses Urteils ist zu entnehmen, dass, wenn ein Mitgliedstaat beschließt, ein Kind zu vernehmen, er im Rahmen des Möglichen und unter Berücksichtigung des Kindeswohls „auf alle ihm nach seinem nationalen Recht zur Verfügung stehenden Mittel sowie auf die der grenzüberschreitenden gerichtlichen Zusammenarbeit eigenen Instrumente zurückgreifen [muss], zu denen gegebenenfalls die in der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Mittel gehören“.
( 24 ) Im Gegensatz zur Verordnung Nr. 1206/2001 zielen das Brüsseler Übereinkommen und die Brüssel-IIa-Verordnung auf eine Vereinheitlichung der in ihren jeweiligen Anwendungsbereich fallenden Vorschriften der Mitgliedstaaten ab, indem sie die Restgeltung nationaler Vorschriften ausdrücklich verbieten, insbesondere derjenigen über die grenzüberschreitende Zuständigkeit (vgl. Art. 3 des genannten Übereinkommens und Art. 6 der Brüssel-IIa-Verordnung). Außerdem erfasst die Verordnung Nr. 1206/2001 Verfahren, die zu Sachgebieten gehören, die von diesen Instrumenten ausgeschlossen sind (vgl. Titel 1 des genannten Übereinkommens und Art. 1 Abs. 3 der Brüssel-IIa-Verordnung).
( 25 ) Ich weise darauf hin, dass die genannte Rechtssache Tedesco, in deren Rahmen der Gerichtshof zum ersten Mal um die Auslegung der Verordnung Nr. 1206/2001 ersucht worden war, zu einem Streichungsbeschluss geführt hat.
( 26 ) Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński (C-283/09, Slg. 2011, I-601), zur Auslegung der Art. 14 und 18 der genannten Verordnung, das zwar die Zeugenvernehmung betrifft, in dem aber lediglich für Recht erkannt wird, dass ein ersuchendes Gericht nicht verpflichtet ist, dem ersuchten Gericht einen Vorschuss für die Entschädigung eines Zeugen zu zahlen oder diese Entschädigung zu erstatten.
( 27 ) Hervorhebungen nur hier. Diese Formulierung war schon im ursprünglichen Entwurf der Verordnung Nr. 1206/2001 enthalten (vgl. Vorarbeiten, Initiative der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen [2000/C 314/01]).
( 28 ) Auch die Generalanwältin Kokott hat in Nr. 43 ihrer Schlussanträge in der oben genannten Rechtssache Tedesco das von der Verordnung Nr. 1206/2001 eingeführte System als „vereinfachte[n] Rechtshilfemechanismus“ eingestuft.
( 29 ) Dieser Standpunkt ist mit dem Standpunkt vergleichbar, der vom Gerichtshof in Randnr. 67 des Urteils Aguirre Zarraga vertreten wurde.
( 30 ) Diese Klarstellung war im ursprünglichen Entwurf der genannten Verordnung nicht enthalten.
( 31 ) Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Anwendung der Verordnung Nr. 1206/2001 (KOM[2007] 769 endg., Ziff. 2.1). Die Kommission stellt fest, dass „[d]ie Verordnung … die Beweisaufnahme vereinfacht und beschleunigt [hat] …, wenn auch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erhebliche Unterschiede festzustellen sind“ (Ziff. 2.12).
( 32 ) Studie über die Anwendung der Verordnung Nr. 1206/2001, auf Anfrage der Kommission erstellt bei über 11000 Fachleuten der 24 Staaten, in denen diese Verordnung anwendbar ist; die Bilanz des Jahres 2007 ist unter folgender Adresse verfügbar: http://ec.europa.eu/civiljustice/publications/docs/final_report_ec_1206_2001_a_09032007.pdf.
( 33 ) Die zu stellenden Fragen werden grundsätzlich vom ersuchenden Gericht in seinem Ersuchen um Beweisaufnahme gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001 formuliert. Ferner darf ein Beauftragter dieses Gerichts zwar gemäß Art. 12 Abs. 1 der genannten Verordnung anwesend sein. Allerdings darf er nur eingreifen, um den Zeugen selbst interaktiv und ohne Unterbrechung zu befragen, wenn das ersuchte Gericht zustimmt (vgl. Praktischer Leitfaden, Nrn. 14 und 57).
( 34 ) Es trifft zu, dass die Ablehnungsgründe gemäß Art. 17 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1206/2001 begrenzt sind. Aber auch wenn die unmittelbare Beweiserhebung zugelassen wird, ist es möglich, dass ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats die Vernehmung des Zeugen kontrolliert und in deren Verlauf gemäß Abs. 4 Unterabs. 2 des genannten Artikels einschreitet.
( 35 ) Aus der genannten Studie über die Anwendung der Verordnung Nr. 1206/2001 geht hervor, dass die fehlende Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen in diesem Rahmen anzuwenden, in der Praxis die Zahl der Fälle, in denen diese Methode zweckdienlich ist, erheblich einschränken könnte (S. 95, N. 4.1.11.1.2).
( 36 ) Um eine Person zur Aussage zu zwingen, könnte ein Zivil- oder Handelsgericht auf finanzielle Druckmittel (Zwangsgeld oder andere Strafen) zurückgreifen oder sogar Gewahrsamsmaßnahmen ergreifen, wenn sie nach der lex fori zulässig sind.
( 37 ) Das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasste Gericht kann aus der Weigerung einer Person, als Zeuge auszusagen, den Schluss ziehen, dass die Tatsachen, über die sie auszusagen hätte, nicht dargetan sind, was der Partei zum Nachteil gereichen wird, der diese Zeugenaussage von Nutzen hätte sein sollen.
( 38 ) Vgl. im niederländischen Recht Art. 164 Abs. 3 WBR.
( 39 ) Ich schließe die in Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001 vorgesehenen Fälle aus, in denen für eine Person ein Aussageverbot gilt oder eine Person ein Recht zur Aussageverweigerung hat, entweder kraft Gesetzes (z. B. gegen den Ehegatten) oder aufgrund höherer Gewalt (wie z. B. ein Gesundheitszustand, der sie transportunfähig macht).
( 40 ) Vgl. Nrn. 19 ff. der Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 25. Mai 1988 in den verbundenen Rechtssachen, in denen das Urteil vom 27. September 1988, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission (89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85 und 125/85 bis 129/85, Slg. 1988, 5193, Randnr. 18), ergangen ist.
( 41 ) So hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass ein deutsches Gericht einem im Ausland wohnenden deutschen Staatsangehörigen sämtliche von seinem nationalen Recht vorgesehenen Pflichten und Maßnahmen auferlegen kann. Ihren Ausführungen nach folgt dies aus der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaats über seine Staatsangehörigen, da die aus der Staatsangehörigkeit folgende persönliche Verbindung auch dann fortbestehe, wenn eine Person im Ausland wohne. Ferner könne ein deutsches Gericht, das einen solchen Staatsangehörigen geladen habe, ihm für den Fall des Nichterscheinens Zwangsmaßnahmen androhen und bei Nichtvorliegen eines Rechtfertigungsgrundes für das Nichterscheinen gegen ihn ein Zwangsgeld oder sogar eine Gefängnisstrafe verhängen, wobei klarzustellen ist, dass der Vollzug dieser Zwangsmaßnahmen nur im deutschen Hoheitsgebiet stattfinden würde.
( 42 ) Dennoch dürfte – wie bei der Ablehnung eines Ersuchens um Beweiserhebung – die Weigerung, eine Zwangsmaßnahme durchzuführen, ein Ausnahmefall bleiben, da der Zweck der Verordnung Nr. 1206/2001 darin besteht, die Erhebung von Beweisen von einem Mitgliedstaat aus in einen anderen zu erleichtern.
( 43 ) Allerdings kann ein in Zivil- oder Handelssachen entscheidendes Gericht im Sinne der Verordnung Nr. 1206/2001 keine hoheitlichen Befugnisse außerhalb des Mitgliedstaats, dem es angehört, ausüben, indem es tatsächliche Handlungen ausführt, die die Anwendung staatlichen Zwangs erfordern, wie z. B. die Vorführung einer in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Partei im Wege polizeilicher Staatsgewalt, um sie zur Zeugenaussage vor diesem Gericht zu zwingen.