29.9.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 295/13


Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 19. Juli 2012 (Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Senāts — Lettland) — Ainārs Rēdlihs/Valsts ieņēmumu dienests

(Rechtssache C-263/11) (1)

(Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Richtlinie 2006/112/EG - Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ - Holzlieferungen zur Abmilderung von Sturmschäden - System der Selbstveranlagung - Fehlende Eintragung im Register der Steuerpflichtigen - Geldbuße - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)

2012/C 295/21

Verfahrenssprache: Lettisch

Vorlegendes Gericht

Augstākās tiesas Senāts

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: Ainārs Rēdlihs

Beklagte: Valsts ieņēmumu dienests

Gegenstand

Vorabentscheidungsersuchen — Augstākās tiesas Senāts — Auslegung des Art. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) und des Art. 9 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) — Begriffe „Steuerpflichtiger“ und „wirtschaftliche Tätigkeit“ — Zur Abmilderung von Sturmschäden erfolgte Holzlieferungen, die von einer natürlichen Person getätigt wurden, die Eigentümerin eines Waldes ist, den sie zu ihrem persönlichen Bedarf nutzt — Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme, die das Fehlen einer Eintragung in ein Register der Mehrwertsteuerpflichtigen mit einer Geldbuße in Höhe der nach Maßgabe des Wertes der gelieferten Gegenstände normalerweise geschuldeten Steuer belegt, obwohl die betroffene Person die Steuer, selbst wenn sie sich zu dem Register angemeldet hätte, nicht hätte zahlen müssen, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Tenor

1.

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Holzlieferungen, die von einer natürlichen Person zur Abmilderung der Auswirkungen eines Ereignisses höherer Gewalt durchgeführt werden, zur Nutzung eines körperlichen Gegenstands zählen, die als „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu beurteilen ist, sofern diese Lieferungen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen erfolgen. Das nationale Gericht hat bei der Feststellung, ob die Nutzung eines körperlichen Gegenstands, etwa eines Waldes, zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen erfolgt, sämtliche Gegebenheiten des Einzelfalls zu würdigen.

2.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass nicht ausgeschlossen ist, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, wonach gegen eine Person, die es pflichtwidrig versäumt hat, sich zum Register der Mehrwertsteuerpflichtigen anzumelden und die diese Steuer nicht schuldete, eine Geldbuße in Höhe des für den Wert der gelieferten Gegenstände geltenden normalen Mehrwertsteuersatzes verhängt werden darf, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob angesichts der Umstände des vorliegenden Falles und insbesondere angesichts des konkret verhängten Betrags und einer etwa vorliegenden Steuerhinterziehung oder Umgehung der geltenden Gesetze, die dem Steuerpflichtigen, dessen Versäumnis der Anmeldung geahndet wird, anzulasten wären, die Höhe der Sanktion über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die in der Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und in der Vermeidung von Steuerhinterziehungen bestehen.


(1)  ABl. C 226 vom 30.7.2011.