19.6.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 161/26


Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main (Deutschland) eingereicht am 2. April 2010 — Peter Köhler gegen Land Hessen

(Rechtssache C-160/10)

(2010/C 161/35)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Verwaltungsgericht Frankfurt am Main

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: Peter Köhler

Beklagter: Land Hessen

Vorlagefragen

1.

Liegt den Regelungen im Hessischen Beamtengesetz zu der für die Beamtinnen und Beamten grundsätzlich zwingenden Altersgrenze mit der Folge eines Übertritts in den Ruhestand nach unionsrechtlichen Maßstäben ein auf das Allgemeinwohl ausgerichtetes Ziel zugrunde?

Insoweit stellen sich vor allem folgende Einzelfragen:

 

Welche Anforderungen sind im Einzelnen an ein solches dem Allgemeinwohl verpflichtetes Ziel aus unionsrechtlicher Sicht zu stellen? Welchen ergänzenden Fragestellungen zur Sachverhaltsaufklärung müsste das vorlegende Gericht zusätzlich nachgehen?

 

Stellt das Interesse an einer Einsparung von Haushaltsmitteln und Personalkosten, hier in der Gestalt der Vermeidung von Neueinstellungen und der damit einhergehenden Verminderung von Personalausgaben, ein legitimes Ziel i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG dar?

 

Kann das Ziel eines Dienstherrn an einer gewissen Planungssicherheit hinsichtlich des endgültigen Ausscheidens von Beamtinnen und Beamten als legitimes Ziel des Allgemeinwohls anerkannt werden, und zwar auch dann, wenn jeder Dienstherr im Geltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes oder des Beamtenstatusgesetzes eigene Personalplanungsvorstellungen entwickeln und durchsetzen kann?

 

Kann das Interesse an einer „günstigen Altersschichtung“, einem „günstigen Altersaufbau“ als Ziel des Allgemeinwohls anerkannt werden, obwohl es insoweit an allgemeinen Standards oder gesetzlichen Regelungen zur Richtigkeit einer Altersschichtung, eines Altersaufbaus fehlt?

 

Kann das Interesse, Beförderungsmöglichkeiten für vorhandene, bereits eingestellte Beamtinnen und Beamte zu schaffen, als legitimes Ziels des Allgemeinwohls i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG angesehen werden?

 

Verfolgt eine Altersgrenzenregelung zur Vermeidung von einzelnen Rechtsstreitigkeiten mit älteren Beschäftigten wegen des Fortbestandes ihrer Dienstfähigkeit ein legitimes Ziel des Allgemeinwohls?

 

Setzt der Allgemeinwohlbezug i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG ein einzelne Dienstherren und/oder Arbeitgeber übergreifendes Konzept der Arbeitsmarktpolitik im Bereich der unselbstständigen Beschäftigung voraus, wenn ja mit welchem Grad an Einheitlichkeit und Verbindlichkeit?

 

Können einzelne Arbeitgeber oder Dienstherren für Gruppen von Beschäftigten, hier begrenzt auf die Beamtinnen und Beamten im Geltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes, mit dermaßen beschränkt geltenden Altersgrenzenregelungen überhaupt Allgemeinwohlziele verfolgen?

 

Unter welchen Voraussetzungen kann das von einzelnen Dienstherren verfolgbare, aber nicht bindend vorgegebene Ziel als dem Allgemeinwohl i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG dienend angesehen werden, aufgrund des Übertritts in den Ruhestand besetzbar gewordene Stellen durch Neueinstellungen, ggf. nach vorheriger Beförderung bereits vorhandener Beschäftigter zu besetzen? Müssen für den Allgemeinwohlbezug über pauschale Behauptungen, die Regelung diene diesem Ziel, auch statistische Daten oder sonstige Erkenntnisse vorliegen, die auf die hinreichende Ernsthaftigkeit und tatsächliche Realisierung einer solchen Zielsetzung schließen lassen?

2.

Welche Anforderungen sind an die Angemessenheit und Eignung einer Altersgrenzenregelung im Sinne der im Hessischen Beamtengesetz enthaltenen Regelungen konkret zu stellen?

Bedarf es näherer Ermittlungen, um die — voraussichtliche — Anzahl der freiwillig über die Altersgrenze hinaus im Dienst verbleibenden Beamtinnen und Beamten im Verhältnis zur Zahl derjenigen zu bestimmen, die jedenfalls mit dem Erreichen der Altersgrenze eine abschlagsfreie Versorgung beziehen und deshalb auf jeden Fall aus dem Dienst ausscheiden wollen? Wäre es nicht angemessen, insoweit der Freiwilligkeit den Vorrang vor einem zwangsweisen Ausscheiden einzuräumen, solange durch Regelungen zur Kürzung des Ruhegehalts bei Inanspruchnahme vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze dafür gesorgt wird, dass unangemessene Aufwendungen für den Versorgungshaushalt und damit verbundenen Personalkosten vermieden werden? (Freiwilligkeit vor Zwang als angemessenere und im Ergebnis kaum weniger geeignete Regelung)

Kann es als angemessen und erforderlich angesehen werden, für Beamtinnen und Beamte pauschal mit dem Erreichen eines bestimmten höheren Lebensalters wie hier dem Erreichen des 65. Lebensjahres die Dienstunfähigkeit unwiderleglich zu vermuten und deshalb das Beamtenverhältnis automatisch enden zu lassen?

Ist es angemessen, die an sich mögliche Weiterbeschäftigung im Beamtenverhältnis jedenfalls bis zum vollendeten 68. Lebensjahr ausschließlich an besondere Interessen des Dienstherrn zu knüpfen, ohne solche Interessen jedoch die Beendigung des Beamtenverhältnisses ohne jede rechtliche Möglichkeit einer erneuten Berufung in das Beamtenverhältnis zu erzwingen?

Führt eine Altersgrenzenregelung, die zum zwangsweisen Ausscheiden aus der Beschäftigung führt, anstelle sich auf die nach Art. 6 Abs. 2 RL 2000/78/EG zulässige Festlegung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine ungekürzte Versorgung zu beschränken, zu einer unangemessenen Abwertung der Belange lebensälterer Menschen im Verhältnis zu den grundsätzlich nicht höherwertigen Belangen jüngerer Menschen?

Soweit das Ziel einer Erleichterung von Neueinstellungen und/oder Beförderungen als legitim anerkannt wird, fragt sich, welche näheren Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht zu stellen sind, um nachzuweisen, bis zu welchem Grad entsprechende Möglichkeiten tatsächlich genutzt werden, bei jedem einzelnen Dienstherrn, der die Altersgrenzenregelung für sich beansprucht oder bei allen der gesetzlichen Regelung unterfallenden Dienstherren, einschließlich oder ausschließlich des allgemeinen Arbeitsmarktes?

Ist es angesichts der heute schon erkennbaren demografisch bedingten Lücken im Arbeitsmarkt, dem alsbald eintretenden Bedarf an Fachkräften aller Art, d. h. auch im öffentlichen Dienst des Bundes und in den Ländern, angemessen und erforderlich, dienstfähige Beamtinnen und Beamte, die ihr Amt weiter ausüben wollen, derzeit gleichwohl zum Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis zu zwingen, obwohl alsbald ein erheblicher und durch den Arbeitsmarkt kaum zu deckender Personalbedarf bestehen wird? Sind insoweit branchenbezogene Arbeitsmarktdaten erforderlich, die später ggf. noch zu erheben wären?

3.

Welche Anforderungen sind an die Kohärenz der hessischen und ggf. auch der bundesrechtlichen Regelungen zu Altersgrenzenregelungen zu stellen?

Kann das Verhältnis von § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz und § 50 Abs. 3 Hessisches Beamtengesetz als widerspruchsfrei angesehen werden, wenn die grundsätzlich mögliche Weiterbeschäftigung über die Altersgrenze hinaus allein von den Interessen des Dienstherrn abhängig ist?

Ist § 50 Abs. 3 Hessisches Beamtengesetz richtlinienkonform ggf. dahin auszulegen, dass zur Vermeidung einer unangemessenen Diskriminierung wegen des Alters eine Weiterbeschäftigung immer dann zu erfolgen hat, wenn ihr keine dienstlichen Gründe entgegenstehen? Welche Anforderungen wären an das Vorliegen solcher Gründe ggf. zu stellen? Ist insoweit anzunehmen, dass dienstliche Interessen die Weiterbeschäftigung schon dann erfordern, wenn andernfalls eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung wegen des Alters eintreten würde?

Wie könnte eine dermaßen gebotene Auslegung von § 50 Abs. 3 Hessisches Beamtengesetz trotz der zwischenzeitlich eingetretenen Beendigung des Beamtenverhältnisses zu einer Fortsetzung oder einem Wiederaufleben des Beamtenverhältnisses des Klägers nutzbar gemacht werden? Müsste in diesem Fall § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz jedenfalls bis zum Vollendung des 68. Lebensjahres außer Anwendung bleiben?

Ist es angemessen und erforderlich, einerseits den freiwilligen Ruhestandseintritt ab der Vollendung des 60. bzw. 63. Lebensjahres mit einer dauerhaften Kürzung des Ruhegehalts zu erschweren, andererseits eine freiwillige Weiterbeschäftigung über das vollendete 65. Lebensjahr auszuschließen, wenn nicht der Dienstherr ausnahmsweise ein besonderes Interesse an der Weiterbeschäftigung hat?

Entfällt die Angemessenheit und Erforderlichkeit der Altersgrenzenregelung in § 50 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz durch die günstigeren Regelungen für Altersteilzeitbeschäftigte einerseits, die Beamtinnen und Beamten auf Zeit andererseits?

Welche Bedeutung für die Kohärenz kommt den unterschiedlichen Regelungen im Dienst-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht zu, die einerseits eine dauerhafte Heraufsetzung des Alters anstreben, mit dem Renten- oder Ruhegehaltsleistungen ungekürzt bezogen werden können, andererseits die Kündigung wegen Erreichens des für die Regelaltersrente vorgesehenen Lebensalters verbieten, andererseits mit dem Erreichen genau dieses Alters die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zwingend eintreten lassen?

Spielt es für die Kohärenz eine Rolle, dass die schrittweise Heraufsetzung der Altersgrenzen in der Sozialversicherung und dem Beamten-recht des Bundes und einiger Länder vorrangig dem Interesse der Beschäftigten dient, so spät wie möglich, den verschärften Voraussetzungen einer abschlagsfreien Altersrente oder eines abschlagsfreien Ruhegehalts unterworfen zu werden? Sind diese Fragen deshalb unbeachtlich, weil für Beamtinnen und Beamte im Geltungsbereich des Hessischen Beamtengesetzes noch keine Heraufsetzung der Altersgrenzen erfolgt ist, obwohl diese Heraufsetzung für die im Arbeitsverhältnis Beschäftigten demnächst wirksam werden wird?