SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 18. April 2013 ( 1 )

Rechtssache C‑4/11

Bundesrepublik Deutschland

gegen

Kaveh Puid

(Vorabentscheidungsersuchen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs [Deutschland])

„Gemeinsames Europäisches Asylsystem — Verfahren zu seiner gerichtlichen Durchsetzung — Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates — Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrags zuständig ist — Art. 3 Abs. 2 — Rechte der Asylbewerber — Außergewöhnliche Situationen im Sinne des Urteils N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10) — Art. 19 Abs. 2 — Aussetzung der Überstellung von Asylbewerbern“

I – Einführung

1.

Die Union hat sowohl die Verfahren ( 2 ) als auch die materiell-rechtlichen Vorschriften des Flüchtlingsrechts harmonisiert ( 3 ), wodurch sie einen vollständigen Korpus von Rechtsvorschriften im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geschaffen hat. Grundlage ist die Beachtung der einschlägigen völkerrechtlichen Vorschriften einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung. Im Rahmen des Systems ist die Prüfung eines Asylantrags einem einzigen Mitgliedstaat vorbehalten und die Überstellung des Asylbewerbers an den für die Bearbeitung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen, falls Asyl anderenorts in der Union begehrt wird. Die Bestimmung dieses für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats erfolgt nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist ( 4 ).

2.

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen soll die Rechtsstellung von Asylbewerbern geklärt werden, die einen Asylantrag in einem anderen als dem Mitgliedstaat der ersten Einreise in die Union stellen, deren Überstellung an den Mitgliedstaat der ersten Einreise aber aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat ausgeschlossen ist.

3.

Die vorliegende Rechtssache knüpft an das Urteil des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905), an. Danach gilt keine unwiderlegbare Vermutung, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet ( 5 ). Der Gerichtshof wird jetzt im Wesentlichen um eine Entscheidung über die Konsequenzen dieser Feststellung für die Anwendung der sogenannten Souveränitätsklausel nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung ersucht.

4.

Im Urteil N. S. u. a. hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass es Art. 4 der Grundrechtecharta den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte – trotz ihrer grundsätzlich bestehenden diesbezüglichen Berechtigung – verwehrt, einen Asylbewerber in den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen „nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden“ ( 6 ) (Hervorhebung nur hier).

5.

Im vorliegenden Fall fragt der Hessische Verwaltungsgerichtshof, ob dem Asylbewerber gegen einen Mitgliedstaat ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Prüfung seines Antrags zusteht, weil dieser Mitgliedstaat in einer Situation, die mit der im Urteil N. S. u. a. beschriebenen vergleichbar ist, zur Ausübung des Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet ist. So lautet die vierte von insgesamt vier Fragen, die der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit seinem Vorlagebeschluss eingereicht hatte und von denen er die drei anderen nach Erlass des Urteils N. S. u. a. zurückgenommen hat. Diese drei Fragen betrafen die Konsequenzen, die sich aus dem Vorliegen der vorstehend in Nr. 4 dargestellten Umstände für die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 ergeben.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Völkerrecht

6.

Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) ( 7 ) bestimmt in seinem Abs. 1:

„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“

B – Unionsrecht

Verordnung Nr. 343/2003

7.

In den Erwägungsgründen 3, 4, 12 und 15 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„(3)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates] von Tampere sollte dieses [Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(4)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.

(12)

In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Verpflichtungen der völkerrechtlichen Instrumente einzuhalten, bei denen sie Vertragsparteien sind.

(15)

Die Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union … anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.“

8.

Art. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen.“

9.

Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.

(3)   Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Asylbewerber nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften unter Wahrung der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention in einen Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“

10.

Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 umfasst zehn Artikel, in denen die Kriterien zur Bestimmung des für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats in einer bestimmten Rangfolge aufgeführt sind. Der zu Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 gehörende Art. 5 lautet:

„(1)   Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2)   Bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.“

11.

Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

„(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.“

12.

Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor:

„Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“

13.

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:

„Jeder Mitgliedstaat kann aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. In diesem Fall prüft jener Mitgliedstaat auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats den Asylantrag der betroffenen Person. Die betroffenen Personen müssen dem zustimmen.“

14.

In Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:

b)

die Prüfung des Asylantrags abzuschließen;

…“

15.

In Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen.

…“

16.

Art. 19 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:

„(1)   Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.

(2)   Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.“

17.

Art. 13 der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

18.

Art. 25 der Richtlinie 2005/85 legt in seinem Abs. 1 fest:

„Unzulässige Anträge

(1)   Zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling im Sinne der der Richtlinie 2004/83/EG anzuerkennen ist, wenn ein Antrag gemäß dem vorliegenden Artikel als unzulässig betrachtet wird.“

19.

In Art. 39 der Richtlinie 2005/85 heißt es in Abs. 1 und 2:

„Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf

(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal haben gegen

a)

eine Entscheidung über ihren Asylantrag, einschließlich einer Entscheidung:

i)

den Antrag nach Artikel 25 Absatz 2 als unzulässig zu betrachten;

(2)   Die Mitgliedstaaten legen Fristen und sonstige Vorschriften fest, die erforderlich sind, damit der Antragsteller sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.“

C – Nationale Rechtsvorschriften

20.

Art. 16a Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) sieht Folgendes vor:

„(1)   Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2)   Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.“

III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

21.

Herr Kaveh Puid (im Folgenden: Asylsuchender) ist iranischer Staatsangehöriger, der am 20. Oktober 2007 auf dem Luftweg von Teheran nach Athen reiste. Nachdem er sich dort vier Tage lang aufgehalten hatte, reiste er weiter nach Frankfurt am Main. Dort gab er sich bei der Einreisekontrolle als Asylsuchender zu erkennen und wurde zur Sicherung der Zurückschiebung in Haft genommen. Beide Reiseabschnitte hatte er mit gefälschten Reisedokumenten zurückgelegt.

22.

Am 15. November 2007 beantragte der Asylsuchende beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main u. a., die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, ihm die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten und ihn an die Einrichtung weiterzuleiten, die befugt ist, die Bundesrepublik Deutschland als zuständigen Mitgliedstaat gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu erklären. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main gab der Bundesrepublik Deutschland auf, dem zuständigen Bundespolizeiamt am Flughafen Frankfurt am Main mitzuteilen, dass eine Zurückweisung des Asylsuchenden nach Griechenland vorläufig und bis längstens zum 16. Januar 2008 nicht durchgeführt werden darf.

23.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) stellte mit Bescheid vom 14. Dezember 2007 fest, dass der Asylantrag unzulässig sei, und ordnete die Abschiebung des Asylsuchenden nach Griechenland an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass aufgrund der Verfristung nach Art. 17 Abs. 2 und Art. 18 Abs. 4 und 7 der Verordnung Nr. 343/2003 Griechenland gemäß der Verordnung für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei und dass außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben, nicht ersichtlich seien. Bei Griechenland handele es sich um einen sicheren Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 GG. Die für die Überprüfung der Einhaltung der Mindeststandards zuständige Europäische Kommission habe die Mitgliedstaaten bislang nicht aufgefordert, von Überstellungen nach Griechenland abzusehen. Demzufolge wurde der Asylsuchende am 23. Januar 2008 nach Athen zurückgeschoben.

24.

Bereits am 25. Dezember 2007 hatte der Asylsuchende jedoch beim Verwaltungsgericht Klage mit dem Antrag erhoben, den Bescheid des Bundesamts vom 14. Dezember 2007 aufzuheben und die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, sich nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 für seinen Asylantrag für zuständig zu erklären.

25.

Für die mündliche Verhandlung in dieser Rechtssache ordnete das Verwaltungsgericht das persönliche Erscheinen des Asylsuchenden an. Mit Rücksicht hierauf wurde es ihm ermöglicht, wieder nach Deutschland einzureisen.

26.

Das Verwaltungsgericht hob mit Urteil vom 8. Juli 2009 den Bescheid des Bundesamts vom 14. Dezember 2007 auf und stellte fest, dass die Vollziehung der gegen den Asylsuchenden ergangenen Abschiebungsanordnung in dem Bescheid rechtswidrig gewesen sei. Das Bundesamt wurde verpflichtet, die Folgen des Vollzugs der Abschiebungsanordnung vom 14. Dezember 2007 rückgängig zu machen.

27.

Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, das Bundesamt sei zur Übernahme der Zuständigkeit für das Asylverfahren durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet. Das dem Bundesamt insoweit zustehende Ermessen sei auf null reduziert, nachdem sich ergeben habe, dass in Griechenland die Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern und zur Durchführung des Asylverfahrens nicht eingehalten würden und der Asylsuchende in Bezug auf seine Verfahrensrechte und die Aufnahmebedingungen während seines Aufenthalts in Griechenland schwerwiegende Beeinträchtigungen habe hinnehmen müssen, die gegen den Wesenskern und den Inhalt der betreffenden Richtlinien verstießen. Ferner verpflichtete das Verwaltungsgericht das Bundesamt, dem Kläger eine vorläufige Aufenthaltsgestattung bis zur Rechtskraft des Urteils auszustellen.

28.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wurde Rechtsmittel beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof mit der Begründung eingelegt, die dem Urteil zugrunde liegende Rechtsansicht, dass Deutschland das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auszuüben habe, überzeuge nicht. Die Bundesrepublik, vertreten durch das Bundesamt, machte u. a. geltend, über schwerwiegende Verstöße gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte hinaus sei der Umstand, dass der zuständige Mitgliedstaat die für die Aufnahme von Asylbewerbern und den Mindeststandard für das Asylverfahren erlassenen Richtlinien nicht einhalte, im Rahmen der Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nicht zu berücksichtigen. Das Vorliegen von Mängeln etwa bei der Unterbringung oder Versorgung von Asylbewerbern beseitige die Zuständigkeit des Mitgliedstaats für die Durchführung des Verfahrens nicht. Andernfalls müsste den Betroffenen letztlich in jedem der von ihnen bereisten Staaten ein Recht auf Übernahme zustehen.

29.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hielt es für erforderlich, dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, und erließ einen entsprechenden Beschluss vom 22. Dezember 2010. In der Folgezeit erfolgte eine Rücknahme der ersten drei Fragen, weil sie der Sache nach im Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., beantwortet worden waren.

30.

Ferner hob das Bundesamt mit Bescheid vom 20. Januar 2011 seinen Bescheid vom 14. Dezember 2007 auf und übte seine Berechtigung zur Prüfung des Antrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 aus. Mit Bescheid vom 18. Mai 2011 wies das Bundesamt den nach Art. 16a GG gestellten Asylantrag des Asylsuchenden zurück, erkannte ihm aber die Flüchtlingseigenschaft zu.

31.

Nach Ansicht des nationalen Gerichts ist das Vorabentscheidungsersuchen nicht gegenstandslos geworden, da der Asylsuchende ungeachtet der vorstehend dargestellten Vorgänge nach deutschem Recht ein rechtliches Interesse daran habe, die Rechtmäßigkeit des vom Bundesamt erlassenen Bescheids vom 14. Dezember 2007 durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof überprüfen zu lassen. Er sei nämlich aufgrund seiner Zurückschiebung nach Griechenland rechtswidrig in Zurückweisungshaft genommen worden, habe inzwischen die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 14. Dezember 2007 beantragt und mache Schadensersatz geltend.

32.

Des Weiteren hat das nationale Gericht mitgeteilt, dass hinsichtlich der Beantwortung der verbleibenden vierten Vorlagefrage weiterhin unterschiedliche Rechtsmeinungen vertreten würden. Die Frage ist wie folgt formuliert:

Resultiert aus der Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Ausübung der Berechtigung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ein durchsetzbarer subjektiver Anspruch des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintritts gegenüber diesem Mitgliedstaat?

33.

Zu den ursprünglichen vier Fragen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs sind schriftliche Erklärungen von Herrn Puid, Deutschland, Belgien, Irland, Griechenland, Frankreich, Italien, Polen, dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, der Schweiz sowie der Kommission eingereicht worden. Italien hat sich in diesem Rahmen nicht zur vierten Frage geäußert, Belgien ist nicht direkt auf sie eingegangen. An der mündlichen Verhandlung vom 22. Januar 2013 haben die Prozessbevollmächtigte von Herrn Puid sowie die Bevollmächtigten Irlands, Griechenlands und der Kommission teilgenommen.

IV – Würdigung

A – Vorbemerkungen

1. Hintergrund des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems

34.

Auf seiner Tagung in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989 setzte der Europäische Rat als Ziel die Harmonisierung der Asylpolitiken der Mitgliedstaaten.

35.

Die Mitgliedstaaten unterzeichneten am 15. Juni 1990 in Dublin das Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (im Folgenden: Dubliner Übereinkommen) ( 8 ).

36.

Im Vertrag von Maastricht wurde in Art. K.1 Nr. 1 die Asylpolitik zu einer Angelegenheit von gemeinsamem Interesse erklärt. Nach Maßgabe des durch den Vertrag von Amsterdam erlassenen Art. 63 EG war der Rat u. a. verpflichtet, innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention Maßnahmen zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat, Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern, Mindestnormen für die Anerkennung von Staatsangehörigen dritter Länder als Flüchtlinge sowie Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu beschließen. Diese Bestimmung findet sich jetzt in Art. 78 AEUV.

37.

Der Europäische Rat sah auf seiner Tagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 die Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor. Dieses System wurde u. a. durch die Verordnung Nr. 343/2003 zur Ersetzung des Dubliner Übereinkommens sowie die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 umgesetzt.

38.

Nach Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 78 AEUV wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet. Gemäß Art. 4 der Charta darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Art. 19 Abs. 2 der Charta verbietet die Abschiebung oder Ausweisung in einen Staat oder die Auslieferung an einen Staat, in dem das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. Art. 47 der Charta gewährleistet jeder Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht.

2. Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil N. S. u. a.

39.

Ich halte es für zweckmäßig, vor Eintritt in die Prüfung der verbliebenen Vorlagefrage zunächst kurz die Problemkreise zusammenzufassen, mit denen sich der Gerichtshof im Urteil N. S. u. a. auseinandergesetzt hat. In dieser Rechtssache ging es um folgende Fragenkomplexe, die für den vorliegenden Fall von Belang sind.

40.

Der vom Gerichtshof geprüfte Sachverhalt war ähnlich gelagert wie derjenige des jetzigen Ausgangsverfahrens. N. S., ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das Vereinigte Königreich und beantragte am selben Tag Asyl. Vor seiner Ankunft im Vereinigten Königreich hatte ihn sein Weg durch mehrere europäische Länder, darunter Griechenland geführt, wo er keinen Asylantrag gestellt hatte, aber vier Tage lang festgehalten worden war. Der Secretary of State for the Home Department richtete an Griechenland ein Gesuch um Aufnahme von N. S. zwecks Prüfung von dessen Asylantrag. Griechenland antwortete nicht, so dass davon ausgegangen wurde, dass es die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags von N. S. anerkannt hatte.

41.

N. S. widersetzte sich seiner Überstellung an Griechenland mit der Begründung, dass die Gefahr einer Verletzung der ihm durch das Unionsrecht, die Europäische Menschenrechtskonvention und/oder die Genfer Flüchtlingskonvention verliehenen Grundrechte bestehe, wenn er nach Griechenland rückgeführt würde. Der Rechtsstreit gelangte vor den Court of Appeal im Vereinigten Königreich, der dem Gerichtshof sieben Fragen zur Vorabentscheidung vorlegte.

42.

Wie erwähnt, hat der Gerichtshof entschieden, dass das Unionsrecht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, wonach der zuständige Mitgliedstaat, an den ein Mitgliedstaat einen Asylbewerber überstellen will, die Unionsgrundrechte des Asylbewerbers beachtet.

43.

Zur Begründung hat der Gerichtshof u. a. ausgeführt, dass „[d]as Gemeinsame Europäische Asylsystem … sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung [stützt], dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist“, und dass „[d]ie Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967 … in Art. 18 der Charta und in Art. 78 AEUV geregelt [ist]“ ( 9 ). Im Weiteren hat der Gerichtshof festgestellt, dass, „[f]alls … ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, … die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar [wäre]“ ( 10 ).

44.

Dies gelte dann, wenn dem Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befinde, „nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden“ ( 11 ).

45.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass einem Mitgliedstaat, der sich in einer solchen Situation befindet und bei dem dieser Kenntnisstand gegeben ist, weitere Pflichten obliegen. Diese lauten wie folgt:

„Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.“ ( 12 )

3. Vorlagefrage des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs

46.

Hinsichtlich der Vorlagefrage bedarf es zunächst einer gewissen Erklärung. Es besteht nämlich ein Zusammenhang zwischen der verbliebenen Vorlagefrage und den drei zurückgenommenen Vorlagefragen, insbesondere der dritten, die wie folgt formuliert war:

Besteht eine Pflicht des Mitgliedstaats zur Ausübung der Berechtigung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 343/2003 mit Blick auf die oben genannten Verbürgungen der Charta jedenfalls dann, wenn im zuständigen Mitgliedstaat besonders schwerwiegende, die Verfahrensgarantien für Asylbewerber grundsätzlich in Frage stellende oder die Existenz oder die körperliche Unversehrtheit der überstellten Asylantragsteller bedrohende Missstände gegeben sind?

47.

Meines Erachtens betrifft die verbliebene Vorlagefrage im Kern die Rechtsstellung, die ein Asylbewerber in dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, innehat, wenn in dem nach den Regeln der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat Zustände herrschen, wie sie im Urteil N. S. u. a. beschrieben sind. Insbesondere geht es um die Pflichten des erstgenannten Mitgliedstaats und vor allem der dortigen Gerichte sowie um die Rechte des Asylbewerbers und die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe. Ich möchte die Vorlagefrage unter eben diesen Gesichtspunkten untersuchen.

B – Beantwortung der Vorlagefrage

1. Grundprinzipien des Unionsasylrechts

48.

Die Genfer Flüchtlingskonvention beruht auf dem Grundsatz der Nichtzurückweisung, dem zufolge ein Flüchtling nicht über die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zurückgewiesen werden darf, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

49.

Der Grundsatz der Nichtzurückweisung bildet den Kern des durch Art. 18 der Charta und Art. 78 Abs. 1 AEUV garantierten Grundrechts auf Asyl. Diese Bestimmungen begründen keinen subjektiven materiell-rechtlichen Anspruch des Asylbewerbers auf Asyl ( 13 ), sondern ein Recht auf eine unparteiische und wirksame Prüfung seines Asylantrags sowie das Recht, nicht an Länder oder Gebiete überstellt zu werden, wenn dies gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde.

50.

Ein subjektiver Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich jedoch unionsrechtlich aufgrund der Harmonisierung der Bedingungen für die Anerkennung als Flüchtling nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83 für Personen, die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Dies gilt unbeschadet der Unionsvorschriften über die Überstellung von Asylbewerbern an sichere Drittstaaten.

51.

Die Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ist außerdem auch verfahrensrechtlich harmonisiert worden. Insbesondere sind in der Richtlinie 2005/85 die insoweit geltenden Mindestnormen geregelt, einschließlich des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf.

52.

Die Anwendung der Richtlinie 2005/85 und dementsprechend der Richtlinie 2004/83 ist jedoch erst der zweite Schritt bei der Behandlung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Asylantrags. In einem ersten Schritt muss zunächst der Mitgliedstaat bestimmt werden, der für die Prüfung des Antrags zuständig ist.

53.

Dies erfolgt nach Maßgabe der Verordnung Nr. 343/2003 anhand objektiver, in einer Rangfolge stehender Kriterien, so dass im Endergebnis ein einziger Mitgliedstaat für die Antragsprüfung zuständig ist. Allerdings räumt die Verordnung den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit ein, die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags entweder aus den in Art. 15 der Verordnung Nr. 343/2003 aufgeführten humanitären Gründen oder auf eigenen Wunsch nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu übernehmen.

54.

Der Grundsatz der Nichtzurückweisung liegt auch dem durch die Verordnung Nr. 343/2003 geschaffenen System zugrunde, mit dem die Prüfung von Asylanträgen in der Union geordnet und strukturiert sowie ein „forum shopping“ verhindert werden soll. Die Mitgliedstaaten sind im Übrigen an die Genfer Flüchtlingskonvention und an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Deshalb dürfen sie Asylbewerber an andere Mitgliedstaaten nur dann überstellen, wenn Garantien bestehen, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung beachtet wird. Das durch das Dubliner Übereinkommen und die Verordnung Nr. 343/2003 eingerichtete System beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten. Mit anderen Worten, die Verordnung Nr. 343/2003 geht von der Annahme aus, dass sämtliche Mitgliedstaaten der Union als für Asylbewerber sichere Staaten angesehen werden können und dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Bezug auf Drittstaaten beachten.

55.

Um die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegte Frage beantworten zu können, muss zunächst eine Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 vorgenommen werden, die für normale Verhältnisse gilt. Dies ermöglicht dann eine Auslegung der Verordnung bei Vorliegen einer Situation, wie sie im Urteil N. S. u. a. beschrieben ist, d. h., wenn die grundsätzliche Vermutung, dass der prima facie für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat zur Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem in der Lage ist, nicht mehr besteht.

2. Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003

56.

Nach den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere muss ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem „eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staates“ umfassen ( 14 ). Dies ist meiner Meinung nach der Maßstab, an dem sich eine Prüfung der Vorlagefrage orientieren muss. Eine Antwort, die mit dem Ziel der Klarheit und Praktikabilität nicht im Einklang steht, liefe sowohl dem Zweck der Verordnung Nr. 343/2003 als auch der Zielsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zuwider. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden ( 15 ).

57.

Die Verordnung Nr. 343/2003 dient sowohl einer raschen Bearbeitung von Asylanträgen als auch der Vermeidung von „forum shopping“. So heißt es z. B. im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003, dass das „Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge“ nicht gefährdet werden darf ( 16 ), während in Kapitel V der Verordnung strenge Fristen für die Aufnahme und die Wiederaufnahme des Asylbewerbers vorgegeben sind ( 17 ). Das Ziel der Vermeidung von „forum shopping“ kommt in den Art. 9 bis 12 zum Ausdruck, denen zufolge der Mitgliedstaat, der die erforderlichen Reisedokumente ausgestellt hat, oder der Mitgliedstaat der ersten – legalen oder illegalen – Einreise für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist und nur ganz bestimmte Ausnahmen von dieser Regelung gelten ( 18 ). Zwar sehen Art. 15 (sogenannte humanitäre Klausel) und Art. 3 Abs. 2 (sogenannte Souveränitätsklausel) einen Ermessensspielraum vor, der aber nicht dem Asylbewerber, sondern den Mitgliedstaaten zusteht ( 19 ).

58.

Im Übrigen bezweckt die Verordnung Nr. 343/2003, wie es in ihrem 16. Erwägungsgrund und Art. 1 heißt, die „Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist“. Die Verordnung Nr. 343/2003 ist also nicht darauf gerichtet, Rechte des Einzelnen zu begründen, sondern die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu ordnen ( 20 ), auch wenn sie einige Elemente enthält, die für die Rechte der Asylbewerber nicht ohne Bedeutung sind. All dies in Verbindung mit dem Umstand, dass Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 als Ermessensvorschrift ausgestaltet ist, spricht gegen eine Auslegung, wonach den Asylbewerbern ein subjektiver Anspruch bei der Anwendung dieser Vorschrift zusteht. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben Verordnungen zwar im Allgemeinen unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ohne dass nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich wären oder der Unionsgesetzgeber ergänzende Regelungen erlassen müsste, dennoch kann es vorkommen, dass manche Bestimmungen einer Verordnung zu ihrer Durchführung des Erlasses von Durchführungsmaßnahmen bedürfen, entweder durch die Mitgliedstaaten oder durch den Unionsgesetzgeber selbst ( 21 ).

59.

Es liegt auf der Hand, dass es weiterer Maßnahmen bedarf, wenn einem Mitgliedstaat ein Ermessensspielraum zusteht. Daher können Asylbewerber aus den Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 unter normalen Umständen gegen einen Mitgliedstaat, der nach der Verordnung nicht zuständig ist, keinen Anspruch auf Prüfung ihres Asylantrags herleiten. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben hat, kann eine Bestimmung unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Einzelnen nur hervorrufen, wenn diese Bestimmung eine eindeutige Verpflichtung für die Mitgliedstaaten vorsieht, die durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist und die zu ihrer Erfüllung oder Wirksamkeit keiner weiteren Handlungen der Mitgliedstaaten oder der Kommission bedarf. Diesen Kriterien entspricht Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 nicht ( 22 ).

3. Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 in außergewöhnlichen Situationen

60.

Allerdings bezieht sich die Vorlagefrage nicht auf die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 bei Vorliegen normaler Verhältnisse, sondern in außergewöhnlichen Situationen, in denen der prima facie für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat das Gemeinsame Europäische Asylsystem in einem Ausmaß missachtet hat, dass Asylbewerber nicht dorthin überstellt werden können. Hier komme ich zu dem Ergebnis, dass es in solchen Fällen letztlich Sache der nationalen Gerichte ist, die vom Gerichtshof im Urteil N. S. u. a. aufgestellten Grundsätze zu wahren, und dies umso mehr wegen der feststehenden positiven Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Einhaltung des Verbots einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu sichern.

61.

Nachstehend verstehe ich unter außergewöhnlichen Situationen solche, bei denen sowohl die materiell-rechtlichen als auch die beweisrechtlichen Mindestbedingungen gegeben sind, die der Gerichtshof im Urteil N. S. u. a. aufgeführt hat. Als materiell-rechtliche Bedingung verlangt der Gerichtshof eine Situation, in der das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im nach der Verordnung Nr. 343/2003 für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung implizieren. Die beweisrechtliche Bedingung sieht der Gerichtshof als erfüllt an, wenn dem Mitgliedstaat, der den Asylbewerber normalerweise überstellen würde, die in dem anderen Mitgliedstaat bestehenden systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht unbekannt sein können, so dass gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Beweisanforderung lautet de facto, dass allgemein bekannt ist, dass Asylbewerber nicht an den betreffenden Mitgliedstaat überstellt werden können ( 23 ).

62.

Durch diese Voraussetzungen wollte der Gerichtshof offenkundig eine hohe Hürde für die Preisgabe des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, auf dem die Verordnung Nr. 343/2003 aufbaut, setzen. Deshalb darf dieser Grundsatz nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass in dem auf einen Asylantrag folgenden Verfahren systematisch geprüft wird, ob andere Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem nachkommen. Eine gegenteilige Auffassung stünde im Widerspruch zu den Hauptzielen der Verordnung Nr. 343/2003, nämlich der Ordnung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten untereinander, der Gewährleistung einer zügigen Bearbeitung von Asylanträgen und der Verhinderung von „forum shopping“.

63.

Wenn also einem Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt worden ist, nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem nach der Verordnung Nr. 343/2003 eigentlich zuständigen Mitgliedstaat begründen, müssen die zuständigen Behörden eine Überstellung von Asylbewerbern an diesen Mitgliedstaat von Amts wegen unterlassen. Sie sollten dies tun, ohne von den nationalen Gerichten oder durch einen Antrag des betroffenen Asylbewerbers dazu gezwungen zu werden. Auch wenn Art. 3 Abs. 2 als eine im Ermessen stehende Maßnahme dem Einzelnen keine Rechte verleiht, schwächt dies in keiner Weise die positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten einschließlich ihrer Gerichte ab, Maßnahmen, die Asylbewerber einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aussetzen würden, zu unterlassen, wie im Urteil N. S. u. a. vorgeschrieben. Im Urteil N. S. u. a. selbst ist nämlich festgestellt worden, dass die Charta im Kontext der Ermessensausübung anwendbar ist. In Bezug auf das Asylrecht der Union entstehen die im Urteil N. S. u. a. genannten Verpflichtungen, sobald die betreffende mitgliedstaatliche Behörde unabhängig davon, ob es sich bei ihr um ein Gericht handelt, festgestellt hat, dass die oben beschriebenen Mindestbedingungen im Sinne des Urteils N. S. u. a. in dem sonst „zuständigen“ Mitgliedstaat vorliegen.

64.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage sind allerdings noch zu prüfen a) die Rechtsstellung des Mitgliedstaats, der sich in der außergewöhnlichen Situation befindet, im Fall der Überstellung einen Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen, und b) die Rechte des Asylbewerbers sowie die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe.

a) Rechtsstellung des Mitgliedstaats in der außergewöhnlichen Situation

65.

Bezüglich der Rechtsstellung des Mitgliedstaats, der sich in der vorstehend beschriebenen außergewöhnlichen Situation befindet, ergibt sich aus dem Urteil N. S. u. a. eindeutig, dass er den Asylbewerber nicht an den prima facie nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat überstellen darf. Im Verhältnis zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten kommt also der Grundsatz der Nichtzurückweisung zum Tragen.

66.

Im Urteil N. S. u. a. hat der Gerichtshof sogar entschieden, dass der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, die Prüfung der Kriterien des Kapitels III fortzuführen hat, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Falls dies jedoch unangemessen lange dauert, muss der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, erforderlichenfalls den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen ( 24 ).

67.

Dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wird, obliegt in einer außergewöhnlichen Situation somit nicht die unbedingte Pflicht, die Prüfung des Antrags selbst vorzunehmen. Er kann innerhalb einer angemessenen Zeitspanne versuchen, einen anderen zuständigen Mitgliedstaat zu finden. Erst dann, wenn dies fehlschlägt, ist der Mitgliedstaat offenbar verpflichtet, selbst den Antrag zu prüfen.

68.

Dennoch kommt dies meiner Meinung nach keiner Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Übernahme der Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 343/2003 gleich. Die Verordnung ist dahin auszulegen, dass bei Feststellung der im Urteil N. S. u. a. beschriebenen Verhältnisse der Mitgliedstaat, in dem diese Verhältnisse herrschen, schlichtweg nicht mehr der zuständige Mitgliedstaat im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ist. Hiervon ist auch die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgegangen. Der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wird zuständig, sofern er keinen anderen zuständigen Mitgliedstaat finden kann ( 25 ).

69.

An dieser Stelle greift dann Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 ein, weil, wie es dort heißt, „sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen [lässt], welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt“. Im Weiteren bestimmt Art. 13, dass „der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig [ist]“. Im Fall von Herrn Puid ist daher die Bundesrepublik Deutschland der „erste Mitgliedstaat“, in dem er seinen Asylantrag gestellt hat, und infolgedessen für den Abschluss der Prüfung des Asylantrags nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 343/2003 zuständig.

70.

Gleichwohl ist hervorzuheben, dass sich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 keine materiell-rechtliche Pflicht des Mitgliedstaats herleiten lässt, in dem der Asylantrag erstmals gestellt wurde. Die genannte Bestimmung erlaubt es eindeutig jedem Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde ( 26 ), die Stellung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß seinem Selbsteintrittsrecht zu übernehmen. Dies mag z. B. aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen geschehen ( 27 ). Mit anderen Worten: Die genannte Bestimmung berechtigt die Mitgliedstaaten zur Prüfung von Asylanträgen, sie zwingt sie aber nicht dazu.

71.

Hervorzuheben ist, dass die Verordnung Nr. 343/2003 einen Mitgliedstaat keineswegs verpflichtet, die Prüfung eines Asylantrags zu verweigern, sondern lediglich innerhalb der Union eine Vorgehensweise der Staaten ordnet, die diese mehrheitlich ohnehin verfolgen würden, nämlich internationalen Schutz denjenigen Asylbewerbern zu versagen, die durch sichere Staaten einreisen. Die Verordnung Nr. 343/2003 bewirkt also unter den Mitgliedstaaten eine Verteilung der Zuständigkeit, nicht jedoch der normativen Befugnis ( 28 ) bei der Prüfung von Asylanträgen.

b) Rechte des Asylbewerbers und zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Situation

72.

Was die Rechte der Asylbewerber und die Rechtsbehelfe in der im Urteil N. S. u. a. definierten außergewöhnlichen Situation angeht, ist zwischen zwei verschiedenen Arten von Entscheidung zu unterscheiden. Zwischen den Entscheidungen über die Zuständigkeit für die Antragsprüfung und Entscheidungen, die in Bezug auf die Überstellung des Antragstellers an den zuständigen Mitgliedstaat getroffen werden.

73.

Die Entscheidung über die Antragsprüfung trifft der ersuchte Mitgliedstaat (d. h. der Mitgliedstaat, der von einem anderen Mitgliedstaat um Prüfung des Asylantrags ersucht wird) gemäß Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003. Bei einer an den Zielen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ausgerichteten Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 spricht nichts dafür, den Asylbewerbern gegen einen bestimmten Mitgliedstaat einen subjektiven Anspruch auf Prüfung eines Asylantrags zuzuerkennen ( 29 ). Dies gilt sowohl in Bezug auf den ersuchten als auch den ersuchenden Mitgliedstaat.

74.

Die Entscheidung über die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat ist in Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 geregelt. Dieser lautet: „Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit“ (Hervorhebung nur hier).

75.

Gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ist die Überstellungsentscheidung zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt.

76.

Gegen die Entscheidung, den Antrag nicht zu prüfen und den Antragsteller zu überstellen, kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden ( 30 ). Ein gegen diese Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist ( 31 ).

77.

Im Rahmen eben dieses Verfahrens haben die nationalen Gerichte aufgrund ihrer Pflichten zur Gewährung wirksamen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 EUV zu prüfen, ob die außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Urteils N. S. u. a. vorliegen, im Einzelfall zum Tragen kommen und zu einer Änderung der Verpflichtungen des Mitgliedstaats führen, in dem Asyl beantragt wird. Es versteht sich fast von selbst, dass die nationalen Gerichte in diesem Verfahren den Schutz der in der Charta verankerten Rechte, die Teil des primären Unionsrechts sind ( 32 ), sicherzustellen haben; dies gilt umso mehr, als in den Unionsvorschriften – etwa in der Verordnung Nr. 343/2003 und insbesondere deren 15. Erwägungsgrund – ausdrücklich auf den Einklang mit den Grundrechten und der Charta verwiesen wird ( 33 ).

78.

Nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 hat ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen und den Asylbewerber zu überstellen, keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist. Die Gründe hierfür sind im Kommissionsvorschlag für die Verordnung Nr. 343/2003 dargelegt. Die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat birgt nicht die Gefahr eines groben und schwer wiedergutzumachenden Schadens für die betreffende Person ( 34 ). Es liegt auf der Hand, dass diese Annahme bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Urteils N. S. u. a. nicht gilt.

79.

Ein nationales Gericht, dem nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden, ist meines Erachtens verpflichtet, die Überstellung von Asylbewerbern an diesen Mitgliedstaat auszusetzen und erforderlichenfalls nationale Bestimmungen aufzuheben, die eine solche Entscheidung ausschließen. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts zur Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und zum Schutz der Grundrechte ( 35 ). Die zuständigen Behörden haben, wie gesagt, eine ähnliche Verpflichtung im Bereich der Durchführung des Asylverfahrens.

80.

Ich stelle fest, dass in dem aktuellen Vorschlag der Kommission für eine Neufassung der Verordnung Nr. 343/2003 ein Art. 26 („Rechtsbehelf“) vorgesehen ist, wonach u. a. „[i]m Falle einer auf Sach- oder Rechtsfragen gerichteten Überprüfung des Überstellungsbeschlusses … das … Gericht von Amts wegen so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von sieben Arbeitstagen nach Beantragung der gerichtlichen Überprüfung über den Verbleib der betreffenden Person im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bis zum Abschluss der Überprüfung [entscheidet]“ ( 36 ).

81.

Abschließend ist also festzuhalten, dass Asylbewerbern selbst in außergewöhnlichen Situationen im Sinne des Urteils N. S. u. a. kein durchsetzbarer Anspruch gegen einen bestimmten Mitgliedstaat auf Prüfung ihres Asylantrags aus der Verordnung Nr. 343/2003 zusteht. Ein nationales Gericht, dem nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden, ist jedoch verpflichtet, die Überstellung des Asylbewerbers an diesen Mitgliedstaat auszusetzen.

V – Ergebnis

82.

Ich schlage daher vor, die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Asylbewerbern steht kein durchsetzbarer Anspruch gegen einen bestimmten Mitgliedstaat auf Prüfung ihres Asylantrags gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zu. Ein nationales Gericht, dem nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Antragsteller tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden, ist jedoch im Rahmen der Anwendung von Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung verpflichtet, die Überstellung von Asylbewerbern an diesen Mitgliedstaat auszusetzen.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13).

( 3 ) Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12). Die Richtlinie 2004/83 wird mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 aufgehoben durch Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9). Die Harmonisierung der Aufnahmebedingungen ist in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18) geregelt.

( 4 ) ABl. L 50, S. 1.

( 5 ) Randnr. 104.

( 6 ) Randnr. 106.

( 7 ) Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967. Die Union ist weder Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention noch des Protokolls von 1967.

( 8 ) ABl. 1997, C 254, S. 1.

( 9 ) Randnr. 75 mit Verweis auf die Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Slg. 2010, I-1493, Randnr. 53), und vom 17. Juni 2010, Bolbol (C-31/09, Slg. 2010, I-5539, Randnr. 38).

( 10 ) Randnr. 86. Der Gerichtshof hat sich außerdem auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Fällen gestützt, in denen ein Asylbewerber Haftbedingungen ausgesetzt wird, die eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen, und insoweit in den Randnrn. 88 und 90 des Urteils N. S. u. a. das Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (noch nicht in Reports of Judgments and decisions veröffentlicht), angeführt.

( 11 ) Randnr. 94.

( 12 ) Randnrn. 107 und 108.

( 13 ) Die deutsche Regierung verweist in ihren schriftlichen Erklärungen auf die Entstehungsgeschichte von Art. 18 der Charta sowie auf den Umstand, dass seinerzeit die einzelstaatlichen Vorschriften über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht harmonisiert gewesen seien. Deshalb geht Art. 18 der Charta in Bezug auf die Rechte von Asylbewerbern meines Erachtens nicht weiter als die Genfer Flüchtlingskonvention und der gemeinschaftliche Besitzstand.

( 14 ) Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (KOM[2001] 447 endgültig, Ziff. 1 Abs. 1 der Begründung, S. 2. Vgl. auch dritter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003.

( 15 ) Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian u. a. (C-19/08, Slg. 2009, I-495, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Urteil vom 6. November 2012, K (C‑245/11, Randnr. 48), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass „die zuständigen nationalen Behörden verpflichtet sind, sich zu vergewissern, dass die Verordnung Nr. 343/2003 in einer Weise durchgeführt wird, die einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft gewährleistet und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht gefährdet“.

( 17 ) Eine Übersicht über die Fristen nach der Verordnung Nr. 343/2003 findet sich in den Schlussanträgen von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Cimade und GISTI (C‑179/11, Urteil vom 27. September 2012, Anhang).

( 18 ) Vgl. auch Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in den Rechtssachen N. S. u. a., Nr. 94, in denen sie ausführt, dass durch die Verordnung Nr. 343/2003 „ebenfalls ein forum shopping durch Asylbewerber vermieden werden sollte“, was sich aus der Regelung ergebe, dass „für die Prüfung eines in der Union gestellten Asylantrags nur ein Mitgliedstaat zuständig ist, der auf der Grundlage objektiver Kriterien ermittelt wird“.

( 19 ) An dieser Stelle möchte ich die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil vom 29. Januar 2013, Radu (C‑396/11, Randnr. 34), entsprechend heranziehen, wonach „[d]er Rahmenbeschluss 2002/584 … daher darauf gerichtet [ist], durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und … ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus[setzt]“. Dies war einer der Gründe, weshalb es der Gerichtshof abgelehnt hat, die Möglichkeiten für die Anfechtung eines Europäischen Haftbefehls bei der vollstreckenden Justizbehörde durch Aufstellung des Erfordernisses zu erweitern, dass der Beschuldigte vom ausstellenden Mitgliedstaat angehört worden sein muss, bevor der Haftbefehl ausgestellt wurde. Da das Gemeinsame Europäische Asylsystem ebenfalls die Einführung eines „neuen vereinfachten und wirksameren Systems“ bezweckt und „ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt“, muss bei der Gewährung von Rechten für Asylbewerber, die zusätzlich zu den vom Unionsgesetzgeber festgelegten Rechten gelten sollen, meiner Ansicht nach unbedingt die gleiche Zurückhaltung walten. Vgl. aus jüngerer Zeit Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, Randnr. 37).

( 20 ) Insoweit möchte ich auf die Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Kastrati u. a. (C‑620/10, Urteil vom 3. Mai 2012, Nr. 29) verweisen, in denen sie ausführt, dass „Ziel der Verordnung Nr. 343/2003 … nicht die Schaffung von Verfahrensgarantien für Asylbewerber im Sinne der Festlegung von Voraussetzungen für die Anerkennung oder Ablehnung ihrer Asylanträge [ist]. Vielmehr regelt diese Verordnung in erster Linie die Verteilung der Verpflichtungen und Aufgaben der Mitgliedstaaten untereinander. Vor diesem Hintergrund beziehen sich die Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003, die die Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Asylbewerbern betreffen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, im Grunde nur auf den Ablauf der Verfahren im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander oder sind darauf gerichtet, die Übereinstimmung mit anderen Asylrechtsakten zu gewährleisten“.

( 21 ) Urteil vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a. (C-367/09, Slg. 2010, I-10761, Randnrn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 22 ) Die Kommission stützt sich hierbei auf die klassische Rechtsprechung des Gerichtshofs, nämlich die Urteile vom 5. Februar 1963, van Gend en Loos (26/62, Slg. 1963, 3), vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, Slg. 1964, 1253), und vom 16. Juni 1966, Lütticke (57/65, Slg. 1966, 258).

( 23 ) Meines Erachtens kann das Vorliegen einer solchen Situation aus entsprechenden Informationen des UNHCR, des Internationalen Roten Kreuzes und der Kommission sowie aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union gefolgert werden. Außerdem tauschen die Asylbehörden der Mitgliedstaaten untereinander Informationen über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aus. Da die im Urteil N. S. u. a. dargestellte außergewöhnliche Situation nicht den individuellen Fall eines einzelnen Asylbewerbers beschreibt, müssen die Mitgliedstaaten das Vorliegen außergewöhnlicher Situationen auf allgemeiner Ebene berücksichtigen und nicht nur als beweisrelevante Tatsache im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags im Einzelfall.

( 24 ) Randnrn. 107 und 108.

( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil K (Randnr. 47), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat: „Sind die in Art. 15 Abs. 2 genannten Voraussetzungen erfüllt, wird der Mitgliedstaat, der aus den in dieser Bestimmung aufgeführten humanitären Gründen zur Aufnahme eines Asylbewerbers verpflichtet ist, zu dem für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat.“

( 26 ) Es ist durchaus denkbar, dass ein Asylbewerber Anträge in mehreren Mitgliedstaaten stellt. In Fällen, in denen er nicht an den Mitgliedstaat der ersten Einreise überstellt werden kann, führt Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 letztlich zu einer Zuständigkeit des Mitgliedstaats des ersten Antrags. Ohne diese Bestimmung bestünde die Verpflichtung zur Gewährung internationalen Schutzes offenkundig aufgrund des Völkerrechts und träfe entweder den Mitgliedstaat, in dem sich der Antragsteller befindet, oder den ersten sicheren Einreisemitgliedstaat. Dieses Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man die Verordnung im Sinne einer objektiven Pflicht eines Mitgliedstaats zur Ausübung seiner Berechtigung nach Art. 3 Abs. 2 auslegt.

( 27 ) Vgl. Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache K (C‑245/11, Nrn. 27 bis 31) und KOM(2001) 447 endgültig, Ziff. 2, S. 11.

( 28 ) Die Befugnis eines Staates zur Prüfung eines Asylantrags und zur Gewährung internationalen Schutzes ergibt sich aus seiner Souveränität. Deshalb hindert die Richtlinie 2004/83 die Mitgliedstaaten nicht daran, günstigere Normen zur Entscheidung der Frage anzuwenden, wer als Flüchtling gilt (vgl. Art. 3).

( 29 ) Ausnahmsweise kommt in den in den Art. 7 und 8 der Verordnung Nr. 343/2003 über Familienangehörige vorgesehenen Fällen den Wünschen der Betroffenen rechtliche Bedeutung zu.

( 30 ) Diese Bestimmung gab es im Dubliner Übereinkommen nicht. Eine Erörterung der Unterschiede zwischen Art. 19 und den entsprechenden Vorschriften des Dubliner Übereinkommens findet sich in KOM(2001) 447 endgültig, oben in Fn. 14 angeführt, S. 17 und 18.

( 31 ) Art. 39 der Richtlinie 2005/85 über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist auf diese Entscheidung allerdings nicht anwendbar – vgl. Art. 39 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 der genannten Richtlinie.

( 32 ) Vgl. z. B. Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Radu (Urteil oben in Fn. 19 angeführt, Nr. 52).

( 33 ) Im Urteil vom 5. Oktober 2010, McB (C-400/10 PPU, Slg. 2010, I-8965, Randnrn. 60 und 61), hat sich der Gerichtshof trotz des Umstands, dass die vom nationalen Gericht gestellte Vorlagefrage nicht darauf abzielte, mit der Problematik befasst, ob die von ihm entwickelte Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) mit Art. 24 der Charta und den Rechten des Kindes in Einklang steht. Der Gerichtshof hat diese Prüfung zum Teil aufgrund der im 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Verpflichtungen vorgenommen.

( 34 ) Vgl. KOM(2001) 447 endgültig, oben in Fn. 14 angeführt, S. 20.

( 35 ) Vgl. allgemein Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB (C-279/09, Slg. 2010, I-13849).

( 36 ) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (KOM[2008] 820 endgültig, S. 45).