STELLUNGNAHME DES GENERALANWALTS
NIILO JÄÄSKINEN
vom 4. Oktober 2010(1)
Rechtssache C‑296/10
Bianca Purrucker
gegen
Guillermo Vallés Pérez
(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Stuttgart [Deutschland])
„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Rechtshängigkeit – Begriff des ‚zuerst angerufenen Gerichts‘ – Anrufung eines Gerichts eines Mitgliedstaats in einem Hauptsacheverfahren bezüglich des Sorgerechts – Vorher erfolgte Anrufung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats mit einem Antrag auf einstweilige Maßnahmen bezüglich des Sorgerechts für dasselbe Kind – Anerkennung und Vollstreckung – Rechtskraft“
I – Einleitung
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000(2), die als „Brüssel-IIa-Verordnung“ bezeichnet wird.
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das von Bianca Purrucker in Deutschland gegen Guillermo Vallés Pérez bezüglich des Sorgerechts für ihre Zwillingskinder M. und S. Vallés Purrucker eingeleitet wurde; Angaben zu diesem Verfahren sind in den Randnrn. 41 bis 43 des Urteils vom 15. Juli 2010 in der Rechtssache C‑256/09(3) (im Folgenden: Urteil Purrucker I) enthalten.
3. In diesem Urteil hat der Gerichtshof auf eine Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs (Deutschland) entschieden, dass die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung nicht auf vollstreckbare einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar sind.
4. Die vorliegende Rechtssache betrifft dieselben Parteien und das Sorgerecht für dieselben Kinder, jedoch wird der Gerichtshof hier vom Amtsgericht Stuttgart (Deutschland) gebeten, über die Kriterien für die Bestimmung des zuerst angerufenen Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu befinden. Diese Qualifizierung ist von grundlegender Bedeutung, da sich aus ihr eine Art Hierarchie zwischen den potenziell zuständigen Gerichten ergibt, wobei dem zuerst angerufenen Gericht Vorrang gegenüber dem später angerufenen zukommt.
5. In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht aus, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens uneinig darüber seien, ob das deutsche Gericht, das von Frau Purrucker am 21. September 2007 zur Regelung des Sorgerechts für ihren Sohn M. angerufen worden sei, ein „später angerufenes Gericht“ im Sinne von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei im Verhältnis zu dem spanischen Gericht, das von Herrn Vallés Pérez am 28. Juni 2007 mit einem isolierten Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen zur Sorgerechtsregelung angerufen worden sei und bei dem im Januar 2008 auf Antrag von Herrn Vallés Pérez ein Hauptsacheverfahren eingeleitet worden sein soll.
6. Diese Rechtssache macht deutlich, dass die zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten auftretende Rechtshängigkeit zwar in Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 geregelt ist, in dieser Vorschrift aber nicht näher bestimmt ist, welche Arten von Kollisionen zwischen Verfahren von diesen Bestimmungen erfasst werden. Der Gerichtshof wird meines Wissens erstmals ersucht, über den Begriff der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung in einem Fall zu befinden, in dem ein Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen und ein konkurrierender Antrag in der Hauptsache bezüglich der elterlichen Verantwortung anhängig sind. Zweifel besteht insbesondere hinsichtlich der Frage, wie die autonomen Begriffe dieser Verordnung mit den nationalen Verfahrensvorschriften verknüpft sind, die zwischen verschiedenen Arten von Verfahren zur Anordnung von Maßnahmen mit vorläufigem Charakter und Verfahren zur Erwirkung einer Entscheidung in der Hauptsache unterscheiden. Außerdem befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof zur Wechselwirkung zwischen den Bestimmungen des Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 und denen der Art. 20 und 21 dieser Verordnung.
II – Rechtlicher Rahmen
7. Vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2201/2003(4) hatte der Rat der Europäischen Union mit Rechtsakt vom 28. Mai 1998 auf der Grundlage von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union das Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen(5) (im Folgenden: Übereinkommen Brüssel II) ausgearbeitet. Dieses Übereinkommen ist nicht in Kraft getreten. Da sich die Verordnung Nr. 2201/2003 an dessen Text anlehnt, ist der Erläuternde Bericht zu diesem Übereinkommen(6), der von Frau Borrás erstellt wurde (im Folgenden: Borrás-Bericht) herangezogen worden, um die Auslegung der Verordnung zu klären.
8. Der Verordnung Nr. 2201/2003 ging die Verordnung Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten voraus(7). Die Verordnung Nr. 1347/2000 wurde durch die Verordnung Nr. 2201/2003, deren Anwendungsbereich weiter ist, aufgehoben.
9. Die Erwägungsgründe 12 und 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:
„(12) Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.
…
(16) Die vorliegende Verordnung hindert die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht daran, in dringenden Fällen einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände, die sich in diesem Staat befinden, anzuordnen.“
10. Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 legt deren Anwendungsbereich in Bezug auf die elterliche Verantwortung wie folgt fest: „Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand: … die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.“ Nach Abs. 2 dieses Artikels betreffen die genannten Zivilsachen „insbesondere:
a) das Sorgerecht und das Umgangsrecht,
b) die Vormundschaft, die Pflegschaft und entsprechende Rechtsinstitute,
c) die Bestimmung und den Aufgabenbereich jeder Person oder Stelle, die für die Person oder das Vermögen des Kindes verantwortlich ist, es vertritt oder ihm beisteht,
d) die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim,
e) die Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.“
11. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;
…
4. ‚Entscheidung‘ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene … Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss;
…
7. ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;
…
9. ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;
…“
12. Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, der sich auf die „Allgemeine Zuständigkeit“ im Bereich der elterlichen Verantwortung bezieht, lautet:
„Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“
13. Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung sieht eine „Aufrechterhaltung der Zuständigkeit des früheren gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Kindes“ unter folgenden Voraussetzungen vor:
„Beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, verbleibt abweichend von Artikel 8 die Zuständigkeit für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wenn sich der laut der Entscheidung über das Umgangsrecht umgangsberechtigte Elternteil weiterhin gewöhnlich in dem Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes aufhält.“
14. Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) dieser Verordnung bestimmt: „Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat …“
15. Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht Fälle für eine Vereinbarung über die Zuständigkeit vor, die die Möglichkeit eröffnen, vorbehaltlich der Zustimmung der Parteien, ein Gericht eines Mitgliedstaats anzurufen, in dem das Kind nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sei es, weil die Frage mit einem anhängigen Verfahren auf Auflösung der Ehe in Zusammenhang steht oder weil eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht.
16. Art. 13 („Zuständigkeit aufgrund der Anwesenheit des Kindes“) dieser Verordnung lautet:
„(1) Kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden und kann die Zuständigkeit nicht gemäß Artikel 12 bestimmt werden, so sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind befindet.
(2) Absatz 1 gilt auch für Kinder, die Flüchtlinge oder, aufgrund von Unruhen in ihrem Land, ihres Landes Vertriebene sind.“
17. Art. 14 („Restzuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt: „Soweit sich aus den Artikeln 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates.“
18. Nach Art. 15 dieser Verordnung kann in Ausnahmefällen von deren Zuständigkeitsvorschriften abgewichen werden, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall besser beurteilen kann.
19. Art. 16 („Anrufung eines Gerichts“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:
„(1) Ein Gericht gilt als angerufen
a) zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken,
oder
b) falls die Zustellung an den Antragsgegner vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen.“
20. Art. 19 („Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren“) Abs. 2 und 3 der Verordnung sieht vor:
„(2) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
(3) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.
In diesem Fall kann der Antragsteller, der den Antrag bei dem später angerufenen Gericht gestellt hat, diesen Antrag dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.“
21. Art. 20 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.
(2) Die zur Durchführung des Absatzes 1 ergriffenen Maßnahmen treten außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.“
22. Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“
23. Art. 24 dieser Verordnung bestimmt:
„Die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats darf nicht überprüft werden. Die Überprüfung der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung gemäß Artikel 22 Buchstabe a) und Artikel 23 Buchstabe a) darf sich nicht auf die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 3 bis 14 erstrecken.“
III – Ausgangsverfahren
A – Sachverhalt
24. Aus dem Vorlagebeschluss sowie dem im Urteil Purrucker I dargestellten Sachverhalt und den Verfahrensakten, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, geht hervor, dass Frau Purrucker, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, Mitte 2005 zu Herrn Vallés Pérez, einem in Deutschland geborenen spanischen Staatsangehörigen, nach Spanien zog. Aus ihrer Beziehung gingen die am 31. Mai 2006 als Frühgeburten zur Welt gekommenen Zwillingskinder M., ein Junge, und S., ein Mädchen, hervor. Herr Vallés Pérez erkannte seine Vaterschaft an. Da die Eltern zusammenlebten, sind sie nach spanischem Recht gemeinsam sorgeberechtigt. Die Kinder haben sowohl die deutsche als auch die spanische Staatsangehörigkeit.
25. Das Verhältnis zwischen Frau Purrucker und Herrn Vallés Pérez verschlechterte sich. Frau Purrucker wollte mit ihren Kindern nach Deutschland zurückkehren, womit Herr Vallés Pérez zunächst nicht einverstanden war. Am 30. Januar 2007 schlossen die Parteien vor einem spanischen Notar eine Vereinbarung, wonach Frau Purrucker mit den Kindern nach Deutschland ziehen durfte(8); diese Vereinbarung bedurfte zu ihrer Vollstreckbarkeit der Genehmigung durch ein Gericht.
26. Aufgrund gesundheitlicher Probleme konnte das Kind S. an dem für die Abreise vorgesehenen Tag nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden. Frau Purrucker reiste daher mit ihrem Sohn M. am 2. Februar 2007 nach Deutschland.
27. Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens sind drei Verfahren anhängig:
– Das erste, in Spanien von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren betrifft die Anordnung einstweiliger Maßnahmen. Dieses Verfahren könnte unter bestimmten Bedingungen offenbar als Hauptsacheverfahren zur Übertragung des Sorgerechts für die Kinder M. und S. angesehen werden.
– Das zweite, in Deutschland von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren betrifft die Vollstreckbarerklärung der einstweiligen Anordnung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial (Spanien) (im Folgenden: Juzgado de Primera Instancia). Im Rahmen dieses Verfahrens ist das Urteil Purrucker I ergangen.
– Das dritte, in Deutschland von Frau Purrucker eingeleitete Verfahren betrifft die Übertragung des Sorgerechts für dieselben Kinder. In diesem Verfahren ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergangen.
B – Die drei anhängigen Verfahren
1. Das in Spanien von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen in Bezug auf das Sorgerecht (und eventuell im Hinblick auf eine Entscheidung in der Hauptsache)
28. Herr Vallés Pérez leitete im Juni 2007 vor dem Juzgado de Primera Instancia ein Verfahren zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen und insbesondere zur Übertragung des Sorgerechts für die Kinder M. und S. ein.
29. Mit Beschluss vom 8. November 2007 erklärte sich der Juzgado de Primera Instancia für zuständig(9) und ordnete dringende einstweilige Maßnahmen auch in Bezug auf das Sorgerecht für die Kinder an(10). Dieser Beschluss wurde mit Beschluss vom 28. November 2007 berichtigt, wobei Nr. 1 des Tenors dahin geändert wurde, dass dem Vater das „Sorgerecht“ und nicht mehr das „gemeinsame Sorgerecht“ übertragen wurde.
30. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2010 nahm der Juzgado de Primera Instancia Stellung zu der Frage des „zuerst angerufenen Gerichts“ im Sinne von Art. 19 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003. Er stellte fest, dass er die Frage seiner Zuständigkeit bereits im Beschluss vom 8. November 2007 entschieden habe, und wies auf die in diesem Beschluss angeführten verschiedenen tatsächlichen Anknüpfungspunkte hin. Er gab an, dass er am 28. Juni 2007 den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz bezüglich des Sorgerechts für die Kinder M. und S. für zulässig erklärt habe. Da das deutsche Gericht erst im September 2007 von der Mutter angerufen worden sei, hielt sich der Juzgado de Primera Instancia für das „zuerst angerufene Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 und erklärte sich gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig, in der Rechtssache zu entscheiden.
31. Mit Beschluss vom 21. Januar 2010 erhielt die Audiencia Provincial de Madrid, sección 24a (Spanien), bei der Frau Purrucker Berufung eingelegt hatte, den Beschluss vom 28. Oktober 2008 aufrecht. Das Berufungsgericht war der Auffassung, dass nach Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 der erste Antrag derjenige nach spanischem Recht beim Juzgado de Primera Instancia auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen sei, der früher als der Antrag beim deutschen Gericht gestellt worden sei. Auch wenn Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003, auf den sich Frau Purrucker berufe, auf den vorliegenden Fall anwendbar sein sollte, beziehe er sich, da er keine Zuständigkeitsregel aufstelle, lediglich auf den Erlass von Schutzmaßnahmen in dringenden Fällen, bis über die Zuständigkeit entschieden werde, die sich insoweit nach Art. 19 dieser Verordnung bestimme.
2. Das in Deutschland von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren auf Vollstreckbarerklärung des Beschlusses des spanischen Gerichts vom 8. November 2007
32. Dieses Verfahren hat zum Urteil Purrucker I geführt. Herr Vallés Pérez hatte zunächst u. a. die Herausgabe seines Sohnes M. verlangt und nur vorsorglich die Vollstreckbarerklärung des Beschlusses des Juzgado de Primera Instancia vom 8. November 2007 beantragt. Später betrieb er die Vollstreckbarerklärung dieses Beschlusses vorrangig weiter. Entsprechend versahen das Amtsgericht Stuttgart mit Entscheidung vom 4. Juli 2008 und das Oberlandesgericht Stuttgart (Deutschland) mit Beschwerdeentscheidung vom 22. September 2008 diesen Beschluss des spanischen Gerichts mit der Vollstreckungsklausel.
33. Auf die von Frau Purrucker erhobene Rechtsbeschwerde legte der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vor. Mit dem Urteil Purrucker I hat der Gerichtshof geantwortet, dass die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen nicht auf einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar seien.
3. Das in Deutschland von Frau Purrucker eingeleitete Verfahren auf Übertragung des Sorgerechts
34. Am 21. September 2007, also vor dem Erlass des vorstehend genannten Beschlusses des Juzgado de Primera Instancia, beantragte Frau Purrucker in einem Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht Albstadt (Deutschland), ihr das alleinige Sorgerecht für die Kinder M. und S. zu übertragen. Der Antrag wurde dem Antragsgegner des Ausgangsverfahrens erst am 22. Februar 2008 durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt. Der Antragsgegner wie auch das spanische Gericht hatten allerdings schon vorher Kenntnis von ihm.
35. Insbesondere aus einer Verfügung des Amtsgerichts Albstadt vom 25. September 2007 und einem Beschluss desselben Gerichts vom 9. Januar 2008 ergibt sich, dass nach Ansicht dieses Gerichts der Antrag von Frau Purrucker keine Aussicht auf Erfolg hatte. Da nämlich die Eltern nicht verheiratet gewesen seien und offenbar keine gemeinsame Sorgeerklärung vorliege – die notarielle Vereinbarung vom 30. Januar 2007 könne nicht als eine solche Erklärung gewertet werden –, besitze Frau Purrucker die alleinige elterliche Sorge für die Kinder, so dass eine Entscheidung zur Übertragung des Sorgerechts nicht notwendig sei. Außerdem wies das Amtsgericht Albstadt auf das in Spanien anhängige Verfahren hin.
36. Mit Teilbeschluss vom 19. März 2008 half das Amtsgericht Albstadt einer Beschwerde von Frau Purrucker u. a. aufgrund seiner Unzuständigkeit in Bezug auf das Kind S. nicht ab. Das Oberlandesgericht Stuttgart wies die Beschwerde mit Beschluss vom 5. Mai 2008 zurück.
37. Mit einem weiteren Beschluss vom 19. März 2008 setzte das Amtsgericht Albstadt das Sorgerechtsverfahren nach Art. 16 des Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, das am 25. Oktober 1980 im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht unterzeichnet wurde (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980), aus(11). Dieses Verfahren wurde am 28. Mai 2008 auf Antrag von Frau Purrucker wiederaufgenommen, da Herr Vallés Pérez bis dahin keinen Rückführungsantrag auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 gestellt hatte. Ein solcher Antrag wurde auch später nicht gestellt.
38. Aufgrund des Antrags von Herrn Vallés Pérez auf Vollstreckbarerklärung des Beschlusses vom 8. November 2007 wurde das Sorgerechtsverfahren gemäß § 13 des deutschen Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts an das Amtsgericht Stuttgart – Familiengericht – abgegeben.
39. Frau Purrucker beantragte am 16. Juli 2008 beim Amtsgericht Stuttgart auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ihr im Wege der einstweiligen Anordnung das Sorgerecht, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren Sohn M. allein zu übertragen.
40. Aus den vom vorlegenden Gericht an den Gerichtshof übermittelten Verfahrensakten geht hervor, dass das Amtsgericht ohne Erfolg seine Bemühungen verstärkte, mit dem spanischen Gericht, das bereits einstweilige Maßnahmen in dieser Sache angeordnet hatte, in Kontakt zu treten, um in Erfahrung zu bringen, ob in Spanien ein Hauptsacheverfahren anhängig sei.
41. Am 28. Oktober 2008 erließ das Amtsgericht Stuttgart eine Verfügung, in der es über die bei dem spanischen Verbindungsrichter unternommenen Schritte und das Ausbleiben einer Antwort des Juzgado de Primera Instancia berichtete. Es gab den Parteien auf, Folgendes mitzuteilen und nachzuweisen: erstens die Eingangsdaten des Antrags des Vaters auf einstweilige Maßnahmen in Spanien, zweitens die Zustellung des Beschlusses des spanischen Gerichts vom 8. November 2007 und drittens den Eingang des Antrags des Vaters in der Hauptsache in Spanien und die Zustellung dieses Antrags an die Mutter.
42. Ebenfalls am 28. Oktober 2008 erließ der Juzgado de Primera Instancia den Beschluss, dessen Inhalt in Nr. 30 der vorliegenden Stellungnahme beschrieben ist.
43. Nachdem das Amtsgericht Stuttgart die Parteien zur erneuten Stellungnahme aufgefordert hatte, erließ es am 8. Dezember 2008 einen Beschluss, in dem es den Beschluss des Juzgado de Primera Instancia vom 28. Oktober 2008 und die Absicht von Frau Purrucker erwähnt, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Das Amtsgericht war der Auffassung, dass es nicht selbst über die Frage des „zuerst angerufenen Gerichts“ entscheiden könne, da es der Rechtssicherheit abträglich wäre, wenn zwei Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten widersprüchliche Entscheidungen erlassen könnten. Die Frage sei von dem Gericht zu entscheiden, das seine Zuständigkeit zuerst bejaht habe. Das Amtsgericht Stuttgart setzte daher das Verfahren gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bis zum Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses des Juzgado de Primera Instancia aus.
44. Frau Purrucker legte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Stuttgart hob den Beschluss am 14. Mai 2009 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Stuttgart zurück. Das Oberlandesgericht Stuttgart war der Auffassung, dass jedes Gericht seine Zuständigkeit in eigener Verantwortung prüfen müsse und Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 keinem der beteiligten Gerichte die alleinige Kompetenz für die verbindliche Entscheidung über die Erstzuständigkeit übertrage. Der von Herrn Vallés Pérez im Juni 2007 in Spanien eingereichte Sorgerechtsantrag sei in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestellt worden, während es sich bei dem von Frau Purrucker am 20. September 2007 in Deutschland gestellten Antrag zum Sorgerecht um ein Hauptsacheverfahren handele. Ein Hauptsacheverfahren und ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beträfen nicht denselben Streitgegenstand bzw. denselben Anspruch. Ein möglicher positiver Kompetenzkonflikt zwischen zwei Gerichten sei gegebenenfalls hinzunehmen.
45. Mit Verfügung vom 8. Juni 2009 bat das Amtsgericht Stuttgart die Parteien erneut um Mitteilung, in welchem Stadium sich das in Spanien anhängige Verfahren befinde, und gab ihnen Gelegenheit, zu der Möglichkeit Stellung zu nehmen, dem Gerichtshof gemäß Art. 104b seiner Verfahrensordnung die Frage der Erstanrufung eines Gerichts zur Vorabentscheidung vorzulegen.
46. Am 21. Januar 2010 entschied die Audiencia Provincial de Madrid mit dem in Nr. 31 der vorliegenden Stellungnahme erwähnten Beschluss über die Berufung von Frau Purrucker. Der Beschluss wurde dem Amtsgericht Stuttgart mit Schreiben des deutschen Rechtsanwalts von Herrn Vallés Pérez mitgeteilt.
IV – Das Vorabentscheidungsersuchen
47. Mit Beschluss vom 31. Mai 2010, der am 16. Juni 2010 eingegangen ist(12), hat das Amtsgericht Stuttgart das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 anwendbar, wenn das zur Regelung der elterlichen Verantwortung von einer Partei zuerst angerufene Gericht eines Mitgliedstaates nur zum einstweiligen Rechtsschutz und das von der anderen Partei später zum selben Verfahrensgegenstand angerufene Gericht eines anderen Mitgliedstaates zur Entscheidung in der Hauptsache angerufen wird?
2. Ist die Vorschrift auch dann anzuwenden, wenn eine Entscheidung im isolierten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes aus einem Mitgliedstaat nicht in einem anderen Mitgliedstaat anerkennungsfähig im Sinne von Art. 21 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist?
3. Ist eine Anrufung eines Gerichts eines Mitgliedstaates wegen eines isolierten einstweiligen Rechtsschutzes einer Anrufung in der Hauptsache im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 gleichzustellen, wenn nach dem nationalen Verfahrensrecht dieses Staates eine anschließende Anrufung dieses Gerichts zur Regelung der Hauptsache innerhalb einer bestimmten Zeit nachfolgen muss, um verfahrensrechtliche Nachteile zu vermeiden?
48. Zur Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens führt das vorlegende Gericht aus, dass seiner Ansicht nach keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass der Sohn der Parteien, M., am 21. September 2007, also zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags von Frau Purrucker auf Übertragung des Sorgerechts für ihn, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt habe.
49. Eine bis zum 21. September 2007 fortdauernde Zuständigkeit des Juzgado de Primera Instancia aufgrund des früheren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Familienmitglieder in Spanien aufgrund des Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei nicht begründet, weil ein widerrechtliches Verbringen des Sohnes der Parteien von Spanien nach Deutschland durch die Antragstellerin weder wahrscheinlich noch erwiesen sei.
50. Nach Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 gelte ein Gericht als zu dem Zeitpunkt angerufen, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingereicht worden sei, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folgezeit nicht versäumt habe, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung an den Antragsgegner zu bewirken.
51. Die Antragschrift vom 20. September 2007 sei am 21. September 2007 eingereicht, aber erst am 22. Februar 2008 dem Antragsgegner zugestellt worden, und dies aus von Frau Purrucker nicht zu verantwortenden Gründen, die damit in Zusammenhang stünden, dass die internationale Zuständigkeit dieses Gerichts für eine Sorgerechtsregelung für die Tochter der Parteien des Ausgangsverfahrens, die in Spanien lebende S., im Prozesskostenhilfeverfahren streitig gewesen sei.
52. Nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind zuerst anhängig gemacht worden sei, gegenüber dem wegen desselben Anspruchs später angerufenen Gericht vorrangig zuständig. Der Verfahrensgegenstand des im Juni 2007 eingeleiteten Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem spanischen Gericht sei mit dem des beim deutschen Gericht im September 2007 anhängig gemachten Hauptsacheverfahrens identisch. In beiden Verfahren gehe es nämlich um eine gerichtliche Regelung der elterlichen Verantwortung für dasselbe gemeinsame Kind. Die Parteien beider Verfahren seien identisch, und beide Parteien beantragten jeweils die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf sich.
53. Die zeitliche Priorität eines Verfahrens beurteile sich nach Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003, der nach seinem Wortlaut jedoch nicht zwischen einem Hauptsacheverfahren und einem auf den Erlass einstweiliger Maßnahmen gerichteten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes unterscheide. Dies begünstige unterschiedliche Rechtsauffassungen zum Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003.
54. Nach dem Rechtsverständnis des Juzgado de Primera Instancia und der Audiencia Provincial de Madrid gelte ein spanisches Gericht schon dann als angerufen im Sinne der Art. 16 und 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, wenn ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt werde. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bilde mit einem später eingeleiteten Hauptsacheverfahren eine verfahrensrechtliche Einheit. Eine einstweilige Anordnung werde ipso iure unwirksam, wenn nicht innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Zustellung ein Hauptsacheverfahren beantragt werde.
55. Nach dieser Auffassung sei das Sorgerechtsverfahren für den Sohn der Parteien, M., nicht erst seit Januar 2008, sondern schon seit dem 28. Juni 2007 beim spanischen Gericht anhängig im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003.
56. Nach Auffassung eines erheblichen Teils der deutschen Rechtslehre und nach dem Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 14. Mai 2009 erfasse Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht das Verhältnis zwischen Hauptsache und vorläufigem Rechtsschutz, da diese Verfahren einen unterschiedlichen Streitgegenstand hätten, auch wenn eine Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergehe, identische Gestaltungswirkungen wie eine Sorgerechtsentscheidung in der Hauptsache habe. Diese Auffassung werde u. a. auch damit begründet, dass einstweilige Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht von den Art. 21 ff. dieser Verordnung erfasst würden.
57. Die seit dem 21. Januar 2010 rechtskräftige Bestätigung der internationalen Zuständigkeit und Erstanrufung des Juzgado de Primera Instancia durch die Audiencia Provincial de Madrid könne nicht als Grundlage für die Feststellung nach Art. 19 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 dienen, dass „die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht“. Diese Entscheidung binde das deutsche Gericht nicht, da die Verordnung Nr. 2201/2003 eine solche Bindungswirkung nicht vorsehe. Andernfalls würde ein „Wettlauf“ der Gerichte um die vorrangige Zuständigkeit begünstigt, dessen Ausgang von den Zufälligkeiten und Besonderheiten des nationalen Verfahrensrechts abhängig wäre. Die Entscheidung sei auch nicht anerkennungsfähig im Sinne von Art. 21 der Verordnung Nr. 2201/2003, weil sie keine Sachentscheidung über die elterliche Verantwortung, sondern nur eine Entscheidung über eine prozessuale Frage sei.
58. Das Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats gemäß Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 finde erst Anwendung, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache ergangen sei. Dies ergebe sich aus der Stellung dieser Vorschrift in Kapitel III Abschnitt 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Anerkennung von Entscheidungen. Eine Entscheidung des spanischen Gerichts in der Hauptsache sei aber bisher nicht ergangen.
59. Außerdem erstrecke sich eine Anerkennung der einstweiligen Sorgerechtsregelung des Juzgado de Primera Instancia vom 8. November 2007 gemäß Art. 21 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht ohne Weiteres auf eine spätere Entscheidung in der Hauptsache.
V – Verfahren vor dem Gerichtshof
60. Das Amtsgericht Stuttgart hat im Vorlagebeschluss beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 104b der Verfahrensordnung zu unterwerfen. Mit Schreiben vom 1. Juli 2010 hat das Amtsgericht Stuttgart klargestellt, dass sich sein Antrag nicht auf die Anwendung von Art. 104b, sondern von Art. 104a der Verfahrensordnung bezieht.
61. Mit Beschluss vom 15. Juli 2010 hat der Präsident des Gerichtshofs dem Antrag auf beschleunigtes Verfahren stattgegeben.
62. Im vorliegenden Verfahren haben Frau Purrucker, die deutsche, die tschechische, die spanische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission sowohl mündliche als auch schriftliche Erklärungen abgegeben. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat nur schriftliche Erklärungen abgegeben.
63. In Bezug auf den vom vorlegenden Gericht in erster Linie geschilderten Fall, d. h. den Fall, dass ein erstes Verfahren auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen mit einem zweiten Verfahren in der Hauptsache bezüglich desselben Kindes konkurriert, sind sich diese Verfahrensbeteiligten im Großen und Ganzen darin einig, dass nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 beantragte einstweilige Maßnahmen nicht zur Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 führen können.
64. Bezüglich der Maßnahmen, die von einem zuständigen Gericht außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 angeordnet werden, stehen sich meines Erachtens zwei Gruppen gegenüber. Auf der einen Seite vertreten die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, die Bundesrepublik Deutschland, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Kommission die Auffassung, dass in diesem Fall keine Rechtshängigkeit vorliegen könne, da der Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen nicht denselben Gegenstand wie ein Antrag auf Entscheidung in der Hauptsache habe, auch wenn beide denselben materiellen Gegenstand – wie die Übertragung des Sorgerechts für ein Kind – haben könnten. Auf der anderen Seite sind die Tschechische Republik, das Königreich Spanien und die Französische Republik der Auffassung, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht nach der verfahrensrechtlichen Natur des Antrags unterscheide und dass daher ein Verfahren zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen ebenso wie ein Hauptsacheverfahren Rechtshängigkeit auslösen könne.
VI – Analyse
A – Vorbemerkungen
1. Zum Zusammenhang zwischen Rechtskraft und Rechtshängigkeit
65. Meines Erachtens ist zunächst zu klären, welche Beziehungen zwischen bestimmten Schlüsselfaktoren unter den für die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen maßgeblichen Faktoren bestehen.
66. Der Zweck der Vorschriften über die Rechtshängigkeit besteht in erster Linie darin, zu verhindern, dass widersprüchliche oder gar in Bezug auf ihre Wirkungen miteinander unvereinbare Entscheidungen(13) von Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten erlassen werden(14). Daraus ergeben sich enge Verbindungen zwischen dem Rechtshängigkeits- und dem Rechtskraftbegriff(15).
67. Im Rahmen der Beziehungen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen stehen die internationale Rechtshängigkeit infolge eines außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets anhängigen Verfahrens sowie die Rechtskraft einer von einem ausländischen Gericht erlassenen Entscheidung im Zusammenhang mit der Frage nach der Anerkennung von Entscheidungen. Da eine im Ausland ergangene Entscheidung in einer Rechtsordnung nur dann Rechtskraftwirkung entfalten kann, wenn sie dort anerkannt wird, kann ein im Ausland eingeleitetes Verfahren nur dann Rechtshängigkeit bewirken, wenn es zu einer in der Rechtsordnung des später angerufenen Gerichts anerkennungsfähigen Entscheidung führen kann(16).
68. Der Zusammenhang zwischen Rechtshängigkeit und Rechtskraft ergibt sich auch daraus, dass eine rechtskräftig gewordene Entscheidung in Bezug auf den mit ihr entschiedenen Rechtsstreit verhindert, dass dieselbe Sache in einem anderen Verfahren erneut entschieden wird, sei es zwischen denselben Parteien oder allgemein(17). Diese als negative Dimension der Rechtskraft eingestufte Wirkung steht im Zusammenhang mit dem Grundsatz ne bis in idem, der ein universell anerkannter Rechtsgrundsatz ist.
69. Die positive Dimension der Rechtskraft leitet sich von der Hauptaufgabe der Gerichte ab, die darin besteht, Rechtsstreitigkeiten zwischen Parteien zu entscheiden, um die Streitigkeit über das in Rede stehende Rechtsverhältnis einer autoritativen Lösung zuzuführen. Das bedeutet, dass eine rechtskräftig gewordene Entscheidung in anderen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zu berücksichtigen ist.
70. Die negative und die positive Dimension der Rechtskraft einer Entscheidung sind sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht zu untersuchen. Die subjektive Wirkung einer Entscheidung kann sich allein auf das Verhältnis zwischen den Parteien beschränken. Dies betrifft vor allem zivilrechtliche Urteile, die insofern nur deklaratorischen Charakter haben, als sie lediglich die Rechte und Pflichten der Parteien bestätigen, die aufgrund des Rechtsverhältnisses, das diese miteinander verbindet, bereits bestehen. Urteile mit konstitutivem Charakter können dagegen in subjektiver Hinsicht eine größere Tragweite haben, da sie neue Rechtsverhältnisse schaffen oder bereits bestehende Rechtsverhältnisse ändern.
71. Entscheidungen über die elterliche Verantwortung haben normalerweise konstitutiven Charakter, da sie diesbezügliche Rechte übertragen oder ändern. Daraus ergibt sich, dass diese Entscheidungen eine Rechtskraft haben können, die über die Parteien hinaus wirkt, und nicht nur zwischen den Parteien. Eine Entscheidung z. B., die das alleinige Sorgerecht für ein Kind der Mutter überträgt, bindet die Verwaltungsbehörden und Gerichte hinsichtlich der gesetzlichen Vertretung des Kindes.
72. Dagegen haben Entscheidungen auf diesem Gebiet normalerweise keine negative Rechtskraftwirkung. Mit anderen Worten, die Übertragung oder die Modalitäten der Ausübung der elterlichen Verantwortung können normalerweise von einem zuständigen Gericht in einem neuen Verfahren noch einmal geprüft werden, ohne dass eine rechtskräftige Entscheidung dies verhindern könnte. Wie die Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Purrucker I ausgeführt hat(18), können Entscheidungen über die elterliche Verantwortung nur mehr oder weniger „beständig“ sein. Das Kindeswohl, das die oberste Leitlinie in diesem Bereich ist, gebietet, dass Entscheidungen, die das Kindeswohl betreffen, gegebenenfalls geändert werden können.
73. Die Rechtshängigkeit findet ihre Rechtfertigung in der positiven Rechtskraftwirkung der vom zuerst angerufenen Gericht zu erlassenden Entscheidung. Soweit diese Entscheidung in der Rechtsordnung des später angerufenen Gerichts anerkennungsfähig wäre, würde sie dem Erlass einer ihr zuwiderlaufenden oder gar mit ihr unvereinbaren Entscheidung dieses Gerichts entgegenstehen, wenn es diesem nicht gelänge, vor dem zuerst angerufenen Gericht zu entscheiden. Gelänge ihm dies dagegen, wäre die Pflicht zur Anerkennung der von jenem Gericht erlassenen Entscheidung ihres Inhalts entleert. Im Einklang mit dem Grundsatz der perpetuatio fori ist der Grundsatz der Rechtshängigkeit, der zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts gilt, die Lösung, die am besten mit dem Grundsatz der Rechtskraft bei anerkennungsfähigen ausländischen Entscheidungen zu vereinbaren ist. Diese Lösung trägt dem Umstand Rechnung, dass die sich aus der Anrufung eines Gerichts ergebenden verfahrensrechtlichen Wirkungen bereits zum Zeitpunkt der Anrufung eintreten und bis zum Ende des bei diesem Gericht eingeleiteten Verfahrens fortbestehen.
74. Ebenso wie die Rechtskraft ist auch die Rechtshängigkeit sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht zu untersuchen. Ungeachtet der zwischen den Sprachfassungen der Verordnung Nr. 2201/2003 bestehenden terminologischen Unterschiede verlangt der Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung für Rechtshängigkeit in meinen Augen, dass zwischen zwei Verfahren gleichzeitig
– eine subjektive Identität (dasselbe Kind)
– und eine objektive Identität („derselbe Anspruch“)(19) besteht.
75. Die subjektive Dimension, die Rechtshängigkeit, ist wie bei der Rechtskraft normalerweise auf diejenigen Verfahren beschränkt, die dieselben Parteien betreffen. Der Wortlaut von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 verlangt jedoch anders als mehrere andere Bestimmungen, mit denen er in zweckdienlicher Weise verglichen werden kann(20), keine Identität der Parteien in Verfahren über die elterliche Verantwortung, sondern nur, dass die Verfahren dasselbe Kind betreffen. In Anbetracht dessen, was ich zur Rechtskraft konstitutiver Urteile ausgeführt habe, zu denen in Verfahren zur Regelung der elterlichen Verantwortung ergangene Entscheidungen normalerweise gehören, erscheint mir dies ziemlich logisch. Eine Entscheidung, die in einem Verfahren ergeht, das zwischen den Eltern eines Kindes vor einem Gericht eines Mitgliedstaats A eingeleitet wurde, und mit der das alleinige Sorgerecht dem Vater übertragen wird, wäre mit der Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats B unvereinbar, mit der das Sorgerecht für das Kind in einem Verfahren, in dem die Großmutter mütterlicherseits den beiden Eltern gegenübersteht, der Großmutter übertragen wird. Da Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bezüglich des subjektiven Faktors der Rechtshängigkeit in diesem Bereich offenbar nur verlangt, dass die Verfahren dasselbe Kind betreffen, bin ich der Meinung, dass diese beiden konkurrierenden Verfahren von der Bestimmung dieses Artikels erfasst würden.
76. Was die objektive Identität betrifft, ist die Tragweite der Rechtshängigkeit auf der Grundlage derselben Erwägungen zu bestimmen wie die objektive Tragweite der Rechtskraft, d. h. unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, widersprüchliche Entscheidungen zu verhindern.
77. Im Bereich der elterlichen Verantwortung dürfte das maßgebende Kriterium die materielle Wirksamkeit einer Entscheidung sein. Wenn die zu erlassenden Entscheidungen, die in bei verschiedenen Gerichten eingeleiteten Verfahren ergehen können, nicht gleichzeitig von den Parteien befolgt oder zwangsweise durchgeführt werden können, besteht zwischen diesen beiden Verfahren eine objektive Identität und damit Rechtshängigkeit.
78. Ist erwiesen, dass Rechtshängigkeit besteht, hat das Gericht grundsätzlich die Unzulässigkeit eines Verfahrens oder die Notwendigkeit einer Aussetzung des Verfahrens festzustellen, und zwar von Amts wegen. Dagegen kann das Gericht nicht verpflichtet sein, die Existenz eines anderen Verfahrens oder gegebenenfalls eines anderen Urteils, das möglicherweise denselben Gegenstand betrifft wie der bei ihm gestellte Antrag, selbst in Erfahrung zu bringen. Die normale Art und Weise, in der die Frage der Rechtshängigkeit oder der Rechtskraft aufgeworfen wird, ist eine Unzulässigkeitseinrede, die von der Gegenpartei erhoben wird. Bei der Prüfung einer solchen Einrede hat sich das Gericht zwangsläufig mit der Frage der Zuständigkeit der beiden betroffenen Gerichte zu befassen. Es hat zumindest anfänglich festzustellen, ob es einen potenziellen Gerichtsstand gibt, aufgrund dessen das zuerst angerufene Gericht eine anerkennungsfähige Entscheidung erlassen könnte. Die für das Gericht am nächsten liegende Methode besteht darin, die verfahrenseinleitenden Handlungen oder die sonstigen Unterlagen zu den beiden eingeleiteten Verfahren zu vergleichen. Es kann auch die Parteien um alle zweckdienlichen Informationen ersuchen oder sich darüber hinaus an das betreffende ausländische Gericht wenden, sei es unmittelbar oder über die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats, in dem sich dieses befindet.
2. Zu den Verfahrens- oder Urteilskollisionen
79. Ich halte es für erforderlich, eine klare Unterscheidung zwischen den drei Fällen zu treffen, die auftreten können, wenn es um Kollisionen von Verfahren oder Urteile geht, und dies in chronologischer Reihenfolge.
80. Erstens, eine Einrede der internationalen Rechtshängigkeit kann erhoben werden, wenn eine Kollision zwischen mehreren Verfahren eintritt, die bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten angängig sind. Dies ist bei der vorliegenden Rechtssache der Fall, denn das vorlegende Gericht hat zu entscheiden, ob zum Zeitpunkt der Anrufung des deutschen Gerichts bereits ein Verfahren vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats – in Spanien beim Juzgado de Primera Instancia – anhängig war. Ich weise darauf hin, dass die Rechtshängigkeit endet, wenn eines der Verfahren beendet ist, und zwar unabhängig davon, aus welchem Grund. Dazu kann es nämlich nicht nur dann kommen, wenn eines der beiden „konkurrierenden“ Gerichte entschieden hat, sondern auch dann, wenn sich das bei einem von ihnen anhängige Verfahren erledigt hat, gleichgültig ob wegen Rücknahme des Antrags, Vergleich, Präklusion wegen mangelhaften Betreibens des Verfahrens, Tod einer Partei im Fall einer nicht übertragbaren Klagebefugnis usw.
81. Zweitens, eine Kollision kann zwischen einem in einem Mitgliedstaat anhängigen Verfahren und einer bereits in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung bestehen. In diesem Fall hat das Gericht, bei dem ein Verfahren anhängig ist, dieses für unzulässig weil gegenstandslos geworden zu erklären, wenn die ausländische Entscheidung anerkennungsfähig ist.
82. Drittens, eine Kollision kann zwischen Entscheidungen bestehen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ergangen sind, etwa im Fall eines Zusammentreffens von Zuständigkeiten. Auch wenn gemeinsame Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung dafür sorgen, dass die Wirkungen der einen Entscheidung Vorrang vor denen der anderen haben – unter Beachtung der Rechte, die eine Partei in einem der Mitgliedstaaten erworben hat ‑, bestehen die ergangenen Entscheidungen dennoch beide fort. In diesem Stadium des zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens anhängigen Rechtsstreits war der Gerichtshof in der Rechtssache C‑256/09, „Purrucker I“, mit einem Vorabentscheidungsersuchen angerufen worden.
83. Der Regelungszweck der Vorschriften über die internationale Rechtshängigkeit ist meines Erachtens ein doppelter. Wie bereits ausgeführt, sollen diese Vorschriften vor allem einen positiven Konflikt zwischen Entscheidungen verhindern. Wenn nämlich Parteien bei den Gerichten verschiedener Staaten Verfahren mit demselben Gegenstand, derselben Grundlage und in Bezug auf dasselbe Kind anhängig machen, kann diese Situation zu schwer miteinander zu vereinbarenden, wenn nicht einander diametral entgegengesetzten Entscheidungen führen und somit Rechtsunsicherheit für die Rechtsbürger schaffen. Die Lösung besteht in der dem zuletzt angerufenen Gericht auferlegten Verpflichtung, sich zugunsten des früher angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären, und zwar noch bevor parallele Entscheidungen erlassen werden.
84. Diese Vorschriften sollen außerdem verhindern, dass die Parteien einen missbräuchlichen Vorteil aus der Vielfalt der Rechtsordnungen ziehen, indem sie ein „forum shopping“ praktizieren, das darin bestünde, dass eine Partei ein Verfahren vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats einleitet, wenn sie das Gefühl hat, dass das zunächst angerufene Gericht möglicherweise entgegen ihrem Antrag entscheidet. Ich weise darauf hin, dass die Gefahr eines „forum shopping“ in Anbetracht der in der Verordnung Nr. 2201/2003 niedergelegten Zuständigkeitsregeln in Bezug auf die elterliche Verantwortung begrenzt ist(21), da das hauptsächliche Anknüpfungskriterium, der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, schwerlich arglistige Machenschaften erlaubt, wenn nicht der Aufenthaltsort für einen Zeitraum gewechselt wird, der lang genug ist, um einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.
85. Nach dem Leitfaden zur Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003(22) und ihrem Vorschlag, der zum Erlass dieser Verordnung geführt hat(23), war die Kommission der Ansicht, dass die Fälle, in denen tatsächlich Rechtshängigkeit vorliege, im Bereich der elterlichen Verantwortung selten seien, da das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Regel nur in einem Mitgliedstaat habe, in dem die Gerichte nach der allgemeinen Zuständigkeitsregel des Art. 8 dieser Verordnung die Zuständigkeit besäßen. Meines Erachtens darf jedoch nicht vergessen werden, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes schwer festzustellen sein kann(24) oder sich außerhalb des Unionsgebiets befindet(25), was dazu führen kann, dass sich Gerichte mehrerer Mitgliedstaaten gleichzeitig für zuständig halten.
86. Das vorlegende Gericht bemerkt zutreffend, dass der Unionsgesetzgeber damit, dass der Gerichtsstand auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes abstelle, ermöglicht habe, dass verschiedene Gerichte für denselben Lebenssachverhalt, aber für verschiedene Kinder zuständig seien. Ich weise darauf hin, dass es für Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 erforderlich ist, dass ein und dasselbe Kind von den konkurrierenden Verfahren betroffen ist, ohne dass insoweit Geschwister in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen wären(26). Im vorliegenden Fall sind die beiden betroffenen Kinder in rechtlicher Hinsicht – obwohl es sich um Zwillinge handelt – unterschiedlich zu behandeln, da ihre individuelle Situation nicht die gleiche ist, insbesondere da sie voneinander getrennt leben. Daher haben sich die deutschen Gerichte für international unzuständig erklärt, über den Antrag von Frau Purrucker auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts zu entscheiden(27), soweit er sich auf das Kind S. bezog, da sich der Aufenthalt dieses Kindes seit Geburt in Spanien befand, während sie ihre Zuständigkeit für das Kind M. bejaht haben.
B – Zur Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003
87. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 über Rechtshängigkeit im Bereich der elterlichen Verantwortung anwendbar sind, wenn zuerst ein Gericht eines Mitgliedstaats von einer Partei im Rahmen eines Verfahrens auf Anordnung von nur vorläufigen Maßnahmen angerufen wurde, während später ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats von der anderen Partei mit einem Antrag, der denselben Gegenstand hat, auf Erlass einer Entscheidung in der Hauptsache angerufen wurde.
88. Mir erscheint es angebracht, diese Frage zusammen mit den beiden anderen Fragen, die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt worden sind, zu prüfen. Diese sind nämlich mit ihr durch einen engen Kausalitätszusammenhang verbunden, aufgrund dessen die Antwort, die meiner Ansicht nach auf die erste Frage zu erteilen ist, dazu führt, dass die folgenden Fragen nicht zu beantworten sind.
1. Zum Umfang der erbetenen Auslegung
89. Meiner Meinung nach hat der Ansatz des Gerichtshofs neutral, objektiv und losgelöst von Zufälligkeiten sowohl tatsächlicher als auch prozessualer oder rechtlicher Art zu sein, die das Ausgangsverfahren aufweist. Die Gegebenheiten des vorliegenden Falles, so spezifisch oder tragisch sie auch sein mögen, können nicht entscheiden sein für die Lösung. Insbesondere dass das zuerst angerufene spanische Gericht möglicherweise nach den Kriterien der Verordnung Nr. 2201/2003 unzuständig war, sollte sich nicht in einer Weise auswirken, die den mit dieser Verordnung aufgestellten Grundprinzipien wie dem gegenseitigen Vertrauen(28), das der Anerkennung der in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen zugrunde liegt(29), abträglich wäre.
90. Außerdem müssen es die dem vorlegenden Gericht erteilten Antworten ermöglichen, alle in den Anwendungsbereich der „elterlichen Verantwortung“ im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 fallenden Verfahren abzudecken. Ich erinnere daran, dass die elterliche Verantwortung in Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung definiert wird als „die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht.“
91. Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b gilt die Verordnung Nr. 2201/2003 „ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen[(30)] mit folgendem Gegenstand: … die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung“. Nach Abs. 2 dieses Artikels betreffen die Zivilsachen „insbesondere:
a) das Sorgerecht und das Umgangsrecht,
b) die Vormundschaft, die Pflegschaft und entsprechende Rechtsinstitute,
c) die Bestimmung und den Aufgabenbereich jeder Person oder Stelle, die für die Person oder das Vermögen des Kindes verantwortlich ist, es vertritt oder ihm beisteht,
d) die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim,
e) die Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.“
92. Meines Erachtens kann die Gefahr einer Verfahrenskollision und folglich Rechtshängigkeit nur zwischen Verfahren bestehen, die in ein und dieselbe Rubrik der elterlichen Verantwortung fallen, und nicht zwischen zwei oder mehr dieser fünf Rubriken(31). In bestimmten Rechtsordnungen kann jedoch ein und dieselbe Maßnahme von Gesetzes wegen mehrere der in diesem Artikel genannten Aspekte der elterlichen Verantwortung einschließen(32).
93. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich klar, dass die Verfahren, die die „elterliche Verantwortung“ im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 betreffen, sowohl Parteien als auch Anträge betreffen können, die sich stark von dem Fall unterscheiden, der bei dem hier vorlegenden Gericht anhängig ist, in dem es um das von den Eltern beantragte Sorgerecht für ein Kind geht. Insoweit weise ich erstens darauf hin, dass der Inhaber der elterlichen Verantwortung eine andere natürliche Person als Vater und Mutter oder sogar eine juristische Person sein kann, zweitens, dass der Begriff „Zivilsachen“ vom Gerichtshof weit ausgelegt wurde(33), drittens, dass die Liste der als unter die „elterliche Verantwortung“ fallenden Rechtsmaterien nicht erschöpfend ist, und viertens, dass sich die betreffenden Schutzmaßnahmen sowohl auf die Person als auch auf das Vermögen eines Kindes beziehen können(34). Die große Verschiedenheit der Fälle, die von der Auslegung der Art. 19 und 21 dieser Verordnung erfasst werden können, darf nicht aus dem Blick geraten, wenn der Gerichtshof über die ihm vorgelegten Fragen entscheidet.
94. Diese Verschiedenheit betroffener Verfahren hat auch Auswirkungen auf die Behandlung der Rechtshängigkeit im Bereich der elterlichen Verantwortung, wie sie in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehen ist, denn daraus folgt, dass in diesem Bereich eine Vielzahl von Arten von Kollisionen zwischen Verfahren denkbar ist. Um nur einige der möglichen Kombinationen empirisch zu veranschaulichen, nenne ich erstens ein Verfahren, das bei einem für Kinder zuständigen Gericht zur Unterbringung eines Minderjährigen eingeleitet wird, parallel zu einem bei einem Familiengericht eingeleiteten Verfahren auf Anordnung eines Umgangsrechts für die Großeltern, und zweitens ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf einstweilige Übertragung des Sorgerechts, bis das Ergebnis einer sozialen oder psychologischen Untersuchungsmaßnahme vorliegt, während ein dasselbe Kind betreffendes Verfahren darauf abzielt, das Umgangsrecht eines der Eltern endgültig in Frage zu stellen. Es ist daher von grundlegender Bedeutung, die Begriffe desselben Gegenstands des Anspruchs und derselben Grundlage des Anspruchs zu bestimmen, die die Konturen der Rechtshängigkeit im Sinne dieser Bestimmung umreißen.
2. Zu den großen Leitlinien der Auslegung
95. Bestimmte Rechtstexte, die zwischen den Mitgliedstaaten anwendbar waren oder es immer noch sind, können im Rahmen der Auslegung der Vorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 nützlich sein(35). Dies gilt, neben anderen Rechtstexten(36), für das Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968(37) sowie für die Verordnung Nr. 44/2001, die ab 1. März 2002 an seine Stelle treten sollte(38). Ähnlichkeiten gibt es insbesondere in Bezug auf den Rechtshängigkeitsbegriff(39). Die elterliche Verantwortung im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt jedoch unter den Personenstand, der von den beiden anderen Rechtstexten ausdrücklich ausgenommen ist. Der im vermögensrechtlichen Bereich gewählte Ansatz gilt nicht zwangsläufig im nichtvermögensrechtlichen Bereich, in Anbetracht der Unterschiede, die in Bezug auf Art und Wirkungen der in diesen beiden Bereichen getroffenen Entscheidungen sowie in Bezug auf die dort geltenden leitenden Grundsätze bestehen. Für die Verordnung Nr. 2201/2003 charakteristische Grundsätze wie der Vorrang, der im Bereich der elterlichen Verantwortung dem Kindeswohl zukommt(40), lassen vieles in einem besonderen Licht erscheinen, in dem die Auslegung eines Begriffs wie desjenigen der Rechtshängigkeit eine Ausrichtung haben kann, die sich von derjenigen im Rahmen anderer Rechtstexte unterscheidet.
96. Im Übrigen bemerke ich, dass es zwar Entscheidungen des Gerichtshofs zur Auslegung des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 gibt, die die Begriffe der Rechtshängigkeit und der einstweiligen Maßnahmen behandeln; meines Wissens geschieht dies aber nur gesondert und nicht kombiniert, d. h., ohne dass über die Rechtshängigkeit im Fall von Entscheidungen über einstweilige Maßnahmen befunden wird. In der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten gibt es offenbar ebenso wenig bedeutsame Gesichtspunkte, insbesondere in Anbetracht der spärlichen Antworten, die in der mündlichen Verhandlung auf die vom Gerichtshof hierzu ausdrücklich gestellte Frage gegeben worden sind.
97. Meiner Meinung nach ist der Begriff der Rechtshängigkeit im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 autonom auszulegen(41), also unter Bezugnahme nicht auf die in diesem oder jenem Mitgliedstaat herrschenden Rechtsansichten, sondern auf zum einen die Zielsetzungen und die Systematik der Verordnung und zum anderen die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben(42). Dies hat meines Erachtens für alle autonomen Begriffe zu gelten, die in der Verordnung Nr. 2201/2003 enthalten sind.
98. Es wäre denkbar, dass sich verfahrensrechtliche Begriffe wie „zuerst angerufenes Gericht“ nach den nationalen Vorschriften bestimmen. Die Verordnung Nr. 2201/2003 hat jedoch insoweit ein gemeinsames System geschaffen, das die nationalen Partikularismen überwindet. So vereinheitlicht Art. 16 dieser Verordnung den Begriff der Anrufung eines Gerichts, indem er dessen charakteristische Merkmale sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in temporaler Hinsicht festlegt. Er sieht nämlich vor, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen diese Anrufung erfolgt, unabhängig von den in den Mitgliedstaaten intern geltenden Vorschriften. Der Gesetzgeber ist in meinen Augen von der Rechtsprechung zum Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968(43) dadurch abgerückt, dass er einen unionsrechtlichen Grundsatz aufgestellt hat, nach dem sich der Punkt, von dem an eine Anrufung vorliegt, bestimmt, und zwar unter Bezugnahme auf den Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde oder die für die Zustellung verantwortliche Stelle es erhalten hat(44). Die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen hängt von den im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten der Anrufung des Gerichts ab.
99. Die Auslegung von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat erstens(45) auf den Wortlaut dieser Vorschrift und der sie umgebenden Vorschriften abzustellen. Daher bemerke ich, dass bei der in Art. 19 geregelten Rechtshängigkeit nicht unterschieden wird zwischen einer Anrufung in der Hauptsache und einer Anrufung mit dem Ziel der Anordnung einstweiliger Maßnahmen. Auch Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 trifft keine solche Unterscheidung.
100. Der Begriff des vorläufigen Rechtsschutzes kommt als solcher in der Verordnung Nr. 2201/2003, die nur die aufgrund von „Dringlichkeit“(46) angeordneten Maßnahmen nennt, nicht vor. Dagegen wird ausdrücklich auf die Zuständigkeit für die Entscheidung in der „Hauptsache“ Bezug genommen in Art. 15, in dem es um die Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann, geht, und in Art. 20 zu den in dringenden Fällen angeordneten einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen.
101. Der Begriff der einstweiligen Maßnahmen, die entweder im Rahmen dieses Art. 20 angeordnet werden können, wenn dessen Voraussetzungen erfüllt sind, oder außerhalb dieses Artikels, falls sie dies nicht sind, ist nicht klar definiert, was angesichts der in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten festgestellten Vielfalt(47) zu Auslegungsproblemen führen kann. Ich weise außerdem darauf hin, dass in Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 der Begriff „Entscheidung“ im Sinne dieser Verordnung in der Weise definiert wird, dass er nicht nur „Urteile“, sondern auch „Beschlüsse“ wie diejenigen umfasst, die der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter in dringenden Fällen erlassen könnte.
102. Zweitens beruht die Auslegung des Art. 19 auf seiner Stellung im allgemeinen Gefüge der Verordnung Nr. 2201/2003. Ebenso wie der Gerichtshof unter diesem Gesichtspunkt zu Art. 20 dieser Verordnung entschieden hat(48), bin ich der Ansicht, dass Art. 19 keine Vorschrift über die Zuständigkeit in der Hauptsache enthält, sondern eine Gliederungsvorschrift oder eine „Vorschrift über die Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften“ (49) im Fall mehrerer Antragstellungen und von Verfahrenskonflikten. Insoweit ist es bedeutsam, auf die Stellung dieses Art. 19 im Verhältnis zu den ihn umgebenden Vorschriften hinzuweisen. Die vor ihm stehenden Vorschriften stellen nämlich Zuständigkeitsregeln auf, während die nach ihm stehende Vorschrift, Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003, in dringenden Fällen angeordnete Maßnahmen regelt. Könnten die in Art. 20 genannten einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen von Art. 19 erfasst werden, wären sie vor diesem erwähnt worden. Daraus kann mit allen Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, geschlossen werden, dass keine Rechtshängigkeit möglich ist, wenn ein Verfahren eingeleitet wird zum Zweck der Anordnung von auf Dringlichkeit beruhenden Maßnahmen durch ein Gericht, das andernfalls nicht zuständig wäre.
103. Drittens hat die Auslegung den Grundgedanken zu berücksichtigen, der dem Art. 19 und der Verordnung Nr. 2201/2003 in ihrer Gesamtheit immanent ist. Es liegt auf der Hand, dass die harmonisierten Zuständigkeitsvorschriften für die nationalen Gerichte verbindlich sind, da andernfalls das eingeführte System nicht funktionieren kann. Nach dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003, dessen Geist in Art. 8 dieser Verordnung aufgegriffen wird, besteht einer der wichtigsten Grundsätze dieser Verordnung in Folgendem: „Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet.“ Ein weiterer wesentlicher Grundsatz betrifft den in Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 angeordneten chronologischen Vorrang(50), der den im Bereich der Rechtshängigkeit klassischen Grundsatz prior temporis aufgreift(51). Ich meine, dass es Sache des zuerst angerufenen Gerichts ist, seine Zuständigkeit zu beurteilen(52), und dass seine Entscheidung das später angerufene Gericht bindet, entgegen dem, was das vorlegende Gericht ausführt, nachdem das Oberlandesgericht Stuttgart diesen fragwürdigen Standpunkt eingenommen hat. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs geht offenbar in dieselbe Richtung(53).
3. Zu den verschiedenen Kategorien einstweiliger Maßnahmen
104. Für die Beantwortung der vorgelegten Frage zur Funktionsweise der in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Bestimmungen über die Rechtshängigkeit in dem Fall, dass ein Gericht wegen Anordnung einstweiliger Maßnahmen und – damit konkurrierend – ein Gericht in der Hauptsache zur Regelung der elterlichen Verantwortung angerufen wird, tragen das Urteil Purrucker I sowie die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in dieser Rechtssache eine Reihe zweckdienlicher Antworten bei, aber nur unter dem Blickwinkel der einstweiligen Maßnahmen, insbesondere im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003, ohne dass damit vorweggenommen würde, wie im vorliegenden Fall Art. 19 dieser Verordnung auszulegen ist.
105. Aus diesem Urteil ergibt sich insbesondere, dass zu unterscheiden ist zwischen Entscheidungen über einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 einerseits und den außerhalb dieses Rahmens angeordneten einstweiligen Maßnahmen andererseits. Es ist daher zu unterscheiden zwischen den auf der Grundlage von Art. 20 angeordneten einstweiligen Maßnahmen, die folglich auf dessen Kriterien beruhen, und den sonstigen einstweiligen Maßnahmen, die ein Gericht anordnen kann, das sich nach den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 für zuständig hält.
– Einstweilige Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003
106. Unter Berücksichtigung der Systematik der Verordnung Nr. 2201/2003 ist es für mich evident, dass Rechtshängigkeit nicht möglich ist beim Zusammentreffen von Verfahren, in denen es einerseits um die Anordnung einstweiliger Maßnahmen oder Schutzmaßnahmen aufgrund von Dringlichkeit bei einem unzuständigen Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind befindet, und andererseits um eine Entscheidung eines für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts geht. Die Rechtshängigkeit nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 kann meines Erachtens nur Verfahren betreffen, in denen Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten, die ihre Zuständigkeit auf die Art. 8 bis 14 dieser Verordnung stützen, Entscheidungen zu erlassen haben. Alle Verfahrensbeteiligten, die zu diesem Punkt Erklärungen eingereicht haben, pflichten dem offenbar bei.
107. Die wesentliche rechtliche Grundlage(54) dieser Lösung besteht darin, dass Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 keine extraterritoriale Wirkung haben(55). Einstweilige Maßnahmen, die die Voraussetzungen des Art. 20 erfüllen, sind nämlich in anderen Mitgliedstaaten nicht bindend, sondern nur im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, zu dem das Gericht gehört, das sie erlassen hat. Folglich kann keine Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorliegen, die zur Folge hätte, dass ein zuerst anhängig gemachtes Verfahren nach Art. 20 der Verordnung den Ablauf des bei dem für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats eingeleiteten Verfahrens hindern könnte.
108. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission die Auffassung vertreten, dass eine Unterscheidung zwischen den in Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten einstweiligen Maßnahmen und den von einem für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gericht angeordneten einstweiligen Maßnahmen als Kriterium für die Anwendung von Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung nicht praktikabel wäre, da das später angerufene Gericht nicht wissen könne, ob die einstweiligen Maßnahmen des zuerst angerufenen Gerichts auf einen der in den Art. 8 ff. dieser Verordnung genannten Gerichtsstände gestützt seien. Ich teile dieses Bedenken nicht.
109. Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 erlaubt es einem Gericht, in Bezug auf ein Kind, das sich in seinem Hoheitsgebiet befindet, nach seinem nationalen Recht einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen anzuordnen, auch wenn ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist. Die Maßnahme kann von Gerichten oder Behörden angeordnet werden, die für Rechtssachen zuständig sind, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, wie er in Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung festgelegt wird. Da dieser Art. 20 keine Zuständigkeitsvorschrift ist, treten die in diesem Rahmen ergriffenen Maßnahmen außer Kraft, sobald das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht, das so aus Gründen des Zeitablaufs und der räumlichen Distanz vorübergehend ersetzt wird, in der Lage ist, die ihm geeignet erscheinenden Anordnungen zu treffen(56).
110. Wie bereits ausgeführt, kommt es gewöhnlich aufgrund einer Einrede der Unzulässigkeit wegen Rechtshängigkeit, die von einer Partei bei dem später angerufenen Gericht erhoben wird, zur Anwendung von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es Fälle gibt, in denen das Vorhandensein eines in einem anderen Mitgliedstaat anhängigen Verfahrens zur elterlichen Verantwortung einem Gericht nicht durch die Parteien selbst zur Kenntnis gelangt, sondern aufgrund von Informationen, die von der Zentralen Behörde übersandt werden.
111. Das später angerufene Gericht eines Mitgliedstaats B kann ein Verfahren auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen, die von einem Gericht eines Mitgliedstaats A nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassen werden, daran erkennen, dass zwei Kriterien erfüllt sind: erstens, Anwesenheit des Kindes oder Vorhandensein von Gegenständen seines Vermögens im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats A, und zweitens, Feststellung, dass sich das Kind in dem Zeitpunkt der Antragstellung in diesem Staat A nicht gewöhnlich aufgehalten hat. Ich weise darauf hin, dass einstweilige Maßnahmen in Bezug auf die Person eines Kindes, das sich nicht in dem Mitgliedstaat des Gerichts, das diese Maßnahmen anordnet, befindet, nie unter Art. 20 fallen(57).
112. Falls das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Mitgliedstaat B des später angerufenen Gerichts (oder in einem dritten Mitgliedstaat) hat und es sich tatsächlich im Mitgliedstaat A des zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen zuerst angerufenen Gerichts befindet, kann das später angerufene Gericht vermuten, dass es sich um ein Verfahren nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 handelt, es sei denn, dass die Partei, die die Einrede der Rechtshängigkeit erhebt, Anhaltspunkte dafür liefern kann, dass das zuerst angerufene Gericht im Mitgliedstaat A im Hinblick auf einen der in den Art. 9 bis 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Gerichtsstände angerufen wurde(58).
113. Für Kinder, deren Ort des gewöhnlichen Aufenthalts nicht eindeutig festgestellt werden kann, sind nach Art. 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind gegenwärtig befindet; infolgedessen ist Art. 20 dieser Verordnung nicht auf die von diesen Gerichten angeordneten einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen anwendbar. Derselbe Gedanke gilt für Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt normalerweise außerhalb der Union haben; deren Situation ist in Art. 14 („Restzuständigkeit“) dieser Verordnung geregelt. Befindet sich ein solches Kind im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sind die nationalen Gerichte zuständig, soweit sich dies aus den Rechtsvorschriften dieses Staates ergibt. Ein positiver Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten ist also möglich.
– Einstweilige Maßnahmen, die von einem nach den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständigen Gericht angeordnet werden
114. Bei einstweiligen Maßnahmen, die nicht wegen Dringlichkeit nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 angeordnet werden, sondern von einem Gericht, das sich nach den Art. 8 bis 14 dieser Verordnung für in der Hauptsache zuständig hält, muss der Ansatz ein anderer sein, d. h., dass Rechtshängigkeit vorliegen kann. Ich habe den Eindruck, dass es sich hierbei um den heikelsten Aspekt der vom Amtsgericht Stuttgart aufgeworfenen Probleme handelt.
115. Ich weise darauf hin, dass die erste Vorlagefrage den Fall der Verfahren betrifft, in denen nur einstweilige Maßnahmen beantragt werden, also „isoliert“ in der Terminologie des vorlegenden Gerichts, im Gegensatz zu Verfahren, mit denen nicht nur einstweilige Maßnahmen, sondern auch – in erster Linie oder hilfsweise – endgültige Maßnahmen in der Hauptsache angestrebt werden. Dies kann meines Erachtens in drei Fallgestaltungen vorkommen. Erstens können einstweilige Maßnahmen bis zum Vorliegen von Untersuchungsergebnissen (soziale Erhebung, medizinisch-psychologisches Gutachten, Vermögensinventar usw.) oder bis zum Eintritt eines Ereignisses (familiäre Mediation, Entziehungskur eines Elternteils, Beendigung eines Krankenhausaufenthalts oder einer Freiheitsstrafe usw.) beantragt werden. Zweitens können Maßnahmen mit einer vorher bestimmten Geltungsdauer oder einer zeitlichen Begrenzung beantragt werden (z. B. Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie für die Dauer eines Jahres, Anordnung einer Vormundschaft bis zur Volljährigkeit des Kindes). Drittens können einstweilige Maßnahmen beantragt werden bis zur Vornahme einer späteren Verfahrenshandlung des Antragstellers, ohne dass nach dem anwendbaren nationalen Recht ein neues verfahrenseinleitendes Schriftstück erforderlich wäre (dies ist offenbar bei den vorliegend involvierten Vorschriften des spanischen Rechts der Fall).
116. Nach dem Wortlaut der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003, insbesondere des Art. 19 Abs. 2, wird nicht zwischen Entscheidungen unterschieden, die das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht vorläufig, d. h. für eine bestimmte Dauer, erlässt, und den Entscheidungen, die es endgültig erlässt, genauer gesagt, für einen unbestimmten Zeitraum, der aber enden kann, wenn ein neuer Gesichtspunkt eine Änderung der Maßnahmen, die die Ausübung der elterlichen Verantwortung geregelt hatten, rechtfertigt.
117. In Anbetracht des Regelungszwecks von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 und entgegen dem, was im Rahmen von Art. 20 geschieht(59), ist es folgerichtig, dass sich das in der Hauptsache zuständige Gericht, das eine einstweilige Maßnahme zur elterlichen Verantwortung in Bezug auf ein Kind angeordnet hat, nicht mit diesem vorab erfolgenden Schritt begnügt und anschließend selbst eine endgültig oder umfassende Entscheidung trifft, da es dem Kindeswohl entspricht, dass die Situation des Kindes möglichst dauerhaft geregelt wird, und dies von ein und demselben Gericht, nämlich von dem, das die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat, damit eine Änderung von Sichtweisen vermieden wird. Es muss folglich mit der Vorschrift über die Rechtshängigkeit verhindert werden, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats in der Sache entscheiden kann, wenn ein für die Entscheidung in der Hauptsache zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats, das früher angerufen worden ist, einstweilige Maßnahmen angeordnet hat.
118. In Bezug auf die Annahme einer prozessualen Einheit stehen sich zwei Auffassungen gegenüber: einerseits die Auffassung der tschechischen, der spanischen und der französischen Regierung, wonach in Anbetracht der Einheit, die die einstweiligen Maßnahmen und die Hauptsache bilden, Rechtshängigkeit eintritt; andererseits die von der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, der deutschen Regierung und der Kommission vertretene Auffassung, wonach die Entscheidung, mit der einstweilige Maßnahmen angeordnet werden, etwas von der Entscheidung, die in der Hauptsache ergehen wird, Verschiedenes darstellt und das Verfahren mit ihrem Erlass abschließt. Für diese zweite Auffassung, die sich von der Rechtsprechung, die im Rahmen der Auslegung des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 ergangen ist, entfernt, wird ein Bemühen um Rechtssicherheit und Schnelligkeit angeführt, sowie der Wille, das Gericht, das dem Kind räumlich am nächsten ist, zu privilegieren.
119. Folgte man, wie das vorlegende Gericht feststellt, der erstgenannten Rechtsansicht, wonach „das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit einem später eingeleiteten Hauptsacheverfahren eine verfahrensrechtliche Einheit [bildet]“, wäre „das Sorgerechtsverfahren für den Sohn [M.] nicht erst seit Januar 2008, sondern schon seit 28.6.2007 beim spanischen Gericht anhängig im Sinne von [Art. 19 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003].“
120. In bestimmten Mitgliedstaaten wäre es gekünstelt, wenn versucht würde, zwischen den vor der Entscheidung eines in der Hauptsache zuständigen Gerichts erlassenen vorläufigen Entscheidungen und den Entscheidungen, die es am Ende erlässt, zu trennen, da sie ein und dieselbe Rechtssache bilden, und dies so lange, bis alle Aspekte des Verfahrens, mit dem dieses Gericht befasst ist, umfassend entschieden sind und seine Zuständigkeit folglich erschöpft ist.
121. Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 unterscheidet nicht nach Entscheidungskategorien. Er gilt daher, wenn zwei Gerichte nach den Art. 8 bis 14 dieser Verordnung konkurrierend für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, unabhängig davon, welches Ziel mit dem Antrag jeweils verfolgt wird (einstweilige Maßnahmen oder endgültige Entscheidung) und welche Dauer die Wirkungen der beantragten Entscheidung jeweils haben (bestimmte Dauer oder unbestimmte Dauer). Worauf es ankommt, ist die im Keim bestehende Gefahr, d. h. die Gefahr, die sich am Ende der beiden eingeleiteten Verfahren realisieren könnte, dass Entscheidungen erlassen werden, deren gleichzeitige Durchführung unmöglich ist(60).
122. Der Schlüsselfaktor ist dabei die Definition der „Verfahren wegen desselben Anspruchs“ im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, wobei zu präzisieren ist, dass hierfür auf den Tag der Anrufung des jeweiligen Gerichts im Sinne von Art. 16 derselben Verordnung abzustellen ist, unabhängig von der weiteren Entwicklung des Verfahrens. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass ein Vergleich mit den Entscheidungen des Gerichtshofs zur Auslegung der entsprechenden Vorschriften des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die Rechtshängigkeit zweckdienlich ist und dass etwaige Besonderheiten der in den betroffenen Mitgliedstaaten geltenden zivilverfahrensrechtlichen Vorschriften insoweit irrelevant sind(61).
4. Zur praktischen Durchführung der in der Verordnung Nr. 2201/2003 für den Fall der Rechtshängigkeit festgelegten Bestimmungen
123. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die im vorliegenden Fall das nationale Gericht hatte, die Informationen zu erlangen, die erforderlich waren, um beurteilen zu können, ob ein konkurrierendes Verfahren in Spanien anhängig war, möchte ich dem Gerichtshof vorschlagen, die Möglichkeit zu erwägen, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung eine Regelung zu schaffen, die es erlaubt, die Probleme in Bezug auf den Austausch von verfahrensrechtlichen und normativen Auskünften zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten so weit wie möglich auszuräumen.
124. Das später angerufene Gericht ist, sobald es Kenntnis von einem anderen Verfahren hat, das offenbar bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats in der Hauptsache anhängig ist(62), nach Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 verpflichtet, sich danach, ob dieses Verfahren tatsächlich anhängig ist, sowie nach seiner Tragweite, d. h. nach seinem Gegenstand und seiner Grundlage, zu erkundigen. Dabei hat das Gericht meiner Meinung wie folgt vorzugehen: Es sollte versuchen, mit dem zuerst angerufenen Gericht, mit der Zentralen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats und gegebenenfalls über das EJN mit dem nationalen Verbindungsrichter in Kontakt zu treten. Es sollte außerdem auf die aktive Mitarbeit der Parteien zählen können, insbesondere derjenigen Partei, die die Einrede der Rechtshängigkeit erhebt und daher ein Interesse daran hat, zweckdienliche Auskünfte zu liefern, um zu beschreiben, dass das zuerst angerufene Gericht eine Entscheidung erlassen könnte, die mit der Entscheidung, die das später angerufene Gericht zu erlassen hat, unvereinbar wäre.
125. Der Gerichtshof könnte daher in zweckdienlicher Weise entscheiden, dass die nationalen Gerichte sowie die Zentralen Behörden verpflichtet sind, in der Weise zu kooperieren, dass sie den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten auf entsprechende Ersuchen alle nützlichen Informationen über die bei ihnen anhängigen Verfahren liefern, und dies innerhalb einer angemessenen Frist. Das später angerufene Gericht hat nämlich zwar das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, aber es darf auf die erbetenen Informationen darüber, ob Rechtshängigkeit vorliegt, nicht übermäßig lange warten, da andernfalls eine Rechtsverweigerung vorliegen könnte. Auch wenn Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 keine Beantwortungsfrist für das zuerst angerufene Gericht vorsieht, halte ich es unter Berücksichtigung des Kindeswohls, das eine rasche Entscheidung gebietet, für erforderlich, eine Frist festzulegen.
126. Auf eine Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung hat die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgeschlagen, eine Frist von sechs Monaten zu wählen. Meines Erachtens könnte die Bestimmung in Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003, wonach die Zuständigkeit des früheren gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes während einer Dauer von drei Monaten aufrechterhalten bleibt, in entsprechender Anwendung als Orientierungspunkt für die Festlegung der angemessenen Frist dienen(63). Der Gerichtshof könnte somit entscheiden, dass dann, wenn die erbetenen Informationen nicht binnen drei Monaten ab Eingang des Ersuchens bei dem betreffenden Gericht oder der betreffenden Zentralen Behörde geliefert werden, das später angerufene Gericht – sofern kein gebührend begründetes, auf höhere Gewalt zurückzuführendes Hindernis vorgelegen hat – befugt sein könnte, aus diesem Schweigen darauf zu schließen, dass in dem anderen Mitgliedstaat kein konkurrierendes Verfahren im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 anhängig ist(64).
127. Wie ich bereits ausgeführt habe, hat das zuerst angerufene Gerichte seine Zuständigkeit festzustellen, ohne dass das später angerufene Gericht dies überprüfen könnte(65) – entgegen der vom Oberlandesgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 14. Mai 2009 offenbar vertretenen Auffassung. Das später angerufene Gericht kann nicht nachprüfen, ob die tatsächlichen Gegebenheiten und der zur Frage der Zuständigkeit eingenommene Standpunkt einander entsprechen, denn diese Entscheidung hat in den anderen Mitgliedstaaten auch dann Geltung, wenn das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht nur vorläufig entscheidet. Ich teile die Ansicht der tschechischen Regierung, wonach dieses Gericht allenfalls eine formelle Prüfung vornehmen kann, d. h. die Rechtsgrundlage bestimmen kann, auf die das andere Gericht seine Zuständigkeit gestützt hat(66). Dies folgt aus einem der grundlegenden Prinzipien der mit der Verordnung Nr. 2201/2003 eingeführten Regelung, nämlich dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten. Dieser Grundsatz gilt als unabdingbar für die Schaffung eines echten Rechtsraums, wie im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 herausgestellt wird(67).
C – Zur zweiten und zur dritten Frage
128. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Rechtshängigkeit auch dann anzuwenden ist, wenn eine Entscheidung im isolierten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aus einem Mitgliedstaat nicht in einem anderen Mitgliedstaat anerkennungsfähig im Sinne von Art. 21 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist. Das Gericht führt summarisch aus, dass die Anerkennungsfähigkeit einer Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß der letztgenannten Vorschrift für die erste Frage rechtlich von Bedeutung sein könne.
129. Im Urteil Purrucker I hat sich der Gerichtshof ausdrücklich wie folgt geäußert: „Die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung [Nr. 2201/2003] sind nicht auf einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar.“(68)
130. Meiner Meinung nach muss, wie ich bei der Beantwortung der ersten Frage ausgeführt habe, unterschieden werden zwischen den einstweiligen Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003, die nach der vorstehend genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht anerkennungsfähig sind, und den einstweiligen Maßnahmen eines nach den Art. 8 ff. dieser Verordnung in der Hauptsache zuständigen Gerichts, die unter die Art. 21 ff. der Verordnung fallen und folglich wie alle Entscheidungen eines in der Hauptsache zuständigen Gerichts anerkannt und vollstreckt werden können, und zwar unabhängig von der Art des Antrags. Es spielt nämlich keine Rolle, ob das in der Hauptsache zuständige Gericht um eine vorläufige Entscheidung ersucht wird oder eine endgültige Entscheidung erlässt. Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 soll nach dem von mir oben Ausgeführten nur für die zweitgenannte Kategorie von Maßnahmen gelten(69).
131. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob „eine Anrufung eines Gerichts eines Mitgliedstaates wegen eines isolierten einstweiligen Rechtsschutzes einer Anrufung in der Hauptsache im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 gleichzustellen [ist], wenn nach dem nationalen Verfahrensrecht dieses Staates eine anschließende Anrufung dieses Gerichts zur Regelung der Hauptsache innerhalb einer bestimmten Zeit nachfolgen muss, um verfahrensrechtliche Nachteile zu vermeiden“. Im Vorlagebeschluss heißt es, dass diese Frage „auf eine Abklärung [zielt], ob ggf. eine Gleichbehandlung der beiden Verfahren im Wege einer Analogie gerechtfertigt ist“.
132. Meiner Ansicht nach ist die Beantwortung dieser Frage ebenfalls gegenstandslos in Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage, aus der sich ergibt, dass Besonderheiten der in einem Mitgliedstaat geltenden Verfahrensvorschriften – im vorliegenden Fall der in Spanien geltenden Vorschriften im Gegensatz zu der in Deutschland geltenden Regelung(70) – ohne Auswirkungen auf die Beurteilung der Frage sind, ob Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorliegt.
VII – Ergebnis
133. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Amtsgerichts Stuttgart wie folgt zu antworten:
Da die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf ein in einem Mitgliedstaat befindliches Kind, die ein Gericht dieses Staates nach Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 anordnet, keine bindenden Rechtswirkungen außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats haben und daher in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkennungsfähig im Sinne von Art. 21 dieser Verordnung sind, führen sie auch nicht zur Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung, die die Gerichte anderer Mitgliedstaaten, bei denen ein Verfahren zur Regelung der elterlichen Verantwortung in Bezug auf dasselbe Kind anhängig ist, binden würde.
Dagegen hindert ein Verfahren, das bei einem Gericht anhängig ist, das seine Zuständigkeit auf einen der Art. 8 bis 14 dieser Verordnung stützt und das zuerst in einem Verfahren zur Regelung der elterlichen Verantwortung in Bezug auf ein Kind gemäß Art. 1 Abs. 1 und 2 und Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung angerufen wurde, unabhängig davon, wie das Verfahren nach den in den betroffenen Mitgliedstaaten geltenden nationalen Vorschriften zu qualifizieren ist, und unabhängig von der Frage, ob die Maßnahme vorläufig – für eine bestimmte oder unbestimmte Zeit – beantragt wird, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats daran, über ein Verfahren wegen desselben Anspruchs bezüglich desselben Kindes zu entscheiden, bis das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit geklärt hat oder das bei diesem Gericht anhängige Verfahren aus irgendeinem Grund beendet ist, einschließlich wegen des Versäumnisses einer Partei, eine verfahrensrechtliche Maßnahme zum Abschluss zu bringen, die dafür erforderlich ist, dass das zuerst angerufene Gericht nach dem Recht seines Mitgliedstaats in der Hauptsache entscheiden kann.
1 – Originalsprache: Französisch.
2 – ABl. L 338, S. 1.
3 – Urteil Purrucker (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).
4 – Ich weise darauf hin, dass eine eingehende Beschreibung der Rechtsinstrumente, die der Verordnung Nr. 2201/2003 vorausgingen, in den Nrn. 30 bis 48 der Schlussanträge enthalten ist, die Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache C‑256/09, „Purrucker I“, vorgetragen hat.
5 – ABl. C 221, S. 1.
6 – ABl. 1998, C 221, S. 27.
7 – ABl. L 160, S. 19.
8 – Vgl. die Klauseln 2 und 3 dieser Vereinbarung, zitiert in Randnr. 28 des Urteils Purrucker I.
9 – Vgl. die in Randnr. 36 des Urteils Purrucker I wiedergegebene Begründung dieses Beschlusses.
10 – Vgl. die Auszüge aus dieser Entscheidung in Randnr. 37 des Urteils Purrucker I.
11 – Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsstaaten dieses Übereinkommens, das am 1. Dezember 1983 in Kraft trat.
12 – Also vor Verkündung des Urteils in der Rechtssache Purrucker I, aber nach Stellung der Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in dieser Rechtssache vom 20. Mai 2010.
13 – Vgl. entsprechend Generalanwalt Léger zum Begriff der Unvereinbarkeit in Art. 27 Abs. 3 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 in der Rechtssache Italian Leather (Urteil vom 6. Juni 2002, C‑80/00, I‑4995): „Wenn die nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfügungsgründe voneinander abweichen, ohne dass jedoch die aufgrund dieser Verfahrensvoraussetzungen ergangenen Entscheidungen miteinander unvereinbare Wirkungen entfalten, kann nicht bejaht werden, dass die ausländische Entscheidung als unvereinbar mit der im Anerkennungsstaat erlassenen Entscheidung angesehen wird.“ Zum funktionalen Zusammenhang zwischen diesem Artikel und Art. 21 dieses Übereinkommens, der die Rechtshängigkeit betrifft, vgl. Urteile vom 19. Mai 1998, Drouot assurances (C‑351/96, Slg. 1998, I‑3075, Randnr. 16), und vom 9. Dezember 2003, Gasser (C‑116/02, Slg. 2003, I‑14693, Randnr. 41).
14 – Dass die Zuständigkeitsregeln vereinheitlicht worden sind, schließt nicht aus, dass Parteien, die entgegengesetzte Interessen haben, Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten anrufen können.
15 – Wie Generalanwältin Kokott ausgeführt hat, soll die Rechtskraft ebenfalls das Nebeneinander widersprüchlicher Entscheidungen verhindern (Nrn. 37 ff. ihrer Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Luxemburg [Urteil vom 29. Juni 2010, C‑526/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht]).
16 – Es wäre nämlich unsinnig, wenn ein Gericht das Verfahren bis zum Erlass einer ausländischen Entscheidung aussetzen würde, die dann im Inland nicht anerkannt würde. In einem solchen Fall läge gegenüber dem Kläger Rechtsverweigerung vor, da er daran gehindert wäre, einen im Inland vollstreckbaren Titel zu erwirken.
17 – Diese materielle Rechtskraft darf nicht mit der formellen Rechtskraft verwechselt werden, die bedeutet, dass ein Urteil nicht oder nicht mehr anfechtbar ist.
18 – Vgl. Nrn. 119 und 121 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache C‑256/09.
19 – Der Ausdruck ist je nach Sprachfassung unterschiedlich: „le même objet et la même cause“ im Französischen, „the same cause of action“ im Englischen, „samaa asiaa“ im Finnischen oder „samma sak“ im Schwedischen. Der Rechtsprechung zufolge (vgl. Urteile vom 8. Dezember 1987, Gubisch Maschinenfabrik, 144/86, Slg. 1987, 4861, Randnr. 14, und vom 6. Dezember 1994, Tatry, C‑406/92, Slg. 1994, I‑5439, Randnr. 38) bestimmt sich die objektive Tragweite nach zwei unterschiedlichen Faktoren, nämlich dem Gegenstand und der Grundlage des Anspruchs. Daher haben die Sprachfassungen, die ausdrücklich zwischen diesen beiden Begriffen unterscheiden, als Referenz zu gelten.
20 – Vgl. in Zivil- und Handelssachen: Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 und Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1); in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung: Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1347/2000; in Ehesachen: Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003. Zur Verordnung Nr. 1347/2000 vgl. insbesondere S. 17 des ihr zugrunde liegenden Vorschlags der Kommission (Dokument KOM[1999] 220 endg.), der den Unterschied zwischen den Abs. 1 und 2 des Art. 11 dieser Verordnung herausstellt, der auch bei den Abs. 1 und 2 des Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu erkennen ist. In dem Dokument heißt es außerdem, dass der Rechtshängigkeitsbegriff im Recht der Mitgliedstaaten mehr oder weniger weit definiert sei, wobei bestimmte Rechtsordnungen nicht zwischen Gegenstand und Grundlage unterschieden, was sich auch aus dem Borrás-Bericht ergibt (Nr. 52).
21 – Etwas anderes gilt für einen Rechtstext wie das Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968, denn die zahlreichen konkurrierenden Gerichtsstände, die darin vorgesehen sind, schaffen verstärkt Möglichkeiten für eine Rechtshängigkeit.
22 – Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II, verfasst von den Dienststellen der Kommission im Einvernehmen mit dem Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EJN), aktualisierte Fassung vom 1. Juni 2005, S. 22. Das Dokument ist abrufbar auf der Website der Kommission (http://ec.europa.eu/justice_home).
23 – Dokument KOM(2002) 222 endg., S. 11.
24 – Dies war in der Rechtssache der Fall, in der das Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, Slg. 2009, I‑2805), ergangen ist, denn die Familie hatte „Schweden [verlassen], um ihren Urlaub in Finnland zu verbringen. Sie blieb in Finnland und wohnte in Wohnwagen auf verschiedenen Campingplätzen; die Kinder gingen nicht zur Schule“ (Randnr. 14). Die Kriterien zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sind in diesem Urteil wie folgt festgelegt worden: „Neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat sind andere Faktoren heranzuziehen, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat“ (Randnrn. 30 ff.). Vgl. auch Nrn. 38 bis 52 der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in dieser Rechtssache.
25 – In einem solchen Fall bestimmt sich nach Art. 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 „die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates“.
26 – Bemerkt sei jedoch, dass Geschwister im Recht verschiedener Mitgliedstaaten eine Personengruppe darstellen, die so weit wie möglich in ihrer Einheit geschützt wird, da der Gesetzgeber dem Gericht vorschreibt, die Trennung von Geschwistern zu vermeiden, jedenfalls aber darauf zu achten, dass die Bindungen unter den Geschwistern aufrechterhalten bleiben (vgl. z. B. Art. 371‑5 des französischen Code civil).
27 – Das Amtsgericht Albstadt hat diesen Antrag im Beschluss vom 25. September 2007 für überflüssig gehalten, weil nach dem deutschen Recht die Mutter bereits über ein alleiniges Sorgerecht verfügt habe. Es ist darauf hinzuweisen, dass auf das Urteil Zaunegger/Deutschland des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Dezember 2009 (Klage Nr. 22028/04) das Bundesverfassungsgericht kürzlich entschieden hat, dass es gegen Art. 6 Abs. 2 GG verstoße, dass es für den Vater eines nichtehelichen Kindes nach den §§ 1626a und 1672 BGB unmöglich sei, ein Sorgerecht für dieses Kind zu erhalten, wenn die Mutter ihre Zustimmung verweigere (Beschluss vom 21. Juli 2010, 1 BvR 420/09).
28 – Zu diesem allgemein als ein „Pfeiler“ angesehenen Grundsatz vgl. insbesondere die Nrn. 30 ff. der Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Turner (Urteil vom 27. April 2004, C‑159/02, Slg. 2004, I‑3565) zum Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968.
29 – Die Kontrolle, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Gerichtsstände eingehalten sind, ist Sache der nationalen Rechtsmittelgerichte, die, falls Zweifel hinsichtlich der Auslegung dieser Bestimmungen bestehen, verpflichtet sind, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen anzurufen. Äußerstenfalls ist auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat denkbar.
30 – Ich weise darauf hin, dass der Begriff „Zivilsachen“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der auch Maßnahmen erfasst, die nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats zum öffentlichen Recht gehören (Urteil vom 27. November 2007, C, C‑435/06, Slg. 2007, I‑10141, Randnrn. 46 bis 53). Demzufolge können verwaltungsrechtliche Verfahren, Verwaltungsbehörden oder verwaltungsrechtliche Entscheidungen bestimmter Mitgliedstaaten unter die Verordnung Nr. 2201/2003 fallen (vgl. in diesem Sinne auch Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II, S. 9 f.).
31 – Beispielsweise könnte eine Kombination von Verfahren, die z. B. einen Antrag auf Vormundschaft und einen Antrag auf Unterbringung zum Gegenstand haben, nicht zur Rechtshängigkeit führen, da die betreffenden Materien unterschiedlich sind und die Verfahren offensichtlich nicht dieselbe Grundlage und denselben Gegenstand haben. Schwieriger ist die Entscheidung bei einer möglichen Rechtshängigkeit zwischen einem Sorgerechtsverfahren und einem Verfahren bezüglich eines Umgangsrechts.
32 – Beispielsweise kann das Sorgerecht als Attribut der elterlichen Verantwortung automatisch der Anordnung einer Vormundschaft oder der Unterbringung des Kindes in einem Heim folgen.
33 – Aus dem Urteil A ergibt sich, dass „eine Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie anordnet, unter den Begriff ‚Zivilsachen‘ im Sinne [von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003] fällt, wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist“.
34 – Im neunten und im elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es, dass Maßnahmen, die sich auf das Vermögen eines Kindes beziehen, aber nicht dessen Schutz dienen, nicht von dieser Verordnung, sondern von der Verordnung Nr. 44/2001 erfasst werden, nach der sich auch weiterhin die Unterhaltsverpflichtungen bestimmen.
35 – Vgl. insoweit Urteil Purrucker I (Randnrn. 84 ff.).
36 – Im dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 wird darauf hingewiesen, dass diese an die Stelle der Verordnung Nr. 1347/2000 getreten ist, die selbst weitgehend aus dem Übereinkommen Brüssel II zu demselben Gegenstand übernommen war, wie es durch den Borrás-Bericht erläutert wurde.
37 – Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in mehrfach geänderter Fassung (vgl. Urteil Purrucker I, Randnr. 12).
38 – Zu dem Zusammenhang, der zwischen den beiden Rechtstexten bei der Rechtsprechung herzustellen ist, vgl. insbesondere die Nrn. 28 ff. der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Allianz (vormals Riunione Adriatica di Sicurta) (Urteil vom 10. Februar 2009, C‑185/07, Slg. 2009, I‑663).
39 – Vgl. Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968, Art. 11 der Verordnung Nr. 1347/2000 und Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001.
40 – Vgl. den zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003.
41 – Vgl. entsprechend Urteil Gubisch Maschinenfabrik (Randnrn. 6 ff.), in dem es heißt, dass „die in Art. 21 [des Übereinkommens vom 27. September 1968] zur Umschreibung der Rechtshängigkeit verwendeten Begriffe als autonom verstanden werden müssen“, sowie Nr. 2 der Schlussanträge von Generalanwalt Mancini in dieser Rechtssache. Vgl. auch Urteil vom 20. Januar 2005, Gruber (C‑464/01, Slg. 2005, I‑439, Randnr. 31 und die dort angeführte ständige Rechtsprechung). Zur Wahl zwischen einer autonomen Definition oder einer nationalen Herangehensweise vgl. Urteil vom 6. Oktober 1976, Industrie Tessili Italiana Como (12/76, Slg. 1976, 1473, Randnrn. 10 f.).
42 – Vgl. entsprechend Urteil vom 14. Oktober 1976, LTU (29/76, Slg. 1976, 1541, Randnr. 3).
43 – Urteil vom 7. Juni 1984, Zelger (129/83, Slg. 1984, 2397, Randnr. 16): „Art. 21 des Übereinkommens [ist] dahin auszulegen …, dass als ‚zuerst angerufenes‘ Gericht dasjenige anzusehen ist, bei dem die Voraussetzungen für die Annahme einer endgültigen Rechtshängigkeit zuerst vorliegen; diese Voraussetzungen sind für jedes der betroffenen Gerichte nach seinen nationalen Vorschriften zu beurteilen.“ Die Schlussanträge von Generalanwalt Mancini gingen in dieselbe Richtung, in Anbetracht der Verschiedenheit der in den Mitgliedstaaten auf die Rechtshängigkeit angewandten rechtlichen Regelungen.
44 – Zu den Zusammenhängen zwischen der Zustellung der das Verfahren einleitenden Handlung und der Rechtshängigkeit vgl. Nr. 68 der Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Weiss und Partner (Urteil vom 8. Mai 2008, C‑14/07, Slg. 2008, I‑3367).
45 – Entsprechend zur Auslegung der entsprechenden Bestimmung im Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968, also dessen Art. 21, vgl. Urteil Gasser (Randnr. 70), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass sowohl der Wortlaut als auch die Systematik und der Zweck des Übereinkommens zu beachten sind. Vgl. Randnrn. 62 bis 64 des Urteils Purrucker I.
46 – Zu diesem Begriff vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 1992, Reichert und Kockler (C‑261/90, Slg. 1992, I‑2149, Randnr. 34), zur Auslegung von Art. 24 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968.
47 – Vgl. hierzu die rechtsvergleichende Untersuchung auf der Website des EJN (http://ec.europa.eu/civiljustice/interim_measures/interim_measures_gen_de.htm): „Eine vergleichende Untersuchung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zeigt, dass fast generell eine Definition der vorläufigen Maßnahmen und der Sicherungsmaßnahmen fehlt und dass es große Unterschiede zwischen den bestehenden Rechtsordnungen gibt.“
48 – Vgl. Urteil Purrucker I (Randnrn. 60 f.): „Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist der letzte Artikel des die Zuständigkeit betreffenden Kapitels II der Verordnung. Er gehört nicht zu den Artikeln, die speziell die Zuständigkeit hinsichtlich der elterlichen Verantwortung regeln und die den Abschnitt 2 dieses Kapitels bilden, sondern steht in dessen Abschnitt 3 (‚Gemeinsame Bestimmungen‘). Aus seiner Stellung im Gefüge der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass Art. 20 keine Vorschrift ist, die die Zuständigkeit in der Hauptsache im Sinne dieser Verordnung begründet.“
49 – Der Ausdruck ist entsprechend dem Borrás-Bericht (Nr. 55) entnommen.
50 – Vgl. entsprechend zu den Vorschriften des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die Rechtshängigkeit Urteil Gasser (Randnr. 47), wonach sich „[die] Verfahrensregel des Artikels 21 EuGVÜ … klar und ausschließlich auf die zeitliche Abfolge stützt, in der die Gerichte angerufen worden sind“.
51 – Vgl. den Vorschlag der Kommission von 1999, der zum Erlass der Verordnung Nr. 1347/2000 geführt hat (Dokument KOM[1999] 220 endg., S. 17), und den Borrás-Bericht (Nrn. 52 f.).
52 – Vgl. auch Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II (S. 29): „Artikel 19 Absatz 2 [sieht] vor, dass das zuerst angerufene Gericht grundsätzlich die Zuständigkeit besitzt. Das später angerufene Gericht setzt das Verfahren aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist. Erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für zuständig, lehnt das andere Gericht die Zuständigkeit ab. Das später angerufene Gericht kann das Verfahren nur fortsetzen, wenn das zuerst angerufene Gericht zu dem Schluss kommt, dass es nicht zuständig ist oder wenn das zuerst angerufene Gericht beschließt, den Fall nach Artikel 15 an ein anderes Gericht zu verweisen.“
53 – Entsprechend zum Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 vgl. Urteil Gasser (Randnr. 48). Vgl. außerdem Urteil vom 27. Juni 1991, Overseas Union Insurance u. a. (C‑351/89, Slg. 1991, I‑3317, Randnr. 26): „[D]as später angerufene Gericht [ist] nach Artikel 21 des Übereinkommens vorbehaltlich seiner ausschließlichen Zuständigkeit nach dem Übereinkommen, insbesondere nach Artikel 16, lediglich befugt …, seine Entscheidung auszusetzen, falls der Mangel der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geltend gemacht wird und es sich nicht für unzuständig erklären will, [darf] aber die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nicht selbst prüfen …“ In der letztgenannten Rechtssache hatte Generalanwalt Van Gerven darauf hingewiesen, dass „[e]ine andere Entscheidung … eine unberechtigte Einmischung des zweiten Gerichts in die Rechtsprechungsbefugnis des ersten darstellen [würde]“ (Nr. 15 seiner Schlussanträge).
54 – Hierfür sprechen auch andere Argumente, nämlich dass Maßnahmen nach Art. 20 außer der genannten beschränkten räumlichen Wirkung beschränkte Wirkungen zum einen in Bezug auf ihre materielle Tragweite haben, da nach Abs. 1 dieses Artikels als dringlich angeordnete Maßnahmen die Zuständigkeit von Gerichten anderer Mitgliedstaaten in der Hauptsache nicht in Frage stellen und diese nicht binden, und zum anderen in Bezug auf ihre zeitliche Tragweite, da Abs. 2 dieses Artikels vorsieht, dass die genannten Maßnahmen außer Kraft treten, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht entschieden hat und daher kein Bedürfnis mehr besteht, vorübergehend an dessen Stelle zu treten. Die beiden Kategorien von Verfahren können nicht unmittelbar miteinander kollidieren, da das Verfahren nach Art. 20 dem Hauptsacheverfahren untergeordnet ist, um die Gefahr einer Umgehung der Zuständigkeitsvorschriften zu verhindern. Zu diesem letzten Punkt vgl. Urteil Purrucker I (Randnrn. 86 und 91).
55 – Vgl. Urteil Purrucker I (Randnrn. 84 ff.) und die die Nrn. 172 bis 175 der Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in dieser Rechtssache. Diese Analyse betrifft die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, sie gilt meines Erachtens aber auch für die Rechtshängigkeit. Es ist nämlich die Kohärenz mit dem bestehenden Rechtsprechungssystem zu wahren, was heißt, dass der Logik dieses Urteils zu folgen ist.
56 – Vgl. Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II (S. 11).
57 – Ich schließe hier die Frage nach dringenden Maßnahmen, die in Bezug auf das im Inland vorhandene Vermögen des Kindes angeordnet werden, aus.
58 – Zur Kombination der Art. 11 und 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 vgl. die Nrn. 63 bis 66 der Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Rinau (Urteil vom 11. Juli 2008, C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I‑5271).
59 – Vgl. die Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Purrucker I (Nr. 131).
60 – Beispielsweise kann bei getrennt lebenden Eltern der gerichtlich bei der Mutter bestimmte Aufenthalt von einem anderen Gericht nicht beim Vater bestimmt werden, ohne dass diese Entscheidungen praktisch miteinander unvereinbar wären, auch wenn eine der Entscheidungen nur vorläufig angeordnet wurde.
61 – Vgl. entsprechend Urteil Tatry (Randnrn. 39 ff.): „Im Sinne des Art. 21 des Übereinkommens umfasst die ‚Grundlage‘ des Anspruchs den Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird. … Was den ‚Gegenstand‘ im Sinne des Art. 21 betrifft, so besteht dieser in dem Zweck der Klage.“ Vgl. auch Nr. 19 der Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in dieser Rechtssache. Im Urteil Gubisch Maschinenfabrik (Randnrn. 14 ff.) heißt es weiter: „Auch wenn die deutsche Fassung des Art. 21 nicht ausdrücklich zwischen den Begriffen ‚Gegenstand‘ und ‚Grundlage‘ des Anspruchs unterscheidet, so ist sie doch im gleichen Sinn zu verstehen wie die Fassungen in den anderen Sprachen, die alle diese Unterscheidung treffen.“ Im Urteil vom 8. Mai 2003, Gantner Electronic (C‑111/01, Slg. 2003, I‑4207), hat der Gerichtshof klargestellt, dass für die Frage, ob zwei Klagen, die zwischen denselben Parteien bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten anhängig gemacht werden, denselben Gegenstand haben, nur die Ansprüche des jeweiligen Klägers und nicht die Einwendungen des Beklagten zu berücksichtigen sind.
62 – Zur Klarstellung weise ich darauf hin, dass der Fall, dass eines der von dem Verfahrenskonflikt betroffenen Gerichte seinen Sitz in einem Drittstaat hat, nicht von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 erfasst wird, sondern von anderen Vorschriften über die internationale Rechtshängigkeit.
63 – Ich weise darauf hin, dass in Art. 15 Abs. 5 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine noch kürzere Frist festgelegt ist; danach können sich die Gerichte bei einer Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall besser beurteilen kann, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung für zuständig erklären.
64 – Die hier angesprochene Problematik unterscheidet sich von der Problematik, die im Urteil Gasser aufgeworfenen wurde, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „Art. 21 [des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968] dahin auszulegen ist, dass von seinen Bestimmungen nicht abgewichen werden kann, wenn allgemein die Dauer der Verfahren vor den Gerichten des Vertragsstaats, dem das zuerst angerufene Gericht angehört, unvertretbar lang ist“ (Randnr. 73). Zum einen ist nämlich der von mir vorgeschlagene Ansatz nicht allgemein, sondern einzelfallbezogen, und zum anderen verstößt er nicht gegen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, denn das später angerufene Gericht kann sich nur bei Ausbleiben einer Antwort des zuerst angerufenen Gerichts über dieses hinwegsetzen, und schließlich zielt er darauf ab, Rechtssicherheit für die Parteien insofern zu gewährleisten, als sie binnen kurzer Frist darüber Bescheid wissen, ob Rechtshängigkeit vorliegt.
65 – Generalanwältin Kokott hat sich in Bezug auf Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ebenfalls in diesem Sinne geäußert: „Das als zweites angerufene Gericht darf das bei ihm anhängige Verfahren nicht etwa deshalb fortsetzen, weil es das zuerst angerufene Gericht für unzuständig hält“ (Nr. 31 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache Hadadi, [Urteil vom 16. Juli 2009, C‑168/08, Slg. 2009, I‑6871]). Meiner Meinung nach besteht die Verpflichtung, das Verfahren von Amts wegen auszusetzen – nicht aber, sich von Anfang an für unzuständig zu erklären –, unter allen Umständen.
66 – Vgl. Randnr. 75 des Urteils Purrucker I. Das Gericht, das sich für unzuständig zu erklären hat, darf nämlich keine Zuständigkeitskontrolle vornehmen, da es nach Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 keine solche Kontrolle im Hinblick auf die vom Gericht eines anderen Mitgliedstaat zu erlassende Entscheidung ausüben könnte, wenn diese erlassen und ihm zur Vollstreckung vorgelegt würde.
67 – Vgl. Urteil Purrucker I (Randnrn. 71 ff.). In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zu der den Gerichten der Mitgliedstaaten in Randnr. 76 dieses Urteils auferlegten Verpflichtung machen, ihre internationale Zuständigkeit in der Hauptsache unter Bezugnahme auf einen der in den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Gerichtsstände ausdrücklich zu begründen: In der Praxis wird das Gericht selten von Amts wegen eine solche Begründung geben, wenn die Parteien keine Unzulässigkeitseinrede erhoben haben oder wenn der streitige Auslandsbezug zu dem Zeitpunkt, zu dem das Verfahren bei ihm anhängig gemacht wurde, nicht vorlag.
68 – Tenor des Urteils. Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt: „Dass für Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht die Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung dieser Verordnung gilt, unterbindet jedoch nicht jede Anerkennung und jede Vollstreckung dieser Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat, wie die Generalanwältin in Nr. 176 ihrer Schlussanträge bemerkt hat. Es können nämlich – unter Beachtung der Verordnung Nr. 2201/2003 – andere internationale Rechtsinstrumente oder andere nationale Rechtsvorschriften zur Anwendung gelangen“ (Randnr. 92).
69 – Vgl. im selben Sinne Nr. 169 der Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Purrucker I: „Aus dem Umstand, dass das Gericht allein aufgrund von Art. 20 tätig wird, folgt, dass seine Zuständigkeit gerade nicht im Rahmen von Art. 19 festgestellt werden kann, so dass das bei ihm anhängige Verfahren nicht die Anwendung der Rechtshängigkeitsregeln auslöst.“
70 – Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sind nach deutschem Recht einstweilige Maßnahmen nur zulässig, wenn ein Verfahren in der Hauptsache anhängig gemacht worden ist, während nach spanischem Recht offenbar ein isolierter Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen zulässig ist.