STELLUNGNAHME DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 6. Dezember 2010(1)

Rechtssache C‑497/10 PPU

Barbara Mercredi

gegen

Richard Chaffe

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division])

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen – Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Kind eines nicht verheirateten Paares – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ – Rechtmäßiges Verbringen eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat – Erlangen eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts – Eilvorlageverfahren“







Inhaltsverzeichnis


I –   Rechtlicher Rahmen

A –   Unionsrecht

B –   Internationales Recht

C –   Nationales Recht

II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

A –   Die dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Umstände

B –   Die in England eingeleiteten Verfahren

C –   Die in Frankreich eingeleiteten Verfahren

1.     Das von der Mutter eingeleitete Verfahren

2.     Der Antrag des Vaters nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung

III – Die Vorlagefragen und das Ersuchen um Vorabentscheidung im Eilverfahren

IV – Vorbemerkungen

V –   Zur ersten Frage

A –   Zur Ermittlung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ des Kindes

1.     Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts: die Grundsätze des Urteils A

2.     „Verlust“ und „Erlangung“ eines gewöhnlichen Aufenthalts bei rechtmäßigem Verbringen

a)     Die Voraussetzungen für eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts

b)     Anhaltspunkte für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts

i)     Die sich aus Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebenden Hinweise für die Auslegung

ii)   Die Bedeutung des Willens der Mutter bei der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes, das rechtmäßig verbracht wurde

B –   Zur Beurteilung der Zuständigkeit der nationalen Gerichte bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts

1.     Die Klärung der Aufgaben der nationalen Gerichte nach der Verordnung Nr. 2201/2003

2.     Die Untersuchung der Zweckmäßigkeit des Verweises an ein anderes Gericht

a)     Die Verweisung an das Gericht des Ortes, an dem sich das Kind befindet: Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003

b)     Die Verweisung an das am besten geeignete Gericht: Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 und die Einrede des forum non conveniens

C –   Ergebnis

VI – Zur zweiten und zur dritten Frage

A –   Vorbemerkungen zur Erheblichkeit der Vorlagefragen

1.     Problemstellung

2.     Würdigung

B –   Zur zweiten Frage

C –   Zur dritten Frage

1.     Erklärungen der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Regierungen der betroffenen Mitgliedstaaten und der Kommission

2.     Würdigung

a)     Klärung der dritten Frage

b)     Konflikt zwischen einer auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassenen und einer auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung erlassenen Entscheidung

c)     Konflikt zwischen Entscheidungen, die auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen sind

d)     Ergebnis

VII – Entscheidungsvorschlag


1.        In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof erneut um die Auslegung mehrerer Bestimmungen der auch als „Brüssel IIa“ bezeichneten Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000(2) ersucht, und zwar im Rahmen eines Eilvorlageverfahrens.

2.        Er ist in erster Linie aufgerufen, dem vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich), einen der zentralen Begriffe der Verordnung Nr. 2201/2003, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, zu dem sich der Gerichtshof u. a. bereits in seinem Urteil vom 2. April 2009, A(3), geäußert hat, zu erläutern.

3.        Die Aufgabe des Gerichtshofs wird jedoch, wie schon hier zu betonen ist, deswegen nicht einfacher sein. Wie sich zeigen wird, gibt der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt, der in vielerlei Hinsicht atypisch ist, dem Gerichtshof Anlass, sich genauer mit der Frage zu befassen, welche Umstände den Schluss auf eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes zulassen, wenn das Kind von der Person, die ihm gegenüber allein zur elterlichen Sorge berechtigt ist, rechtmäßig von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht wird. Der Gerichtshof muss zum einen die Fragen des vorlegenden Gerichts klar beantworten und ihm die Hinweise geben, die es ihm ermöglichen, über den schwierigen Rechtsstreit, mit dem es befasst ist, unter voller Beachtung des Zwecks der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entscheiden, zu deren Hauptzielen es gehört, sicherzustellen, dass das Wohl des Kindes gewahrt wird. Der Gerichtshof muss zum anderen auch darauf achten, diese Antwort so zu formulieren, dass allen nationalen Gerichten die Hinweise gegeben werden, die sie benötigen, um über ihre eigene internationale Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 entscheiden zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich zu diesem Zweck sehr umfassend zu den Aufgaben der nationalen Gerichte äußert, die ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 zu prüfen haben, um über die ihnen unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten im Bereich der elterlichen Verantwortung zu entscheiden.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) über die Rechte des Kindes lautet:

„(1)      Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.

(2)      Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(3)      Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“

5.        Im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 wird ausgeführt:

„(12) Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.“

6.        Der 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„(33) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten.“

7.        Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 definiert das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes wie folgt:

„‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

8.        Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003, der am Anfang von Abschnitt 2 des Kapitels II dieser Verordnung steht, in dem die Zuständigkeitsregeln im Bereich der elterlichen Verantwortung festgelegt sind, sieht vor:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

9.        Art. 9 („Aufrechterhaltung der Zuständigkeit des früheren gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Kindes“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, verbleibt abweichend von Artikel 8 die Zuständigkeit für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wenn sich der laut der Entscheidung über das Umgangsrecht umgangsberechtigte Elternteil weiterhin gewöhnlich in dem Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes aufhält.

(2)      Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der umgangsberechtigte Elternteil im Sinne des Absatzes 1 die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes dadurch anerkannt hat, dass er sich an Verfahren vor diesen Gerichten beteiligt, ohne ihre Zuständigkeit anzufechten.“

10.      Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, der die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung regelt, bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

11.      Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält die Vorschriften, die für Anträge gelten, die nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung(5) gestellt wurden, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich verbracht wurde oder zurückgehalten wird. Er hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung …, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)      Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(4)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 Buchstabe b) des Haager Übereinkommens von 1980 nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.

(5)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes nicht verweigern, wenn der Person, die die Rückgabe des Kindes beantragt hat, nicht die Gelegenheit gegeben wurde, gehört zu werden.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

12.      Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält eine auf die Anwesenheit des Kindes gestützte Zuständigkeitsregel, die wie folgt lautet:

„(1)      Kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden und kann die Zuständigkeit nicht gemäß Artikel 12 bestimmt werden, so sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind befindet.

(2)      Absatz 1 gilt auch für Kinder, die Flüchtlinge oder, aufgrund von Unruhen in ihrem Land, ihres Landes Vertriebene sind.“

13.      Art. 19 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(2)      Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.

(3)      Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.

In diesem Fall kann der Antragsteller, der den Antrag bei dem später angerufenen Gericht gestellt hat, diesen Antrag dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.“

14.      In Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 wird der Grundsatz des Verbots der Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats aufgestellt, der folgenden Wortlaut hat:

„Die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats darf nicht überprüft werden. Die Überprüfung der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung gemäß Artikel 22 Buchstabe a und Artikel 23 Buchstabe a darf sich nicht auf die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 3 bis 14 erstrecken.“

15.      Art. 60 Buchst. e der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e)      Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung.“

B –    Internationales Recht

16.      Das Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung, das am 1. Dezember 1983 in Kraft getreten ist, wurde sowohl von der Französischen Republik als auch vom Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland sowie von allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnet und ratifiziert.

17.      Die Art. 3 bis 5 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung bestimmen:

„Artikel 3

Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.

Artikel 4

Das Übereinkommen wird auf jedes Kind angewendet, das unmittelbar vor einer Verletzung des Sorgerechts oder des Rechts zum persönlichen Umgang seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hatte. Das Übereinkommen wird nicht mehr angewendet, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat.

Artikel 5

Im Sinn dieses Übereinkommens umfasst

a)      das ‚Sorgerecht‘ die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen;

b)      das ‚Recht zum persönlichen Umgang‘ das Recht, das Kind für eine begrenzte Zeit an einen anderen Ort als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen.“

18.      Art. 13 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung lautet:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.“

C –    Nationales Recht

19.      Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die Gerichte in England und Wales in Zivilverfahren, die Kinder betreffen, nach Section 8 des Children Act 1989 (Kinder- und Jugendfürsorgegesetz von 1989) Beschlüsse erlassen können, mit denen über den Aufenthaltsort („residence order“) und das Umgangsrecht („contact order“) entschieden wird, bestimmte Handlungen untersagt werden („prohibited steps order“) („injunctions“) oder die spezielle Fragen betreffen („specific issue order“).

20.      Nach Section 4 des Children Act 1989 kann ein Gericht einem Vater die elterliche Verantwortung für ein Kind auch zuerkennen. In England und Wales steht einem Vater, der mit der Mutter des gemeinsamen Kindes nicht verheiratet ist, die elterliche Verantwortung für das Kind nämlich nicht von Rechts wegen zu. Er muss die elterliche Verantwortung erwerben, indem er entweder in der Geburtsurkunde des Kindes namentlich als Vater genannt wird oder dadurch, dass er mit der Mutter eine Vereinbarung über die elterliche Verantwortung trifft, oder durch einen Gerichtsbeschluss, mit dem ihm die elterliche Verantwortung übertragen wird („parental responsibility order“).

21.      Schließlich wird in der Vorlageentscheidung darauf hingewiesen, dass die Gerichte in England und Wales davon ausgehen(6), dass sie, wenn sie mit einem Antrag im Bereich des Sorgerechts für ein Kind befasst werden, selbst ein Sorgerecht für dieses Kind erlangen können, selbst wenn die antragstellende Partei noch nicht über dieses Recht verfügt.

II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

A –    Die dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Umstände

22.      Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt kann auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht gegebenen oder den Schriftsätzen der Rechtsmittelführerin und des Rechtsmittelgegners im Ausgangsverfahren entnommenen oder in der mündlichen Verhandlung erlangten Informationen wie folgt zusammengefasst werden.

23.      Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens, Frau Mercredi, eine französische Staatsangehörige, und der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens, Herr Chaffe, ein britischer Staatsangehöriger, sind die Eltern eines Kindes, das ebenfalls die französische Staatsangehörigkeit besitzt und im Vereinigten Königreich am 11. August 2009 außerehelich geboren wurde. Sie lebten mehrere Jahre zusammen bis zum 1. August 2009, dem Tag, an dem der Vater die gemeinsame Wohnung verließ.

24.      Am 7. Oktober 2009, also zwei Monate später, verließ die Mutter mit dem Kind England, um sich in ihr Heimatland zu begeben, in dem ihre Familie lebt, und zwar auf die Insel La Réunion, ein französisches überseeisches Departement, wo sie am folgenden Tag, dem 8. Oktober 2009, eintrafen. Es ist unstreitig, dass der Vater des Kindes über diese Abreise nicht informiert worden war. Es ist weiter unstreitig, dass diese Abreise rechtmäßig war, da zu diesem Zeitpunkt allein die Mutter Trägerin der elterlichen Verantwortung für das Kind war.

25.      Der Vater des Kindes leitete daraufhin mehrere Verfahren ein, und zwar sowohl vor den englischen Gerichten, um die elterliche Verantwortung, das Sorgerecht und/oder ein Umgangsrecht für das Kind zu erhalten, als auch vor den französischen Gerichten nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung. Auch die Mutter leitete ein Verfahren vor den französischen Gerichten ein, um die elterliche Verantwortung für das Kind und das Sorgerecht zu erhalten.

B –    Die in England eingeleiteten Verfahren

26.      Am 9. Oktober 2009, also zwei Tage nach der Abreise von Mutter und Kind, stellte der Vater des Kindes telefonisch einen Antrag beim Bereitschaftsrichter des High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich) („Duty High Court Judge“). Der so angerufene Duty High Court Judge erließ am selben Tag ein Ersuchen um Übermittlung von Informationen über den Aufenthaltsort des Kindes („location order“) und ordnete an, ihm die Sache am folgenden 12. Oktober vorzutragen.

27.      Am 12. Oktober 2009 beantragte der Vater des Kindes in der Anhörung vor dem Duty High Court Judge u. a., ihm die elterliche Verantwortung, ein geteiltes Aufenthaltsbestimmungsrecht und ein Umgangsrecht zuzuerkennen. Am selben Tag erließ der Duty High Court Judge einen Beschluss, mit dem die Rückführung des Kindes nach England und Wales gefordert wurde. Es ist unstreitig, dass die Mutter des Kindes von den Anträgen des Vaters keine Kenntnis hatte und dass sie bei dieser Anhörung weder anwesend noch rechtlich vertreten war.

28.      Der Duty High Court Judge führte in diesem Beschluss vom 12. Oktober 2009 erstens aus, dass die Anrufung des englischen Gerichts an dem Tag erfolgt sei, an dem der Vater des Kindes sich telefonisch an ihn gewandt habe, d. h. am 9. Oktober 2009, zweitens, dass sowohl das englische Gericht als auch der Vater des Kindes ab diesem Zeitpunkt über ein Sorgerecht für das Kind verfügt hätten, drittens, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt weiterhin seinen gewöhnlichen Aufenthalt in England gehabt habe, und viertens, dass die englischen Gerichte infolgedessen für dieses Kind zuständig gewesen seien.

29.      Es ist bekannt, dass der Beschluss vom 12. Oktober 2009 der Mutter am 16. Oktober 2009 zugestellt wurde, sie kam ihm jedoch nicht nach.

30.      Am 15. Oktober 2009 stellte der Vater einen Antrag nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung(7).

31.      Am 28. Oktober 2009 leitete die Mutter des Kindes ein Verfahren vor dem Tribunal de grande instance de Saint-Denis (Frankreich) ein(8).

32.      Am 26. Januar 2010 stellte der Vater des Kindes im Rahmen des Verfahrens vor dem High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich), einen ergänzenden Antrag auf Feststellung, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in England hat, dass die englischen Gerichte, was das Kind betrifft, über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügen, dass er und die englischen Gerichte über ein Sorgerecht für das Kind verfügen und dass das Kind widerrechtlich auf La Réunion festgehalten wird. Diesen Anträgen wurde mit einem Beschluss vorläufig stattgegeben, in dem im Übrigen die Mutter aufgefordert wurde, Beweise vorzulegen. Dieser Beschluss wurde der französischen Zentralen Behörde übermittelt und der Mutter zugestellt.

33.      Am 15. April 2010 wurde die Sache vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich), geprüft. In dem Beschluss, der an diesem Tag erlassen wurde, vertrat der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, die Auffassung, dass die Anrufung des englischen Gerichts am 9. Oktober 2009, dem Tag, an dem sich der Vater des Kindes telefonisch an den Duty High Court Judge gewandt habe, erfolgt sei und dass das englische Gericht ab diesem Zeitpunkt ein Sorgerecht für das Kind gehabt habe. Auch der Vater habe ab diesem Zeitpunkt über ein Sorgerecht verfügt, da Beschlüsse zu seinen Gunsten ergangen seien. Schließlich war er der Ansicht, dass das Kind zu dem Zeitpunkt, als das englische Gericht und der Vater das Sorgerecht erlangt hätten, seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in England gehabt habe und dass deshalb die englischen Gerichte am 9. Oktober 2009 zuständig gewesen seien.

34.      Es ist unstreitig, dass die Mutter des Kindes zu der Anhörung am 15. April 2010 nicht erschienen ist, dass aber ihr französischer Rechtsanwalt schriftliche Erklärungen einreichen konnte.

35.      Am 29. Juni 2010 soll der Vater des Kindes beim Tribunal de grande instance de Saint-Denis einen Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung des Beschlusses des High Court of Justice (England & Wales), Family Division, gestellt haben.

36.      Am 24. Juni und 12. Juli 2010 erließ der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, weitere Beschlüsse, wobei im letzten Beschluss von der Mutter des Kindes gefordert wurde, einen vorläufigen Kontakt des Kindes mit seinem Vater auf La Réunion zwischen dem 29. Juli und dem 12. August 2010 zu ermöglichen.

37.      Am 12. Juli 2010 legte die Mutter des Kindes gegen die Beschlüsse des Duty High Court Judge vom 12. Oktober 2009 und des High Court of Justice (England & Wales), Family Division, vom 15. April 2010 ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein, der beschlossen hat, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

C –    Die in Frankreich eingeleiteten Verfahren

1.      Das von der Mutter eingeleitete Verfahren

38.      Am 28. Oktober 2009 beantragte die Mutter des Kindes beim Tribunal de grande instance de Saint-Denis, ihr die ausschließliche elterliche Verantwortung für das Kind zu übertragen und festzustellen, dass sich der Wohnsitz des Kindes an ihrer Anschrift befinde. Dem Vater des Kindes war die Einleitung dieses Verfahrens nicht zugestellt worden, er erfuhr davon im Rahmen des nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung eingeleiteten Verfahrens.

39.      Am 27. Januar 2010 sollen die Anwälte des Vaters des Kindes beantragt haben, das Verfahren betreffend den Antrag der Mutter gemäß Art. 16 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung und Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 auszusetzen.

40.      Mit Urteil vom 23. Juni 2010 übertrug das Tribunal de grande instance de Saint-Denis der Mutter die ausschließliche elterliche Verantwortung für das Kind und stellte fest, dass sich dessen Aufenthaltsort an der Anschrift der Mutter befinde. Der Vater des Kindes war in der mündlichen Verhandlung, die am 31. Mai 2010 stattfand, weder anwesend noch rechtlich vertreten.

2.      Der Antrag des Vaters nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung

41.      Am 15. Oktober 2009 wandte sich der Vater des Kindes mit einem Antrag an die englische Zentrale Behörde, in dem er um Rückführung des Kindes nach England und Wales nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung ersuchte, woraufhin am 18. Dezember 2009 ein Verfahren vor dem Tribunal de grande instance de Saint-Denis eingeleitet wurde.

42.      Das Tribunal de grande instance de Saint-Denis soll das Erscheinen der Mutter nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung angeordnet haben. In der Ladung soll auf die Anordnung des Duty High Court Judge vom 12. Oktober 2009 ausdrücklich Bezug genommen worden sein.

43.      Der Antrag des Vaters nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung wurde am 15. März 2010 mit der Begründung zurückgewiesen, er besitze kein Sorgerecht im Sinne der Art. 3 und 5 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung.

III – Die Vorlagefragen und das Ersuchen um Vorabentscheidung im Eilverfahren

44.      Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division), bei dem die Mutter des Kindes ein Rechtsmittel einlegte, hat mit Beschluss vom 8. Oktober 2010, der am 18. Oktober 2010 beim Gerichtshof eingegangen ist, entschieden, dem Gerichtshof die folgenden drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Nach welchen Kriterien ist der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes für die Zwecke von

–        Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003;

–        Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 zu bestimmen?

2.      Ist ein Gericht eine „Behörde oder sonstige Stelle“, der für die Zwecke der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 ein Sorgerecht zugewiesen werden kann?

3.      Bleibt Art. 10 anwendbar, nachdem die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats einen Antrag auf Rückgabe des Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung mit der Begründung abgelehnt haben, dass sie die Voraussetzungen der Art. 3 und 5 abgelehnt haben?

Wie ist insbesondere der Konflikt zwischen einer Entscheidung des ersuchten Staats, dass die Voraussetzungen der Art. 3 und 5 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung nicht vorliegen, und einer Entscheidung des ersuchenden Staats, dass die Voraussetzungen der Art. 3 und 5 vorliegen, zu lösen?

45.      Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) führt in seinem Vorlagebeschluss aus, dass er eine Entscheidung im Eilverfahren beantrage, da mit dem Vorabentscheidungsersuchen das Gericht bestimmt werden solle, das nach dem Recht der Europäischen Union für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig sei. Solange dieses Gericht nicht feststehe, könne über die Anträge des Vaters des Kindes auf gerichtliche Anordnungen, die ihnen persönlichen Umgang miteinander ermöglichten, nicht befunden werden.

46.      Mit Beschluss vom 28. Oktober 2010 hat der Gerichtshof dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache dem Eilverfahren nach Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, stattgegeben.

47.      Die Rechtsmittelführerin und der Rechtsmittelgegner im Ausgangsverfahren, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die deutsche, die irische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben in der Sitzung vom 1. Dezember 2010 Erklärungen abgegeben.

IV – Vorbemerkungen

48.      Bevor ich mit der Untersuchung der Fragen des vorlegenden Gerichts beginne, sind zwei Punkte zu klären, die für die gesamten nachfolgenden Erwägungen von Bedeutung sind.

49.      Zum ersten Punkt, der die rechtliche Beurteilung des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts betrifft, sind vorerst keine langen Ausführungen erforderlich. Man muss bedenken, dass das Verbringen des Kindes sowohl im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 als auch im Sinne des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung rechtmäßig erfolgt ist, worüber, wie ich bei der Untersuchung der Erheblichkeit der zweiten und der dritten Frage noch ausführen werde(9), Einvernehmen zwischen dem Vater(10) und der Mutter des Kindes, den Regierungen, die Erklärungen abgegeben haben, und der Kommission besteht.

50.      Der zweite Punkt, der den für die Ermittlung der internationalen Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 maßgeblichen Zeitpunkt betrifft, bereitet dagegen etwas mehr Schwierigkeiten.

51.      Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt allgemein, dass das angerufene Gericht eines Mitgliedstaats ermitteln muss, ob das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung, d. h. dem Zeitpunkt der Anrufung des betreffenden Gerichts, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat. Hat das Kind an dem Tag, an dem dieses Gericht angerufen wird, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts, kann dieses sich für zuständig erklären. Wenn das Kind dagegen an dem Tag, an dem das Gericht angerufen wird, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts hat, kann sich dieses nicht für zuständig erklären, zumindest nicht auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003. Es kann sich jedoch eventuell, den Umständen entsprechend, auf der Grundlage der Art. 9, 10, 12 oder 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig erklären oder seine Zuständigkeit, gestützt auf Art. 13 oder 15 dieser Verordnung, ablehnen(11).

52.      In seinem Vorlagebeschluss nennt der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) zwei Zeitpunkte, die in dieser Hinsicht als relevant angesehen werden könnten, nämlich den 9. Oktober 2009, den Tag, an dem der Vater des Kindes sich telefonisch an den Duty High Court Judge gewandt hat, und den 12. Oktober 2009, den Tag, an dem der Vater in der Anhörung vor demselben Richter seine Anträge förmlich eingereicht hat. In seinem Beschluss vom 15. April 2010 legt der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, ausdrücklich dar, dass ab dem Abend des 9. Oktober 2009 ein englisches Gericht angerufen war und, ebenso wie der Vater, über ein Sorgerecht für das Kind verfügte.

53.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es zwar Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu bestimmen, welcher dieser beiden Tage als maßgeblich anzusehen ist, doch sind die Voraussetzungen, unter denen ein Gericht als angerufen gilt, in der Verordnung Nr. 2201/2003 selbst festgelegt.

54.      Art. 16 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt nämlich, dass ein Gericht zu dem Zeitpunkt als angerufen gilt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei diesem eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken(12).

55.      Unter den Umständen des Ausgangsverfahrens und unter Berücksichtigung der Informationen, die das vorlegende Gericht übermittelt hat, ist offensichtlich, dass nur der 12. Oktober 2009 als maßgeblich im Sinne von Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 angesehen werden kann, wobei sich jedoch das vorlegende Gericht vergewissern muss, dass die Zustellungsförmlichkeiten unter Beachtung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates(13) eingehalten wurden.

56.      Es ist jedoch zu betonen, dass das dem Gerichtshof vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines Rechtsmittels gegen zwei Beschlüsse zweier Spruchkörper eines Gerichts gestellt worden ist, in denen diese über ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 entschieden haben, wobei der erste sehr kurze Zeit nach der Abreise der Mutter mit dem Kind am 12. Oktober 2009, der zweite fast sechs Monate nach der Abreise am 15. April 2010 erlassen worden ist.

57.      Diese Besonderheit, mit der zusammenhängt, dass die erste Frage des vorlegenden Gerichts sehr allgemein gehalten ist, macht die Feststellung schwierig, ob dieses Gericht im Rechtsmittelverfahren über die Zuständigkeit der nachgeordneten Gerichte oder im Rahmen dieses Rechtsmittels über seine eigene Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 entscheiden möchte. Die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ist aber unter Berücksichtigung der Kriterien, die der Gerichtshof im Urteil A festgelegt hat, und derjenigen, die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache definiert werden, eine Aufgabe, die sich im ersten Fall viel schwieriger gestaltet als im zweiten(14). Die nachfolgenden Erwägungen gehen jedoch von der Prämisse aus, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zum Zeitpunkt der ersten Anrufung der englischen Gerichte am 12. Oktober 2009 erfolgen muss, wobei es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu entscheiden, welche Haltung es in dieser Hinsicht einzunehmen beabsichtigt.

V –    Zur ersten Frage

58.      In seiner ersten Frage bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ihm das für die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 geeignete „Kriterium“ zu nennen(15). Auf den ersten Blick ist es ziemlich schwierig, festzustellen, ob das vorlegende Gericht vom Gerichtshof eine allgemeine Antwort auf eine abstrakte Frage erwartet oder ob es im Gegensatz dazu eine Antwort erhalten möchte, die sich auf die Umstände des Rechtsstreits bezieht, mit dem es befasst ist. Es scheint jedoch, dass es um eine konkrete Antwort auf das Problem ersucht, mit dem es konfrontiert ist.

59.      In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht im Hinblick auf die Feststellung seiner Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 unmittelbar nach dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, wie er insbesondere in Art. 8 dieser Verordnung enthalten ist. Man könnte daraus schließen, dass die Zuständigkeit der nationalen Gerichte einzig und allein auf der Grundlage des gewöhnlichen Aufenthalts ermittelt werden kann. Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung ist jedoch Teil eines größeren Ganzen. In Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die darin begründete allgemeine Zuständigkeit nur dann gegeben ist, wenn keine andere Zuständigkeitsnorm eingreift, und der gewöhnliche Aufenthalt ist nur ein Kriterium von mehreren, das hilfsweise auch eine Zuständigkeit begründen kann.

60.      Von diesem Standpunkt aus ist gegenüber dem vorlegenden Gericht zu bemerken, dass das erste „Kriterium“, das seine Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 begründen kann, in der Stellung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in der Systematik dieser Verordnung zu suchen wäre. So wichtig der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auch sein mag, bietet er doch nur begrenzte Möglichkeiten. Er ist als Konzept zu verstehen, das zu gegebener Zeit anderen Konzepten oder alternativen Kategorien weichen können muss.

61.      Deshalb bin ich der Meinung, dass auf die erste Frage in zwei Schritten zu antworten ist. Im ersten Schritt werde ich die Bezugspunkte, die sich insbesondere aus dem Urteil A ergeben(16), so weit wie möglich vertiefen und dabei versuchen, immer die besonderen Umstände des Ausgangsfalls zu berücksichtigen, ohne mich jedoch bei der dem vorlegenden Gericht zukommenden Aufgabe, den ihm vorliegenden Rechtsstreit zu entscheiden, an seine Stelle zu setzen. In einem zweiten Schritt beabsichtige ich, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, auf alle Möglichkeiten hinzuweisen, die in der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Erreichung des von ihr verfolgten wesentlichen Ziels, die Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit zu gewährleisten, vorgesehen sind.

A –    Zur Ermittlung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ des Kindes

62.      In seinem Urteil A(17) hat der Gerichtshof eine Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgenommen, die so gestaltet ist, dass die nationalen Gerichte auf alle Fälle über ihre Zuständigkeit nach dieser Verordnung entscheiden können. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass die vom Gerichtshof in diesem Urteil vorgeschriebene Methodik nicht ausreicht. Es scheint nötig zu sein, ergänzende Hinweise zu geben, die es den nationalen Gerichten ermöglichen, Situationen zu erfassen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes verlagert worden ist.

1.      Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts: die Grundsätze des Urteils A

63.      Der Gerichtshof hat in seinem Urteil A erstens festgestellt, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht definiert und dass sie für die Ermittlung seines Sinnes und seiner Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Er hat daraus gemäß seiner Rechtsprechung geschlossen, dass bei dieser Ermittlung auf den Kontext der maßgeblichen Vorschrift oder Vorschriften und auf das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel abzustellen ist. Er hat insoweit auf das Ziel hingewiesen, das sich aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt, wonach die in ihr festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden(18).

64.      Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 ist somit ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff, der folglich eine autonome und einheitliche Auslegung in der gesamten Union erhalten muss(19). Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass diese Autonomie in einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber – identischen oder ähnlichen – Begriffen, die in anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts verwendet werden, wie dem der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer oder im Beamtenrecht, zum Ausdruck kommen muss(20).

65.      Zweitens hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes „anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln“ ist(21). Er hat erklärt, dass neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat Faktoren heranzuziehen sind, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist(22). Als zu berücksichtigende Faktoren nannte er insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat(23). Er hat weiter ausgeführt, dass die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein kann(24).

66.      Aus dem Urteil A ergibt sich somit, dass unter dem gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 „der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist“. Dieses Urteil beinhaltet jedoch tatsächlich mehr als eine Definition des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts. Es stellt in großen Zügen die wesentlichen Punkte eines Tests dar, der die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes ermöglicht. Dieser Test besteht in der Beurteilung und Abwägung objektiver und subjektiver, auf Quantität und Qualität bezogener oder Zeit und Intention betreffender Anhaltspunkte, die für die Feststellung der Integration eines Kindes in sein soziales und familiäres Umfeld geeignet sind, wobei die Integration eine gewisse Intensität aufweisen muss.

67.      Drittens hat der Gerichtshof entschieden, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes Sache der nationalen Gerichte ist, die eine Gesamtbetrachtung der Situation vornehmen und die verschiedenen maßgeblichen Punkte und Hinweise umfassend beurteilen müssen(25). Der Gerichtshof hat jedoch insoweit keine näheren Angaben zu den Pflichten gemacht, die in dieser Hinsicht für die nationalen Gerichte bestehen.

68.      Nach alledem könnte man der Meinung sein, dass das Urteil A, da es den Rahmen, die Kriterien und die Methode der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 nennt, bereits eine präzise und zugleich vollständige Antwort auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts enthält.

69.      Dies ist jedoch nicht die Meinung des vorlegenden Gerichts, das, obwohl es das Urteil A zwangsläufig sehr wohl kennt, dennoch der Ansicht war, diese Frage stellen zu müssen(26).

70.      Das vorlegende Gericht möchte somit offensichtlich, dass der Gerichtshof über die Erklärungen, die bereits im Urteil A enthalten sind, hinausgeht, dass er ihm genauere Hinweise gibt, anhand deren es das streitige Vorbringen der Parteien des Ausgangsverfahrens zu diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht abwägen und den Rechtsstreit, in dem es angerufen wurde, entscheiden kann. Die Frage des vorlegenden Gerichts ist also nicht mehr und nicht weniger als eine Bitte, die Kriterien zu präzisieren, anhand deren festgestellt werden kann, unter welchen Umständen im Fall eines Kindes, das mit seiner Mutter rechtmäßig das Gebiet eines Mitgliedstaats, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verlassen hat, davon ausgegangen werden kann, dass der ursprüngliche gewöhnliche Aufenthalt „verloren“ und ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt erlangt wurde.

2.      „Verlust“ und „Erlangung“ eines gewöhnlichen Aufenthalts bei rechtmäßigem Verbringen

a)      Die Voraussetzungen für eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts

71.      Um davon ausgehen zu können, dass ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts stattgefunden hat, muss ein „Verlust“ des ursprünglichen und die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts stattgefunden haben(27). Eine Person kann zwar tatsächlich mehrere „einfache“ Aufenthaltsorte haben, sie kann aber nur einen gewöhnlichen Aufenthalt haben. Außerdem ist die Situation einer Person, die beschließt, einen Mitgliedstaat zu verlassen, um sich in einem anderen niederzulassen und dort endgültig zu leben, nicht die gleiche, wie die einer Person, die zunächst ihren einfachen Aufenthaltsort vorübergehend in einen Mitgliedstaat verlegt, sich aber schließlich nach einer gewissen Zeit dort niederlässt. Im ersten Fall sind der Verlust des ursprünglichen und die Erlangung des neuen gewöhnlichen Aufenthalts Ereignisse, die gleichzeitig stattfinden. Im zweiten Fall wird der gewöhnliche Aufenthalt im neuen Mitgliedstaat wahrscheinlich erst nach Ablauf einer gewissen Zeit als erlangt angesehen werden können(28). Es ist jedoch noch zu ermitteln, welches die Anhaltspunkte für den Verlust und für die Erlangung eines gewöhnlichen Aufenthalts sind.

b)      Anhaltspunkte für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts

72.      Besondere Beachtung finden muss in dieser Hinsicht Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 sowie, unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, der Wille der Mutter des Kindes.

i)      Die sich aus Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergebenden Hinweise für die Auslegung

73.      Zieht ein Kind rechtmäßig von einem Mitgliedstaat in einen anderen um, in dem es einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, sieht Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Verlängerung der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts nur für einen Zeitraum von drei Monaten vor. Die Verordnung Nr. 2201/2003 nimmt somit an, dass ein Kind innerhalb von drei Monaten einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangen kann(29).

74.      Diese Vorschrift kann je nach verwendeter Sprachfassung nuanciert, wenn nicht sogar unterschiedlich ausgelegt werden. So lässt z. B. die deutsche Sprachfassung(30) vermuten, dass ein rechtmäßiger Umzug in der Regel die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts zur Folge hat, während sich aus der französischen Fassung(31) eindeutig ergibt, dass die Anwendbarkeit dieser Vorschrift voraussetzt, dass zum einen der Umzug des Kindes rechtmäßig war und dass es zum anderen einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

75.      Ohne lange auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf in mehreren Sprachen abgefasste Texte des Unionsrechts einzugehen, sei darauf hingewiesen, dass diese Vorschrift unter Berücksichtigung der gesamten Sprachfassungen sowohl anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört(32), als auch nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck(33) auszulegen ist.

76.      Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 stellt trotz seiner etwas irreführenden Überschrift(34) den Grundsatz auf, dass bei einem rechtmäßigen Umzug eines Kindes die Zuständigkeit auf die Gerichte des Mitgliedstaats seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts übergeht. Die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des ursprünglichen Aufenthaltsorts wird nur für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten aufrechterhalten, um demjenigen, der ein Umgangsrecht besitzt und der gezwungen ist, den Umzug des Kindes hinzunehmen, zu ermöglichen, die Gerichte anzurufen, die dieses Umgangsrecht gewährt haben, damit dieses an die neuen Umstände angepasst wird.

77.      Der maßgebliche Inhalt dieser Vorschrift ist somit die Forderung, dass der rechtmäßige Umzug eines Inhabers der elterlichen Sorge für ein Kind in einen anderen Mitgliedstaat in der Regel zur Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat führt. Folglich müsste, abgesehen von besonderen Umständen, ein rechtmäßiger Umzug in der Regel den Übergang der internationalen Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats der Abreise auf die Gerichte des Ankunftsmitgliedstaats zur Folge haben, die nach dem Grundsatz der räumlichen Nähe als am besten geeignet angesehen werden(35).

78.      Da Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 entnommen werden kann, dass der rechtmäßige Wechsel von einem Mitgliedstaat in einen anderen, sofern er alle Merkmale einer Niederlassung von unbestimmter und nicht nur vorübergehender Dauer in dem genannten Mitgliedstaat trägt, ein starker Anhaltspunkt für die Erlangung eines gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat ist, müsste dieser Anhaltspunkt in den Rang einer Vermutung, sei sie auch schwach, für die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts erhoben werden, mit der Folge, dass es der Partei, die diese Erlangung bestreitet, obliegt, Beweise dafür vorzulegen, dass es unter den fraglichen Umständen nicht zu einer solchen gekommen ist.

79.      Diese Hinweise sind zwar wichtig, sie sind jedoch sicher nicht die einzigen, die berücksichtigt werden müssen, weil die von den nationalen Gerichten vorzunehmende Prüfung auf alle Fälle am Ende einer umfassenden Beurteilung der Situation nach Maßgabe der im Urteil A gemachten Vorgaben und einer Abwägung aller maßgeblichen Umstände mit dem Ziel erfolgen muss, die Integration des Kindes in sein familiäres und soziales Umfeld zu ermitteln.

80.      Hier ist ergänzend anzumerken, dass es nicht zweckmäßig erscheint, für die Prüfung von Fällen der Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts durch die nationalen Gerichte starre Vorgaben zu machen, indem z. B. durch Richterrecht eine Standardfrist(36) festgesetzt wird, nach deren Ablauf eine Änderung des Wohnsitzes als bewirkt angesehen werden kann(37), oder indem vorgesehen wird, dass das rechtmäßige Verbringen eines Kindes ab dem Zeitpunkt seiner Durchführung den unmittelbaren Verlust seines ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts bewirkt(38). Diese beiden Ansätze stehen nämlich in direktem Widerspruch zu dem offenen und pragmatischen Ansatz, den der Gerichtshof im Urteil A befürwortet hat, ohne dass dieser zwangsläufig geeignet wäre, allen vorstellbaren Situationen zu begegnen.

ii)    Die Bedeutung des Willens der Mutter bei der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes, das rechtmäßig verbracht wurde

81.      Wie bereits ausgeführt wurde, ist es Sache des zuerst angerufenen Gerichts, zum Zeitpunkt seiner Anrufung den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes entsprechend der Methodik zu ermitteln, die der Gerichtshof im Urteil A vorgegeben hat. Auch wenn der Gerichtshof in diesem Urteil zu diesem Punkt keine Ausführungen gemacht hat, ist es offensichtlich, dass die Suche nach Hinweisen, die es diesem Gericht ermöglichen, seine Meinung zu bilden, gemäß den relevanten Vorschriften des nationalen Rechts, jedoch unter Beachtung des Rechts und der allgemeinen Grundsätze der Union erfolgen muss. Unter Umständen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, war die Berücksichtigung des Willens der Mutter des Kindes als der zum Zeitpunkt seines Verbringens alleinigen Inhaberin der elterlichen Sorge für das Kind ein besonders erheblicher Faktor.

82.      Im Ausgangsverfahren haben die Mutter und das Kind England am 7. Oktober 2009 verlassen. Die englischen Gerichte, die am 12. Oktober 2009 angerufen wurden und die ersten waren, die ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 festzustellen hatten, mussten somit ermitteln, ob das Kind schon mit der Abreise mit seiner Mutter seinen gewöhnlichen Aufenthalt in England verloren und zu dem Zeitpunkt, als die englischen Gerichte angerufen wurden, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich erlangt hatte.

83.      Offensichtlich konnte, wie sich aus dem Beschluss vom 15. April 2010 ergibt, der Wille der Mutter, England mit ihrer Tochter endgültig zu verlassen, einerseits aus einigen objektiven Tatsachen wie dem Kauf eines Flugtickets nur für einen Hinflug und aus mehreren Erklärungen, die diese Absicht mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck brachten, abgeleitet werden. Dass die Mutter ihr Auto, das sie in England besessen hatte, verkauft hatte, wurde dagegen insoweit nicht als hinreichend aufschlussreich angesehen. Andererseits jedoch konnte dieser Wille unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mutter weder ihren Arbeitgeber noch den Eigentümer ihrer Wohnung über ihre Abreise informiert hatte, auch ernsthaft bezweifelt werden.

84.      Im Übrigen bestanden zwar kaum Zweifel an der Absicht der Mutter, England zu verlassen, doch erlaubten andere Anhaltspunkte, ihre feste Absicht, sich auf La Réunion niederzulassen, zu bezweifeln. Es konnte u. a. aus dem kurz vor ihrer Abreise erfolgten Schriftwechsel und dabei insbesondere aus einer Karte, die am Tag der Abreise am Flughafen aufgegeben worden war, gefolgert werden, dass diese Abreise mehr einer Reaktion auf die Belastung durch die Drohungen des Vaters, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten, um die Anerkennung seiner elterlichen Sorge für das Kind zu erlangen, glich als einer reiflich überlegten Entscheidung, auf La Réunion ein neues Leben zu beginnen.

85.      Wie oben dargelegt, führt zwar das rechtmäßige Verlassen eines Mitgliedstaats und die Gründung eines neuen Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat nicht zwangsläufig, automatisch und unmittelbar zur Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts im zweiten Mitgliedstaat. Jedoch ist in einer Situation wie derjenigen, die im Ausgangsverfahren in Rede steht, dem Willen der Person, die allein Inhaberin der elterlichen Sorge für das Kind ist, entscheidendes Gewicht beizumessen, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung festgestellt hat.

86.      Dies war im Ausgangsverfahren umso mehr geboten, als das Kind zum Zeitpunkt seiner Verbringung ein Säugling war.

87.      Das Alter des Kindes kann sowohl im Rahmen der Prüfung des Verlusts des gewöhnlichen Aufenthalts als auch im Rahmen der Prüfung der Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts berücksichtigt werden. Da ein sehr kleines Kind von seiner Mutter besonders abhängig ist und diese seinen Lebenshorizont bildet, ist es offensichtlich, dass dem Willen einer Mutter, einen Mitgliedstaat rechtmäßig zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen oder erneut niederzulassen, entscheidende Bedeutung bei der Beurteilung des Verlusts des gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes zukommt. Der Umstand, dass das Kind noch sehr klein war, bedeutet im Übrigen, dass die Voraussetzungen für seine Integration in sein neues familiäres und soziales Umfeld sehr schnell erfüllt sein können.

88.      Diese entscheidende Berücksichtigung des Willens des alleinigen Inhabers der elterlichen Sorge bedeutet jedoch keinesfalls, dass andere Faktoren überhaupt nicht zu berücksichtigen sind.

89.      Dieser Wille muss vielmehr durch greifbare Beweise bestätigt werden können, bei denen es sich, wie der Gerichtshof im Urteil A ausgeführt hat, um den Erwerb oder die Anmietung einer Wohnung in dem neuen Mitgliedstaat handeln kann. Die Rückkehr in sein Heimatland oder zu seinen Familienangehörigen sind Anhaltspunkte, die bei der Beurteilung dieses Willens ebenfalls erheblich sind. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn wie im Ausgangsverfahren der Vater kurz vor der Geburt des Kindes die gemeinsame Wohnung verlassen hat. Unter solchen Umständen ist eine Beurteilung der Bedeutung der Abreise sowohl aufgrund psychologischer als auch wirtschaftlicher Erwägungen möglich.

90.      Wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung betont hat, kann dieser Wille nicht allein wegen einer Behauptung außer Acht gelassen werden, dass das Motiv für den Umzug des Kindes in erster Linie das Bestreben sei, das ausschließliche Sorgerecht für das Kind zu behalten.

91.      Der Vater des Kindes hat hierzu im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Abreise der Mutter mit dem Kind speziell zu dem Zweck erfolgt sei, ihr zu ermöglichen, sich der Rechtsprechung der englischen Gerichte zu entziehen, und mit dem Ziel, eine künstliche Verbindung zum Recht und zur Rechtsprechung eines anderen Mitgliedstaats herzustellen, wodurch gegen das in Art. 7 der Charta und Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierte Recht sowohl des Kindes als auch des Vaters auf ein Familienleben sowie gegen die in Art. 24 der Charta gewährleisteten Rechte des Kindes verstoßen werde. Die schädlichen Auswirkungen der Entführung von Kindern würden im wirklichen Leben spürbar und könnten nicht aufgrund abstrakter rechtlicher Erwägungen wie derjenigen betreffend die Frage, ob im Zeitpunkt des Verbringens des Kindes allein die Mutter oder beide Eltern Träger der elterlichen Verantwortung gewesen seien, relativiert werden. Weder die Verordnung Nr. 2201/2003 noch das Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung unterschieden danach, ob die Eltern verheiratet seien oder nicht.

92.      Selbst wenn dieses Vorbringen zuträfe, was aufgrund des bloßen Akteninhalts nicht festgestellt werden kann, muss es zurückgewiesen werden.

93.      Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes kein anderes Ziel verfolgt, als das Gericht festzustellen, das nach dem Grundsatz der räumlichen Nähe und dem Wohl des Kindes entsprechend als das dem Kind nächste Gericht gilt. Diese Untersuchung hat, wie bereits ausgeführt worden ist, aus der Perspektive des Kindes zu erfolgen und keinesfalls aus der Perspektive der Eltern, welche Berechtigung für ihren Antrag betreffend das Kind auch bestehen mag.

94.      Die nationalen Gerichte können nicht, ohne die Grundlagen der Verordnung Nr. 2201/2003 zu untergraben, ihre Zuständigkeit allein auf die Erwägung stützen, dass die berechtigten Ansprüche der Antragsteller durch die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nicht angemessen geschützt werden könnten.

95.      Im Ergebnis ist ganz besonders darauf zu bestehen, dass die nationalen Gerichte, die über ihre Zuständigkeit nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entscheiden haben, im Rahmen der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes und insbesondere für die Beurteilung, ob im Anschluss an ein rechtmäßiges Verbringen der gewöhnliche Aufenthalt tatsächlich verlagert worden ist, alle Maßnahmen zu treffen haben, die erforderlich sind, um der Person, die allein über die elterliche Sorge verfügt und auf die das Verbringen zurückgeht, zu ermöglichen, uneingeschränkt angehört zu werden. Es ist unerlässlich, dass diese Person nicht nur in der Lage ist, Erklärungen abzugeben, sondern dass alles getan wird, um ihr Gelegenheit zu geben, die Gründe für ihre Abreise darzulegen.

96.      Dem Vorlagebeschluss ist zu entnehmen, dass dies zwar vor dem Erlass des Beschlusses vom 15. April 2010 der Fall war, nicht aber vor dem Beschluss vom 12. Oktober 2009, dem Tag der ersten Anrufung eines Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Ausgangsverfahren.

B –    Zur Beurteilung der Zuständigkeit der nationalen Gerichte bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts

97.      Ausgehend von dem Grundsatz, dass der Gerichtshof mit seinem Urteil auf die Frage des vorlegenden Gerichts eine sachdienliche und vollständige Antwort geben und dabei zusätzlich allen Gerichten der Mitgliedstaaten, die die Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden haben, die Anhaltspunkte liefern muss, die ihnen eine Entscheidung über die eigene Zuständigkeit ermöglichen, ist der Hinweis angebracht, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 ein vollständiges und kohärentes System von Zuständigkeiten errichtet hat, in dessen Rahmen der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes nur eines, wenn auch das wichtigste, der Kriterien ist, anhand deren die nationalen Gerichte ihre Zuständigkeit feststellen müssen. Ich möchte deshalb zunächst eine gewisse Klärung der Aufgaben vornehmen, die den nationalen Gerichten aufgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 zukommen und zukommen müssen.

1.      Die Klärung der Aufgaben der nationalen Gerichte nach der Verordnung Nr. 2201/2003

98.      Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003, der die allgemeine Zuständigkeit des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes festlegt, findet gemäß seinem Abs. 2 nur vorbehaltlich der Art. 9, 10 und 12 dieser Verordnung Anwendung.

99.      Die Gerichte der Mitgliedstaaten, die über ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entscheiden haben, müssen dabei somit wie in Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung vorgegeben vorgehen. Sie müssen zunächst prüfen, ob sie nach den Art. 9, 10 und 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständig sind. Falls dies verneint wird, müssen sie ihre Zuständigkeit nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung im Rahmen und entsprechend der vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung und insbesondere im Urteil A für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorgeschriebenen Methode ermitteln.

100. Wenn nach dieser Methode der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden kann, müssen die angerufenen nationalen Gerichte auf der Grundlage der anderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 entscheiden, d. h. entweder nach Art. 13 dieser Verordnung, wenn der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes nicht festgestellt werden kann, oder nach Art. 15 dieser Verordnung, wenn sie es für angebracht halten, ihre Zuständigkeit auf der Grundlage des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abzulehnen(39).

101. Insoweit sind die unterschiedlichen Dimensionen der Aufgaben der nationalen Gerichte nach der Verordnung Nr. 2201/2003 zu betonen(40).

102. Nach Art. 17 der Verordnung Nr. 2201/2003 müssen sich die nationalen Gerichte von Amts wegen für unzuständig erklären, sofern ihre Zuständigkeit nach den Bestimmungen dieser Verordnung nicht gegeben ist und ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nach dieser Verordnung zuständig ist.

103. Jedoch kann sicherlich aus der Systematik der Verordnung Nr. 2201/2003 gefolgert werden, dass diese ihnen auch die Verpflichtung auferlegt, außer der Prüfung ihrer eigenen Zuständigkeit(41) – wobei sie gegebenenfalls die Parteien aufzufordern haben, Erklärungen in dieser Hinsicht abzugeben(42) – ihre Zuständigkeit von Amts wegen auf diese Verordnung zu stützen. Sie haben außerdem in diesem Rahmen zur Gewährleistung des Kindeswohls alle in Betracht kommenden Zuständigkeitsnormen und insbesondere die Möglichkeit zu prüfen, ihre eigene Zuständigkeit zugunsten eines besser geeigneten Gerichts zu verneinen.

104. Nichts anderes hat der Gerichtshof im Urteil A gesagt(43), in dem er den Ausnahmefall anführt, in dem der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes nicht festgestellt werden kann und das nationale Gericht somit gemäß Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 seine Zuständigkeit zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind befindet, verneinen muss. Ein nationales Gericht kann seine Zuständigkeit auch auf der Grundlage von Art. 16 dieser Verordnung verneinen. Diese beiden Möglichkeiten werden nacheinander untersucht.

2.      Die Untersuchung der Zweckmäßigkeit des Verweises an ein anderes Gericht

105.  Im Ausgangsverfahren werden die Voraussetzungen, unter denen ein Gericht an ein anderes Gericht verweisen könnte, sehr deutlich veranschaulicht. Der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, hätte angesichts der Zweifel, die er in seinem Beschluss vom 15. April 2010 zum Ausdruck gebracht hat, gemäß Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 seine Zuständigkeit sicher verneinen können. Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) könnte seinerseits im Hinblick auf den Verlauf des Falles beschließen, die Rechtssache an die französischen Gerichte zu verweisen, die nunmehr gewiss besser geeignet sind, über den Rechtsstreit zu entscheiden.

a)      Die Verweisung an das Gericht des Ortes, an dem sich das Kind befindet: Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003

106. Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor, dass, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt und die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 12 dieser Verordnung bestimmt werden kann, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem sich das Kind befindet.

107. Das vorlegende Gericht hat in der Begründung seines Vorlagebeschlusses gefragt, ob davon ausgegangen werden könne, dass das Kind am 12. Oktober 2009 keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr gehabt habe.

108. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen diese Möglichkeit erwähnt. Unter Bezugnahme auf ein Urteil von Richter Brandon of Oakbrook(44) betont sie, dass eine Person tatsächlich an einem Tag ihren gewöhnlichen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat aufgeben könne, wenn sie diesen in der festen Absicht verlasse, nicht dorthin zurückzukehren, und an Ort und Stelle beschließe, ihren Wohnsitz auf Dauer in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Diese Person könne jedoch im zweiten Mitgliedstaat nicht an einem Tag einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangen, da dafür ein relativ langer Zeitraum und eine feste Absicht erforderlich seien. Während dieses relativ langen Zeitraums habe die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt im ersten Mitgliedstaat verloren, ohne jedoch einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt im zweiten Mitgliedstaat erlangt zu haben. Die Kommission schließt daraus, dass es Sache des Gerichts sei, zu ermitteln, ob die Mutter die feste Absicht gehabt habe, nicht nach England zurückzukehren, wobei diese gemäß dem nationalen Recht des vorlegenden Gerichts den Beweis dafür erbringen müsse.

109. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat ebenfalls, mit etwas anderen Worten, geltend gemacht, dass ein nationales Gericht, nach Berücksichtigung aller relevanten Faktoren und unter Berufung auf die Besonderheiten des konkreten Falles, zu dem Schluss kommen könne, dass ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, unmittelbar nachdem es diesen verlassen habe, verlieren könne. Sie führt insoweit aus, dass eine solche Situation keine Schmälerung des Schutzes des Kindes bedeute, da Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 gerade die Zuständigkeit des Mitgliedstaats vorsehe, in dem sich das Kind befinde.

110. Man könnte somit erneut betonen, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 erfüllt sind und ob diese Vorschrift folglich anzuwenden ist.

b)      Die Verweisung an das am besten geeignete Gericht: Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 und die Einrede des forum non conveniens

111. Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor, dass in Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohle des Kindes entspricht, das Gericht eines Mitgliedstaats, das zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall besser beurteilen kann, die Prüfung des Falls aussetzen und die Parteien auffordern kann, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Abs. 4 dieses Artikels zu stellen, oder ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen kann, sich gemäß Abs. 5 dieses Artikels für zuständig zu erklären.

112. Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor, dass diese Möglichkeit u. a. vom angerufenen nationalen Gericht von Amts wegen genutzt werden kann.

113. Man könnte deshalb betonen, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 bei dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens vorliegen und ob diese Vorschrift infolgedessen anwendbar ist.

C –    Ergebnis

114. Auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts ist deshalb wie folgt zu antworten. Allgemein muss ein nationales Gericht, bei dem ein Antrag betreffend die elterliche Verantwortung für ein Kind gestellt wurde, ausdrücklich über seine Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 entscheiden, nachdem es die verschiedenen Rechtsgrundlagen, auf die diese Zuständigkeit nach der genannten Verordnung gestützt werden kann, nacheinander geprüft hat. Es hat im Rahmen dieser Prüfung zum Wohl des Kindes dessen gewöhnlichen Aufenthalt unter Würdigung aller tatsächlichen Umstände des in Rede stehenden Sachverhalts festzustellen. Insbesondere unter Umständen wie denjenigen des Ausgangsverfahrens, das zum einen durch die Rechtmäßigkeit des Verbringens eines Kindes von einem Mitgliedstaat, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in einen anderen Mitgliedstaat und zum anderen durch die unmittelbare, aber nachträgliche Anrufung eines Gerichts im Mitgliedstaat des ursprünglichen Aufenthalts gekennzeichnet ist, muss dieses Gericht genauer gesagt feststellen, ob dieses Verbringen tatsächlich kurzfristig den Verlust des ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes und die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts im neuen Mitgliedstaat zur Folge hat. Dabei muss es den Willen der Person, die die elterliche Sorge innehat und auf die das rechtmäßige Verbringen zurückgeht, entscheidend und erkennbar berücksichtigen, wobei es insbesondere dem Alter des Kindes Rechnung tragen und dieser Person die Gelegenheit gegeben haben muss, Erklärungen abzugeben und uneingeschränkt die Gründe für dieses Verbringen darzulegen. Die Person, die die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts unter solchen Umständen bestreitet, hat Beweise dafür beizubringen, dass der Wille, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem neuen Mitgliedstaat zu begründen, nicht der Grund für dieses Verbringen war. Schließlich hat das nationale Gericht, wenn es ihm nicht möglich ist, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zu ermitteln, dies festzustellen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der räumlichen Nähe über seine eigene Zuständigkeit auf der Grundlage von Art. 13 oder Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entscheiden.

VI – Zur zweiten und zur dritten Frage

A –    Vorbemerkungen zur Erheblichkeit der Vorlagefragen

1.      Problemstellung

115. Mit der ersten Frage(45), zweiter Gedankenstrich, und der dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, der die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung regelt.

116. Außerdem möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen, ob ein Gericht eine „Behörde oder sonstige Stelle“ im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 sein kann, Begriffe und ein Ausdruck, die nur in den Art. 10 und 11 dieser Verordnung verwendet werden.

117. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, das vorlegende Gericht begründe nicht, warum eine Antwort auf diese Frage für die Entscheidung des ihm vorliegenden Rechtsstreits erforderlich sei. Jedoch scheine diese Frage von der Prämisse auszugehen, dass, wenn die englischen Gerichte bereits am 9. Oktober 2010 ein Sorgerecht erworben hätten, die Nichtrückführung des Kindes nach England rechtswidrig sei und somit zur Anwendung sowohl des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung als auch von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 führe, in dem gerade die Rückgabe des Kindes bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten geregelt werde.

118. Der Vater des Kindes trägt insoweit u. a. vor, auch wenn die Abreise der Mutter mit dem Kind ursprünglich nicht rechtswidrig gewesen sei, sei die Nichtrückführung des Kindes nach England rechtswidrig gewesen, da die Mutter den verschiedenen Anordnungen der englischen Gerichte nicht nachgekommen sei.

119. Man könnte bei der zweiten Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts insoweit auch davon ausgehen, dass sie sich implizit auf Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 bezieht.

120. Den Fragen des vorlegenden Gerichts ist somit zu entnehmen, dass dieses zumindest implizit der Ansicht ist, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt mit einer Kindesentführung vergleichbar ist und dass folglich sowohl das Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung als auch die Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 anwendbar sind.

121. Dem Vorlagebeschluss ist aber zu entnehmen, dass die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens England mit dem Ziel La Réunion rechtmäßig verlassen hat, was im Übrigen im Beschluss des High Court of Justice (England & Wales), Family Division, vom 15. April 2010 festgestellt worden ist. Die Vorlageentscheidung weist nämlich darauf hin, dass die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens allein Trägerin der elterlichen Verantwortung für das Kind und somit die einzige Person war, die über ein Sorgerecht im Sinne der Art. 3 und 5 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung verfügte.

122. Das vorlegende Gericht erklärt, dass einem Vater in England und Wales nicht kraft Gesetzes die elterliche Verantwortung für ein außerehelich geborenes Kind zukomme. Er könne diese elterliche Verantwortung jedoch entweder dadurch erhalten, dass er als Vater in der Geburtsurkunde des Kindes eingetragen werde, oder durch eine Vereinbarung mit der Mutter über die elterliche Verantwortung oder durch Gerichtsbeschluss, mit dem ihm die elterliche Verantwortung übertragen werde („parental responsibility order“).

123. Die deutsche und die französische Regierung haben in der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden tatsächlichen Umstände ebenfalls Zweifel an der Erheblichkeit dieser Fragen des vorlegenden Gerichts geäußert.

2.      Würdigung

124. Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur vorliegen kann, wenn ein Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung, kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

125. Im vorliegenden Fall war, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat und worüber sowohl zwischen der Rechtsmittelführerin und dem Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens als auch der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen sowie der deutschen, der irischen und der französischen Regierung in ihren mündlichen Ausführungen Einvernehmen besteht, die Abreise der Mutter mit dem Kind rechtmäßig. Sie erfolgte weder unter Verletzung des Sorgerechts des Vaters des Kindes noch unter Verletzung des Sorgerechts einer anderen Behörde oder einer sonstigen Stelle(46).

126. Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, der eine besondere Zuständigkeitsregel in Fällen von Kindesentführung vorsieht, ist aber gerade nur bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 anwendbar.

127. Wie der Gerichtshof im Urteil McB.(47) entschieden hat, hängt die für die Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 zu beurteilende Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes ausschließlich vom Bestehen eines vom anwendbaren nationalen Recht zuerkannten Sorgerechts ab, das mit dem Verbringen verletzt wurde.

128. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil auch entschieden, dass diese Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 mit den in der Charta gewährleisteten Rechten, insbesondere ihren Art. 7 und 24, die das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die Grundrechte des Kindes garantieren, nicht unvereinbar ist, sofern dem Vater des Kindes das Recht gewährt wurde, vor dem Verbringen die Zuerkennung eines Sorgerechts für sein Kind zu beantragen(48).

129. In dieser Hinsicht ist noch hinzuzufügen, dass nach Art. 3 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung ein „widerrechtliches Verbringen“ oder „widerrechtliches Zurückhalten“ eines Kindes nur unter zwei Voraussetzungen vorliegen kann. Erstens muss ein Sorgerecht verletzt worden sein, das nach dem Recht des Staates besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte(49). Zweitens muss dieses Recht tatsächlich ausgeübt worden sein(50).

130. Art. 3 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung präzisiert im Übrigen in Abs. 2, dass das fragliche Sorgerecht insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht dieses Staates wirksamen Vereinbarung bestehen kann. Mit anderen Worten, die Übertragungsformen des Sorgerechts im Sinne des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung entsprechen den im Recht von England und Wales vorgesehenen drei Übertragungsformen der elterlichen Verantwortung.

131. Somit scheint Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 unter Berücksichtigung der Informationen, die das vorlegende Gericht selbst dem Gerichtshof übermittelt hat und die nicht bestritten werden, nicht auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt anwendbar zu sein.

132. Gleichwohl haben sowohl die Rechtsmittelführerin und der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens als auch die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen sowie die deutsche, die irische und die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung trotz ihrer insoweit bestehenden Zweifel Wert darauf gelegt, in ihren Antworten auf diese Fragen einzugehen.

133. Ich möchte deshalb im Folgenden die zweite und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts kurz, aber nur subsidiär prüfen.

134. Allerdings bietet die vorliegende Rechtssache die Gelegenheit, die nationalen Gerichte daran zu erinnern, dass es zu ihren Pflichten im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV gehört, die Gründe darzulegen, aus denen sie eine Antwort auf ihre Frage oder Fragen für ihre Entscheidung in dem Rechtsstreit, mit dem sie befasst sind, für erforderlich halten. Diesem Erfordernis kommt im Rahmen von Eilvorlageverfahren ganz besondere Bedeutung zu.

B –    Zur zweiten Frage

135. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorliegende Gericht wissen, ob ein Gericht eine „Behörde oder sonstige Stelle“ sein kann, der für die Zwecke der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Sorgerecht zugewiesen werden kann.

136. Wie oben in den Vorbemerkungen ausgeführt worden ist, erfordert diese Frage eine Auslegung der Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, den einzigen Bestimmungen dieser Verordnung, in denen im Zusammenhang mit dem Sorgerecht eine „Behörde“ oder „sonstige Stelle“ erwähnt wird(51).

137. Die Verordnung Nr. 2201/2003 definiert nicht, was unter „Behörde“ im Sinne ihrer Art. 10 und 11 zu verstehen ist.

138. Im Urteil McB.(52) hat der Gerichtshof insoweit ausgeführt, dass im Unterschied zum Begriff „Sorgerecht“, bei dem es sich um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff handelt, der gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten autonom ist, weil er in Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 definiert wird, die Bestimmung des Inhabers des Sorgerechts unter Berücksichtigung des Wortlauts von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung unter das Recht der Mitgliedstaaten fällt (53).

139. Die Rechtsmittelführerin und der Rechtsmittelgegner im Ausgangsverfahren, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die irische und die französische Regierung sowie die Kommission haben allgemein auf das Urteil McB. verwiesen und dabei in ihren Schriftsätzen oder in ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung betont, es sei kein Einwand ersichtlich, der der Übertragung eines Sorgerechts auf ein Gericht entgegenstehe.

140. Nur die deutsche Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, es sei nicht möglich, einem Gericht, das gerade mit einem Antrag in Bezug auf das Sorgerecht für ein Kind nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 befasst sei, die Eigenschaft einer Behörde im Sinne von Art. 10 und 11 dieser Verordnung zuzuerkennen, ohne die einheitliche Anwendung dieser Verordnung zu beeinträchtigen. Gleichwohl schließe die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht die Möglichkeit aus, einem Gericht ein solches Recht zuzuerkennen.

141. Es besteht somit allgemein die Auffassung, dass, wie der Gerichtshof im Urteil McB. entschieden hat, die Voraussetzungen der Zuerkennung des Sorgerechts und der elterlichen Verantwortung unter das Recht der Mitgliedstaaten fallen. Die Frage, ob der Begriff „Behörde“ in Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 in diesem Rahmen ebenfalls den Mitgliedstaaten zu überlassen ist, könnte im Hinblick auf den Einwand der deutschen Regierung diskutiert werden.

142. In dieser Hinsicht kann festgestellt werden, dass Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 das „Sorgerecht“ definiert als „die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes“. Nach Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung ist das so definierte Sorgerecht eines der Merkmale der elterlichen Verantwortung, die wiederum als „die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden“, definiert wird.

143. Der Vergleich von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 2201/2003, in dem die elterliche Verantwortung ohne Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten definiert wird, und von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung, der das widerrechtliche Verbringen und Zurückhalten definiert, könnte eine Auslegung erlauben, wonach es Sache des Gerichtshofs wäre, zu bestimmen, was der Begriff „Behörde“ im Sinne dieser beiden Vorschriften umfasst.

144. Man kann sich jedoch sehr schwer vorstellen, dass es dem Gerichtshof wirklich möglich ist, diesem Begriff eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben, unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschriften und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels(54) und in dem Bemühen, ihm eine Bedeutung zu verleihen, die geeignet ist, den Zweck der Regelung in vollem Umfang zu erfüllen, während er im Übrigen auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist(55).

145. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die irische Regierung haben jedenfalls in der mündlichen Verhandlung betont, wie wichtig es sei, einem Gericht die Eigenschaft einer Behörde zuerkennen zu können, die für die Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 und die Anwendung des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung Inhaberin des Sorgerechts sei. In manchen Mitgliedstaaten wie in Irland, England und Wales würden die Rechte im Bereich der Verantwortung und der Sorgerechte leiblichen Vätern nicht automatisch zuerkannt, diese könnten sie nur mit Zustimmung der Mutter oder, ohne eine solche Zustimmung, durch Entscheidung der zuständigen Gerichte erlangen. Unter diesen Umständen sei es zwingend erforderlich, dass die von den leiblichen Vätern mit Anträgen auf Anerkennung ihrer elterlichen Sorge angerufenen Gerichte ein Sorgerecht besäßen. Ohne ein solches Recht könnten die angerufenen Gerichte nicht verhindern, dass die Mütter in der Erwartung von Beschlüssen, mit denen möglicherweise die elterliche Sorge den Vätern zugesprochen werde, nach der Einleitung von Verfahren das Hoheitsgebiet verließen, um sich diesen zu entziehen.

146. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission in Beantwortung des Vorbringens der deutschen Regierung ausgeführt, dass das Sorgerecht, das Gerichten in diesen Mitgliedstaaten zuerkannt werde, auf der Grundlage ihrer Rechtsvorschriften und somit kraft Gesetzes und nicht allein wegen des Umstands, dass sie angerufen wurden, zuerkannt werde.

147. Folglich wird vorgeschlagen, auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 2 Nrn. 7, 9, und 11 sowie die Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen sind, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats eine „Behörde oder sonstige Stelle“ im Sinne dieser Vorschriften sein kann, der ein Sorgerecht für die Zwecke der Vorschriften dieser Verordnung zuerkannt werden kann, sofern die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorsehen, dass die Zuerkennung dieses Sorgerechts kraft Gesetzes erfolgt.

C –    Zur dritten Frage

148. Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts betrifft die Auslegung der Art. 10 und 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, genauer gesagt die Regeln, die gelten, wenn einander widersprechende Beschlüsse von Gerichten zweier Mitgliedstaaten gleichzeitig vorliegen, wobei der eine auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 und der andere auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung erlassen wurde.

1.      Erklärungen der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Regierungen der betroffenen Mitgliedstaaten und der Kommission

149. Die Mutter des Kindes macht hauptsächlich geltend, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht anwendbar sei, da das Verbringen des Kindes rechtmäßig gewesen sei. Gleichwohl erklärt sie, dass auf den ersten Absatz der dritten Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten sei, dass Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht weiter anwendbar sei, nachdem die Gerichte des ersuchten Staates einen Antrag auf Rückgabe des Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung zurückgewiesen hätten. Sie schlägt dagegen keine unmittelbare Antwort auf den zweiten Absatz der dritten Frage des vorlegenden Gerichts vor. Sie beschränkt sich auf den Hinweis, dass es nach dem System der Verordnung Nr. 2201/2003 bei korrekter Durchführung möglich sein müsse, jeden Konflikt zu vermeiden, und betont insoweit die Notwendigkeit der Nutzung des Europäischen Justiziellen Netzes sowie die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung der Rechtshängigkeitsregeln und der genauen Beachtung der Regeln über die Anrufung der Gerichte in Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003. Jedenfalls sei es, wenn das Zuständigkeitsproblem nicht gelöst werden könne, Sache der nationalen Gerichte, Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden, um das Wohl des Kindes unter Beachtung der Charta und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen.

150. Der Vater des Kindes macht geltend, da ein Antrag im Bereich der elterlichen Verantwortung zuerst bei den englischen Gerichten gestellt worden sei, hätte das französische Gericht, bei dem die Mutter am 28. Oktober 2009 einen identischen Antrag gestellt habe, gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 das Verfahren aussetzen müssen, bis die Zuständigkeit der englischen Gerichte geklärt sei. Die Entscheidung des französischen Gerichts vom 15. März 2010 über den Antrag auf Rückgabe des Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung habe die Zuständigkeit des französischen Gerichts nicht begründen können.

151. Die Regierung des Vereinigten Königreichs erinnert daran, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 nach ihrem Art. 60 Buchst. e Vorrang vor dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung habe, dass aber nach Art. 62 der Verordnung Nr. 2201/2003 dieses Übereinkommen seine Wirksamkeit für die Rechtsgebiete behalte, die durch die genannte Verordnung nicht geregelt würden. Die Verordnung Nr. 2201/2003 regele die Anwendung des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung nur begrenzt, wenn auf dessen Grundlage ein Antrag gestellt werde, und das Gericht eines Mitgliedstaats, das zuerst mit einem Fall betreffend die elterliche Verantwortung befasst worden sei, sei bei der Prüfung seiner Zuständigkeit nach der genannten Verordnung durch die Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, das über einen auf dieses Übereinkommen gestützten Antrag entschieden habe, nicht gebunden.

152. Die deutsche Regierung, die in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, die dritte Frage des vorlegenden Gerichts sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich, da das Verbringen des Kindes rechtmäßig gewesen sei, hat gleichwohl ihren Standpunkt hierzu dargelegt. Sie hat insoweit ausgeführt, dass zwar Art. 17 der Verordnung Nr. 2201/2003 den Gerichten der Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlege, ihre Zuständigkeit nach dieser Verordnung wie nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung zu prüfen, dass es aber keine Bestimmung dafür gebe, welches Gericht in letzter Instanz entscheide. Da sich beide Rechtsinstrumente auf die gleichen Voraussetzungen stützten und die Mitgliedstaaten diese zu beachten hätten und für die Einheitlichkeit ihrer Entscheidungen sorgen müssten, müsse ihr Ineinandergreifen ermöglichen, jeden Konflikt zu vermeiden. Da jedoch die Verfahrensvorschriften und Beweisregeln verschieden seien, könne es vorkommen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats seine Zuständigkeit auf Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 stütze, während ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuvor einen Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung zurückgewiesen habe.

153. Die französische Regierung führt zunächst aus, da Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht anwendbar sei, sei der erste Absatz der dritten Frage des vorlegenden Gerichts nicht erheblich. Zur Beantwortung des zweiten Absatzes der dritten Frage des vorlegenden Gerichts trägt sie vor, dass ein Gericht, das auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung angerufen worden sei, einen eventuellen Konflikt hinsichtlich der Anrufung zwischen zwei Gerichten, die auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 angerufen worden seien, nicht regeln könne. Ein solcher Konflikt hinsichtlich der Anrufung werde dagegen in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 geregelt.

154. Die Kommission antwortet auf die dritte Frage mit einem Hinweis auf die Regeln der Art. 8, 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003. Erstens könne sich das englische Gericht auf der Grundlage von Art. 8 dieser Verordnung für zuständig erklären, wenn die Voraussetzung in Bezug auf den gewöhnlichen Aufenthalt erfüllt sei. Die – vorläufige oder endgültige – Entscheidung, die es auf dieser Grundlage erlasse, sei somit gemäß den Bestimmungen des Kapitels III dieser Verordnung vollstreckbar. Die Anrufung eines Gerichts führe zur Anwendung von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, so dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag wegen desselben Anspruchs gestellt werde, das Verfahren aussetzen müsse.

155. Zweitens führt sie aus, dass es den englischen Gerichten nicht freistehe, sich auf der Grundlage von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig zu erklären, dass jedoch die auf diese Grundlage gestützte Anrufung eines Gerichts gleichfalls die Anwendung der Vorschriften über die Rechtshängigkeit bewirke, es sei denn, es werde nur ein Antrag auf einstweilige Maßnahmen gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestellt.

156. Sie ist drittens der Ansicht, dass Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 dazu verpflichte, zu unterscheiden zwischen der Zuständigkeit des ersuchten Staates, zu bestimmen, ob die Rückgabe des Kindes anzuordnen sei, und der Kompetenz des Ursprungsmitgliedstaats, eine solche Entscheidung aufzuheben. Der ersuchte Staat sei nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung nicht nach Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständig, weil das in diesem Mitgliedstaat angerufene Gericht zuständig sein müsse, über die Vorfrage zu entscheiden, ob das Kind im Sinne von Art. 3 der genannten Konvention widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden sei. Wenn dieses Gericht zu dem Ergebnis komme, dass dies nicht der Fall sei, könne diese Entscheidung das später nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 angerufene Gericht des Ursprungsstaats nicht binden.

157. Die Kommission kommt somit zum Ergebnis, dass die Entscheidungen eines ersuchten Staates auf die Durchführung des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung beschränkt seien und keine Auswirkung auf die allgemeinen Zuständigkeiten nach der Verordnung Nr. 2201/2003 haben könnten.

2.      Würdigung

158. Es ist festzustellen, dass die Antworten auf die dritte Frage sehr unterschiedlich sind. Wie die Kommission in ihrem Schriftsatz bemerkt hat, entspricht diese Frage in ihrer Formulierung durch das vorlegende Gericht nicht ganz dem Wortlaut der von ihm gestellten Doppelfrage. In dieser Hinsicht ist somit eine Klärung erforderlich.

a)      Klärung der dritten Frage

159. Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 noch anwendbar ist, nachdem die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats einen Antrag auf Rückführung des Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung mit der Begründung zurückgewiesen haben, dass die Anwendungsvoraussetzungen der Art. 3 und 5 dieses Übereinkommens nicht erfüllt seien.

160. Es möchte zweitens wissen, ob das französische Gericht, das am 15. März 2010 den Antrag des Vaters auf Rückgabe des Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung mit der Begründung zurückgewiesen hatte, dass er kein Sorgerecht im Sinne der Art. 3 und 5 dieses Übereinkommens habe, sich auf dieser Grundlage für zuständig erklären konnte, über den Rechtsstreit bezüglich der elterlichen Verantwortung für das Kind zu entscheiden, oder ob es vielmehr den High Court of Justice (England & Wales), Family Division, als gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuerst angerufenes Gericht ansehen müsse.

161. Die beiden Fragen betreffen somit im Wesentlichen die Anwendung der Rechtshängigkeitsregeln der Verordnung Nr. 2201/2003 auf zwei unterschiedliche Sachverhalte. Im ersten bestehen zwei widersprüchliche Entscheidungen von Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten, von denen die eine auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 und die andere auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung erlassen wurde. Beim zweiten Sachverhalt bestehen zwei widersprüchliche Entscheidungen von Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten, die aber beide auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassen worden sind.

b)      Konflikt zwischen einer auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassenen und einer auf der Grundlage des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung erlassenen Entscheidung

162. Dieser Fall betrifft die Situation(56), dass einerseits die unter die Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 fallenden Entscheidungen der englischen Gerichte, die sich für zuständig erklärt haben, auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 einen die elterliche Verantwortung betreffenden Rechtsstreit zu entscheiden, und andererseits die französische Entscheidung, mit der der nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung im Rahmen desselben Rechtsstreits gestellte Antrag des Vaters als unbegründet zurückgewiesen wurde, gleichzeitig bestehen.

163. Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält meines Erachtens die Antwort auf diese Frage. Diese Vorschrift sieht nämlich die Möglichkeit vor, dass ein nach der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats die Rückgabe eines Kindes anordnet, nachdem in einer nach Art. 13 des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung ergangenen Entscheidung die Rückgabe des Kindes abgelehnt worden war.

c)      Konflikt zwischen Entscheidungen, die auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen sind

164. In diesem Fall geht es um die Situation, dass einerseits die Entscheidungen der englischen Gerichte vom 12. Oktober 2009 und vom 15. April 2010 und andererseits die Entscheidung des französischen Gerichts vom 23. Juni 2010 gleichzeitig bestehen, in denen über ihre Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 entschieden wurde, um eine Entscheidung in demselben Rechtsstreit im Bereich der elterlichen Verantwortung zu treffen, wenn auch auf einer unterschiedlichen Grundlage.

165. Die Vorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Rechtshängigkeit, im vorliegenden Fall Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung, sollen gerade einen solchen Sachverhalt regeln. Es oblag dem französischen Gericht, das Verfahren auszusetzen, bis die Zuständigkeit des englischen Gerichts, das zuerst angerufen worden war, geklärt war(57).

166. Ferner ist zu bemerken, dass der Umstand, dass die Entscheidung des französischen Gerichts auf der früheren Entscheidung desselben Gerichts beruht, mit der der nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung gestellte Antrag des Vaters als unbegründet zurückgewiesen worden war, diese Feststellung in keiner Hinsicht ändert, da die erste Entscheidung auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassen wird.

d)      Ergebnis

167. Infolgedessen ist auf die dritte Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass erstens die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie der Befugnis eines nach Art. 10 dieser Verordnung zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, alle Maßnahmen zu erlassen, um die Rückgabe des Kindes zu gewährleisten, nachdem in einer in Anwendung des Haager Übereinkommens über die internationale Kindesentführung getroffenen Entscheidung die Rückgabe des Kindes abgelehnt worden war, nicht entgegensteht, dass zweitens Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag betreffend die elterliche Verantwortung gestellt wird, das Verfahren aussetzen muss, sobald es später angerufen wird als das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag wegen desselben Anspruchs gestellt wurde, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist. Der Umstand, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts auf Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestützt ist und die Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts auf einer zu einem früheren Zeitpunkt nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung erlassenen Entscheidung beruht, mit der die Rückgabe mit der Begründung verweigert wurde, dass die Voraussetzungen der Art. 3 und 5 des genannten Übereinkommens nicht erfüllt seien, ist insoweit ohne Bedeutung, da das später angerufene Gericht nach der genannten Verordnung zuständig ist.

VII – Entscheidungsvorschlag

168. Nach alledem und unter Hinweis auf die Vorbehalte hinsichtlich der Erheblichkeit der zweiten und der dritten Frage, schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) wie folgt zu beantworten:

1.      Allgemein muss ein nationales Gericht, bei dem ein Antrag betreffend die elterliche Verantwortung für ein Kind gestellt wurde, ausdrücklich über seine Zuständigkeit nach der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 entscheiden, nachdem es die verschiedenen Rechtsgrundlagen, auf die diese Zuständigkeit nach der genannten Verordnung gestützt werden kann, nacheinander geprüft hat.

Es hat im Rahmen dieser Prüfung zum Wohl des Kindes dessen gewöhnlichen Aufenthalt unter Würdigung aller tatsächlichen Umstände des in Rede stehenden Sachverhalts festzustellen.

Insbesondere unter Umständen wie denjenigen des Ausgangsverfahrens, das zum einen durch die Rechtmäßigkeit des Verbringens eines Kindes von einem Mitgliedstaat, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in einen anderen Mitgliedstaat, und zum anderen durch die unmittelbare, aber nachträgliche Anrufung eines Gerichts im Mitgliedstaat des ursprünglichen Aufenthalts gekennzeichnet ist, muss dieses Gericht genauer gesagt feststellen, ob dieses Verbringen tatsächlich kurzfristig den Verlust des ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes und die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts im neuen Mitgliedstaat zur Folge hat.

Dabei muss es den Willen der Person, die die elterliche Sorge innehat und auf die das rechtmäßige Verbringen zurückgeht, entscheidend und erkennbar berücksichtigen, wobei es insbesondere dem Alter des Kindes Rechnung tragen und dieser Person die Gelegenheit gegeben haben muss, Erklärungen abzugeben und uneingeschränkt die Gründe für dieses Verbringen darzulegen.

Die Person, die die Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts unter solchen Umständen bestreitet, hat Beweise dafür beizubringen, dass der Wille, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem neuen Mitgliedsstaat zu begründen, nicht der Grund für dieses Verbringen war.

Schließlich hat das nationale Gericht, wenn es ihm nicht möglich ist, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zu ermitteln, dies festzustellen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der räumlichen Nähe über seine eigene Zuständigkeit auf der Grundlage von Art. 13 oder Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entscheiden.

2.      Art. 2 Nrn. 7, 9, und 11 sowie die Art. 10 und 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 sind dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats eine „Behörde oder sonstige Stelle“ im Sinne dieser Vorschriften sein kann, der ein Sorgerecht für die Zwecke der Vorschriften dieser Verordnung zuerkannt werden kann, sofern die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorsehen, dass die Zuerkennung dieses Sorgerechts kraft Gesetzes erfolgt.

3.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass sie der Befugnis eines nach Art. 10 dieser Verordnung zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, alle Maßnahmen zu erlassen, um die Rückgabe des Kindes zu gewährleisten, nachdem in einer in Anwendung des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung getroffenen Entscheidung die Rückgabe des Kindes abgelehnt worden war, nicht entgegensteht.

Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag betreffend die elterliche Verantwortung gestellt wird, das Verfahren aussetzen muss, sobald es später angerufen wird als das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag wegen desselben Anspruchs gestellt wurde, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist. Der Umstand, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts auf Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestützt ist und die Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts auf einer zu einem früheren Zeitpunkt nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung erlassenen Entscheidung beruht, mit der die Rückgabe mit der Begründung verweigert wurde, dass die Voraussetzungen der Art. 3 und 5 des genannten Übereinkommens nicht erfüllt seien, ist insoweit ohne Bedeutung, da das später angerufene Gericht nach der genannten Verordnung zuständig ist.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 338, S. 1.


3 – C‑523/07, Slg. 2009, I‑2805.


4 – Im Folgenden: Charta.


5 – RTNU, 1983, Bd. 1343, Nr. 22514, S. 89, im Folgenden: Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung.


6 – Rechtssache H (Abduction: Rights of custody) [2000] 1 FLR 374.


7 – Siehe Nr. 41 der vorliegenden Stellungnahme.


8 – Siehe Nr. 38 der vorliegenden Stellungnahme.


9 – Siehe Nrn. 115 ff. der vorliegenden Stellungnahme.


10 – Siehe jedoch zum Vorbringen des Vaters des Kindes Nr. 91 der vorliegenden Stellungnahme.


11 – Zu diesem System der Zuständigkeiten siehe Nrn. 104 ff. der vorliegenden Stellungnahme.


12 – Dadurch, dass Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 somit eine präzise und einheitliche materielle Regelung enthält, wie es auch bei Art. 11 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. L 160, S. 19) der Fall war, hebt er sich deutlich von der Auslegung ab, die der Gerichtshof in Bezug auf Art. 21 des Übereinkommens von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) vorgenommen hat und nach der sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Gericht eines Mitgliedstaats als angerufen anzusehen ist, nach der lex fori richtet. Vgl. Urteil vom 7. Juni 1984, Zelger (129/83, Slg. 1984, 2397, Randnr. 16). Zu diesem Aspekt der Frage vgl. u. a. Rey, J., „L’office du juge – la saisine“, in Fulchiron, H., und Nourissat, C. (dir.), Le nouveau droit communautaire du divorce et de la responsabilité parentale, Dalloz, Paris, 2005, S. 181.


13 – ABl. L 324, S. 79. Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es nämlich ausdrücklich, dass die Verordnung Nr. 1348/2000 für die Zustellung von Schriftstücken in Verfahren gilt, die auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2201/2003 eingeleitet wurden.


14 – Zwar muss das nationale Gericht, das über seine Zuständigkeit zu entscheiden hat, dies, wie dargelegt, zum Zeitpunkt seiner Anrufung tun, doch schließt die Würdigung der Kriterien des gewöhnlichen Aufenthalts nicht aus, dass nach dieser Anrufung, aber vor der letztlich endgültigen Entscheidung eingetretene Umstände berücksichtigt werden. Vgl. insoweit Richez-Pons, A., La résidence en droit international privé (conflits de juridictions et conflits de lois), (Thèse) Lyon, 2004.


15 – Die Frage des vorlegenden Gerichts ist in Wirklichkeit insofern präziser, als sie auf die Art. 8 und 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gerichtet ist. Wie nachfolgend jedoch dargelegt wird, ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts derselbe und muss derselbe sein, unabhängig davon, welche Bestimmung der Verordnung Nr. 2201/2003 in Rede steht. Im Übrigen gibt es, wie später darzulegen sein wird, gewichtige Gründe, die Erheblichkeit der Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 betreffenden Frage zu bezweifeln. Schließlich macht diese Frage zwar einige nähere Ausführungen zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 erforderlich, doch stellt sich im Ausgangsverfahren ein weit größeres Problem als das der Definition dieses Begriffs.


16 – Generalanwältin Kokott hat sich in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache A in langen Ausführungen sehr überzeugend mit der Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts beschäftigt (Nrn. 13 bis 52), wobei ihr Interesse u. a. der Entstehung der Verordnung Nr. 2201/2003, identischen oder ähnlichen Begriffen in internationalen Übereinkommen (Nrn. 22 bis 31) oder in anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts (Nrn. 32 bis 37) galt und sie die wesentlichen Kriterien bestimmt hat, die bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes zu berücksichtigen sind (Nrn. 41 bis 52). Unter diesen Umständen ist es nicht notwendig, eine in vollem Umfang gutgeheißene Analyse zu wiederholen.


17 – Randnr. 31.


18 – Ebd. (Randnrn. 31, 34 und 35).


19 – Ebd. (Randnr. 34).


20 – Ebd. (Randnr. 36).


21 – Ebd. (Randnr. 37).


22 – Ebd. (Randnr. 38).


23 – Ebd. (Randnr. 39).


24 – Ebd. (Randnr. 40).


25 – Ebd. (Randnr. 42).


26 – Der Darstellung der vor dem vorlegenden Gericht erfolgten Erörterung ist zu entnehmen, dass der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, von der Existenz des Urteils A Kenntnis hatte, als er den Beschluss vom 15. April 2010 erließ, und dass er im Rahmen der von ihm vorgenommenen Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes die Auswirkungen dieses Urteils auf das englische Recht berücksichtigt hat.


27 – Gemäß dem aus Lagarde, P., Rapport explicatif concernant la convention de La Haye du 19 octobre 1996 concernant la compétence, la loi applicable, la reconnaissance, l’exécution et la coopération en matière de responsabilité parentale et de mesures de protection des enfants (RTNU, 2004, Bd. 2204, Nr. 39130), Actes et documents de la XVIIIème Session de la Conférence de La Haye, 1996, Band II, Protection des enfants, Nr. 41 entnommenen Ausdruck. Diese Ansicht ist in der Lehre wie auch in der Rechtsprechung weitgehend anerkannt. Vgl. u. a. Richez-Pons, A., a. a. O. (oben in Fn. 14 angeführt), S. 206.


28 – Vgl. Richez-Pons, A., a. a. O. (oben in Fn. 14 angeführt) S. 206 ff.


29 – Im Leitfaden zur Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 wird insoweit ausgeführt, dass deren Art. 9 nur zur Anwendung kommt, wenn das Kind innerhalb von drei Monaten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem neuen Mitgliedstaat erworben hat.


30 – Die deutsche Fassung von Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet: „Beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.“ Dies gilt ebenso für die italienische Fassung: „In caso di lecito trasferimento della residenza di un minore da uno Stato membro ad un altro che diventa la sua residenza abituale.“


31 – Ebenso wie aus den Fassungen in Spanisch „Cuando un menor cambie legalmente de residencia de un Estado miembro a otro y adquiera una nueva residencia habitual en este último“, Dänisch „Når et barn lovligt flytter fra én medlemsstat til en anden og får nyt sædvanligt opholdssted dér“, Englisch „Where a child moves lawfully from one Member State to another and acquires a new habitual residence there“, Niederländisch „Wanneer een kind legaal van een lidstaat naar een andere lidstaat verhuist en aldaar een nieuwe gewone verblijfplaats verkrijgt“, Portugiesisch „Quando uma criança se desloca legalmente de um Estado-Membro para outro e passa a ter a sua residência habitual neste último“, Finnisch „Kun lapsi muuttaa laillisesti jäsenvaltiosta toiseen ja saa siellä uuden asuinpaikan“ und Schwedisch „När ett barn lagligen flyttar från en medlemsstat till en annan och förvärvar nytt hemvist där skall“.


32 – Vgl. u. a. Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau (30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 14), und vom 29. April 2010, M u. a. (C‑340/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 44).


33 – Vgl. u. a. Urteile vom 12. November 1969, Stauder (29/69, Slg. 1969, 419, Randnr. 3), vom 22. Oktober 2009, Zurita García und Choque Cabrera (C‑261/08 und C‑348/08, Slg. 2009, I‑10143, Randnr. 54), sowie vom 3. Juni 2010, Internetportal und Marketing (C‑569/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 35).


34 – In diesem Sinne z. B. Gallant, E., Compétence reconnaissance et exécution (Matières matrimoniale et de responsabilité parentale), Répertoire de droit communautaire, Dalloz, August 2007, Nr. 167.


35 – Im Übrigen sieht Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes das Weiterbestehen der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nur so lange vor, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat, wobei u. a. vorausgesetzt wird, dass sich das Kind in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten und in seiner neuen Umgebung eingelebt hat.


36 – Die z. B. sechs Monate betragen könnte. Zur Diskussion über dieses Zeitelement beim Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts vgl. u. a. Espinosa Calabuig, R., Custodia y visita de menores en el espacio judicial europeo, Marial Pons, 2007, S. 128 ff. Es sei angemerkt, dass die Kommission, die beauftragt war, einen Entwurf für das Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 auszuarbeiten, gerade deshalb „die Idee zurückgewiesen hat, den Zeitraum, der erforderlich wäre, um einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt zu erlangen, in Zahlen zu fassen“, weil es sich um eine Tatsachenfrage handelt, die im jeweiligen im Einzelfall zu beurteilen ist. Vgl. Lagarde, P., a. a. O. (oben in Fn. 27 angeführt), Nr. 41.


37 – Oder vor deren Ablauf es nicht möglich ist, dass ein Wechsel des Aufenthaltsorts einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts gleichkommt.


38 – Das ist u. a. das Ergebnis, das im Leitfaden für die Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 befürwortet wird (S. 13). Die bloße Anwesenheit des Kindes in dem neuen Mitgliedstaat würde somit der Erlangung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts gleichgestellt, was einen Widerspruch zum Standpunkt des Gerichtshofs in seinem Urteil A bilden würde, wonach die bloße körperliche Anwesenheit eines Kindes in einem Mitgliedstaat nicht genügt, um dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt festzustellen.


39 – Sie können sich im äußersten Fall auch nach Art. 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig erklären, der vorsieht, dass sich, soweit sich aus Art. 8 oder aus Art. 13 dieser Verordnung keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates bestimmt.


40 – Zu diesem Aspekt der Frage vgl. z. B. Niboyet, M.‑L., „L’office du juge – la vérification et l’exercice de la compétence“, in Fulchiron, H., und Nourissat, C. (dir.), a. a. O. (oben in Fn. 12 angeführt), S. 191.


41 – Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker (C‑256/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 73).


42 – Siehe Nr. 101 der vorliegenden Stellungnahme.


43 – Randnr. 43.


44 – Rechtssache J [1990] 2 AC 562, S. 578.


45 – Zu diesem Aspekt der Frage siehe Fn. 15.


46 – Zu diesem Aspekt der Frage siehe später den Vorschlag für eine Antwort auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts.


47 – Urteil vom 5. Oktober 2010 (C‑400/10 PPU, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 44).


48 – Urteil McB. (Randnrn. 49 bis 64).


49 – Wäre das Gericht, das am 9. Oktober 2009 telefonisch mit der Sache befasst wurde, am Tag vor der Abreise der Mutter mit dem Kind angerufen worden, wäre das Verbringen unter Verstoß gegen das Sorgerecht, das dem angerufenen Gericht vom Mitgliedstaat des ursprünglichen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zuerkannt wird, erfolgt, wenn es von diesem Gericht nicht im Voraus erlaubt worden wäre. Dieses Verbringen wäre dann rechtswidrig gewesen und hätte die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 begründet.


50 – Vgl. in dieser Hinsicht Perez Vera, E., Rapport explicatif sur la convention de La Haye sur l’enlèvement international d’enfants, Actes et documents de la Quatorzième session (1980), Band III, Enlèvement d’enfants, Nr. 64 ff.


51 – Im Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung, dem die Verordnung Nr. 2201/2003 insoweit nachgebildet ist, ist auch das Sorgerecht von Behörden und Stellen verankert. Vgl. Perez Vera, E., a. a. O. (oben in Fn. 50 angeführt), Randnr. 80.


52 – Randnr. 43.


53 – Das vorlegende Gericht hat den Vorlagebeschluss am 8. Oktober 2010 erlassen, sehr kurze Zeit nach dem Urteil McB., das am 5. Oktober 2010 ergangen ist, und hatte somit keine Kenntnis von diesem Urteil.


54 – Vgl. u. a. Urteil A (Randnr. 34).


55 – Vgl. seltener Urteile vom 23. November 2006, Kommission/Italien (C‑486/04, Slg. 2006, I‑11025, Randnr. 44), vom 5. Juli 2007, Kommission/Italien (C‑255/05, Slg. 2007, I‑5767, Randnr. 60), und vom 6. November 2008, Kommission/Deutschland (C‑247/06, Randnr. 30).


56 – Das ist die Situation, die dem ersten Absatz der dritten Frage des vorlegenden Gerichts entspricht.


57 – Vorbehaltlich der oben, Nrn. 55 ff. der vorliegenden Stellungnahme, dargelegten Erklärungen.