27.10.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 331/5


Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. September 2012 (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgericht — Deutschland) — Bundesrepublik Deutschland/Y (C-71/11), Z (C-99/11)

(Verbundene Rechtssachen C-71/11 und C-99/11) (1)

(Richtlinie 2004/83/EG - Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus - Art. 2 Buchst. c - Flüchtlingseigenschaft - Art. 9 Abs. 1 - Begriff „Verfolgungshandlungen“ - Art. 10 Abs. 1 Buchst. b - Religion als Verfolgungsgrund - Verknüpfung zwischen diesem Verfolgungsgrund und den Verfolgungshandlungen - Pakistanische Staatsangehörige, die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sind - Handlungen der pakistanischen Behörden, mit denen das Recht, seine Religion öffentlich zu bekennen, ausgeschlossen wird - Handlungen, die so gravierend sind, dass der Betroffene die begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion haben kann - Individuelle Prüfung der Ereignisse und Umstände - Art. 4)

(2012/C 331/08)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Parteien des Ausgangsverfahrens

Klägerin: Bundesrepublik Deutschland

Beklagte: Y (C-71/11), Z (C-99/11)

Beteiligte: Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, Bundesbeauftragter für Asylangelegenheiten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Gegenstand

Vorabentscheidungsersuchen — Bundesverwaltungsgericht — Auslegung von Art. 2 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12) — Voraussetzungen, um als Flüchtling zu gelten — Hinreichende Schwere einer Verfolgungshandlung — Handlungen der pakistanischen Behörden zur Beschränkung der Tätigkeit der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft

Tenor

1.

Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass

nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt, bereits eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie darstellt;

eine Verfolgungshandlung sich aus einem Eingriff in die öffentliche Ausübung dieser Freiheit ergeben kann und

bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt, eine „Verfolgungshandlung“ darstellen kann, die zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen prüfen müssen, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie 2004/83 genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.

2.

Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten.


(1)  ABl. C 130 vom 30.4.2011,

ABl. C 173 vom 11.6.2011.