Rechtssache C-416/10

Jozef Križan u. a.

gegen

Slovenská inšpekcia životného prostredia

(Vorabentscheidungsersuchen des Najvyšší súd Slovenskej republiky)

„Art. 267 AEUV — Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung — Zurückverweisung an das betreffende Gericht — Verpflichtung, der Aufhebungsentscheidung nachzukommen — Vorabentscheidungsersuchen — Möglichkeit — Umwelt — Übereinkommen von Aarhus — Richtlinie 85/337/EWG — Richtlinie 96/61/EG — Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren — Errichtung einer Abfalldeponie — Antrag auf Genehmigung — Geschäftsgeheimnis — Nichtveröffentlichung eines Schriftstücks — Auswirkung auf die Gültigkeit der Entscheidung über die Genehmigung der Abfalldeponie — Heilung — Umweltverträglichkeitsprüfung — Endgültige Stellungnahme vor dem Beitritt des Mitgliedstaats zur Union — Zeitliche Geltung der Richtlinie 85/337 — Klage — Einstweilige Anordnungen — Aussetzung der Vollziehung — Aufhebung der angefochtenen Entscheidung — Eigentumsrecht — Eingriff“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Januar 2013

  1. Vorabentscheidungsverfahren – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Fragen, die in Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits stehen – Fragen nach der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, die keine unmittelbare Wirkung haben – Eindeutigkeit der anwendbaren nationalen Bestimmungen – Unerheblich

    (Art. 267 AEUV)

  2. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Vom vorlegenden Gericht von Amts wegen aufgeworfene Frage – Zulässigkeit

    (Art. 267 AEUV)

  3. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Vorlagepflicht – Nationales Gericht, das nach Zurückverweisung durch das Verfassungsgericht entscheidet – Pflicht, bei der Entscheidung über den Rechtsstreit der vom Verfassungsgericht vertretenen Rechtsauffassung zu folgen – Unerheblich

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV)

  4. Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofs – Vorlagepflicht – Möglichkeit, beim Verfassungsgericht ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts einzulegen – Auf die Prüfung einer Verletzung der durch die innerstaatliche Verfassung oder ein internationales Übereinkommen gewährleisteten Rechte und Freiheiten beschränktes Rechtsmittel – Unerheblich

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV)

  5. Umwelt – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Richtlinie 96/61 – Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren – Verfahren zur Genehmigung des Standorts einer Anlage – Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten – Umfang

    (Übereinkommen von Aarhus, Art. 6; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 und Anhang V)

  6. Umwelt – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Richtlinie 96/61 – Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren – Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten – Grenzen – Gründe, die eine Verweigerung der Mitteilung von Informationen über die Umwelt rechtfertigen können – Standort einer in den Geltungsbereich der Richtlinie fallenden Anlage – Schutz von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen – Umfang

    (Richtlinie 2003/4 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d und Abs. 4; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 Abs. 4)

  7. Umwelt – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Richtlinie 96/61 – Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren – Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten – Heilung einer nicht gerechtfertigten Versagung des Zugangs zu den Informationen – Voraussetzungen

    (Übereinkommen von Aarhus, Art. 6; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 und Anhang V)

  8. Umwelt – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Richtlinie 85/337 – Zeitliche Geltung – Förmlicher Antrag auf Genehmigung eines Vorhabens vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie – Unanwendbarkeit der Richtlinie

    (Richtlinie 85/337 des Rates)

  9. Umwelt – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Richtlinie 96/61 – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Genehmigungsentscheidung – Möglichkeit, beim Gericht oder bei der zuständigen nationalen Stelle den Erlass einstweiliger Anordnungen zu beantragen

    (Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 4 und 15a)

  10. Umwelt – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Richtlinie 96/61 – Nichtigerklärung einer unter Verletzung der Richtlinie ergangenen Genehmigungsentscheidung durch das nationale Gericht – Eingriff in das Eigentumsrecht – Fehlen

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17; Übereinkommen von Aarhus, Art. 9 Abs. 2 und 4; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15a)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 53-56, 58-60)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 64-66)

  3.  Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, auch dann verpflichtet ist, von Amts wegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, wenn es nach Aufhebung seiner ersten Entscheidung und Zurückverweisung durch das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats über die Sache befindet und nach einer nationalen Vorschrift verpflichtet ist, bei seiner Entscheidung über den Rechtsstreit der vom Verfassungsgericht vertretenen Rechtsauffassung zu folgen

    Das Bestehen einer nationalen Verfahrensvorschrift kann nämlich nicht das Recht der nationalen Gerichte in Frage stellen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts haben. Eine nationale Rechtsvorschrift, nach der die Beurteilung des höheren innerstaatlichen Gerichts für ein anderes innerstaatliches Gericht bindend ist, kann dem letztgenannten Gericht somit nicht die Möglichkeit nehmen, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, um das es in dieser rechtlichen Beurteilung geht. Es muss ihm nämlich freistehen, dem Gerichtshof Zweifelsfragen vorzulegen, wenn es der Ansicht ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einem unionsrechtswidrigen Urteil gelangen könnte.

    (vgl. Randnrn. 67, 68, 73, Tenor 1)

  4.  Die Möglichkeit, beim Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats ein auf die Prüfung einer etwaigen Verletzung der durch die innerstaatliche Verfassung oder ein internationales Übereinkommen gewährleisteten Rechte und Freiheiten beschränktes Rechtsmittel gegen die Entscheidungen eines nationalen Gerichts einzulegen, kann nicht zu dem Schluss führen, dass dieses nationale Gericht nicht als ein Gericht eingestuft werden könnte, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Daher ist ein solches Gericht verpflichtet, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, wenn es feststellt, dass die Entscheidung über den Rechtsstreit in der Sache eine zu klärende Frage umfasst, die unter Art. 267 Abs. 1 AEUV fällt.

    (vgl. Randnr. 72)

  5.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie vorschreibt, dass die betroffene Öffentlichkeit zu einer städtebaulichen Entscheidung, die relevante Informationen im Sinne des Anhangs V der Richtlinie enthält, ab der Einleitung des Verfahrens zur Genehmigung der betreffenden Anlage Zugang hat.

    (vgl. Randnrn. 79, 91, Tenor 2)

  6.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie es den zuständigen nationalen Behörden nicht erlaubt, der betroffenen Öffentlichkeit unter Berufung auf den Schutz von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen, die durch einzelstaatliches oder Unionsrecht geschützt sind, um berechtigte wirtschaftliche Interessen zu schützen, jeden auch nur teilweisen Zugang zu einer Entscheidung zu versagen, mit der eine Behörde gemäß den geltenden städtebaulichen Vorschriften den Standort einer Anlage genehmigt, die in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, wobei insbesondere die Bedeutung des Standorts für die Ausübung der einen oder anderen der in der Richtlinie 96/61 aufgeführten Tätigkeiten zu berücksichtigen ist.

    Selbst wenn bestimmte Angaben in der Begründung einer städtebaulichen Entscheidung Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse enthalten könnten, darf der Schutz der Vertraulichkeit solcher Informationen nicht unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2003/4 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen herangezogen werden, um der betroffenen Öffentlichkeit jeden auch nur teilweisen Zugang zu der städtebaulichen Entscheidung über den Standort der in Rede stehenden Anlage zu verwehren.

    (vgl. Randnrn. 82, 83, 91, Tenor 2)

  7.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung steht bei einer Auslegung anhand der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie von Art. 6 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) nicht der Möglichkeit entgegen, dass eine nicht gerechtfertigte Ablehnung, der betroffenen Öffentlichkeit eine städtebauliche Entscheidung, die als eine Entscheidung anzusehen ist, die relevante Informationen im Sinne des Anhangs V der Richtlinie enthält, im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren zur Verfügung zu stellen, im zweitinstanzlichen Verwaltungsverfahren geheilt wird, sofern zum einen das nationale Recht die Heilung vergleichbarer Verfahrensmängel innerstaatlicher Art während des zweitinstanzlichen Verwaltungsverfahrens zulässt und zum anderen alle Optionen noch offen sind und die Heilung in diesem Verfahrensstadium noch eine im Hinblick auf den Ausgang des Entscheidungsverfahrens effektive Öffentlichkeitsbeteiligung ermöglicht.

    (vgl. Randnrn. 79, 86-91, Tenor 2)

  8.  Der Grundsatz, nach dem Vorhaben mit möglicherweise erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind, gilt dann nicht, wenn das Datum der förmlichen Stellung des Antrags auf Genehmigung eines Vorhabens vor dem Datum liegt, an dem die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten ablief.

    Umfasst das nationale Verfahren, in dem der Bauherr die Genehmigung für den Beginn der Arbeiten zur Ausführung seines Vorhabens erwirken kann, mehrere aufeinanderfolgende Stufen, und besteht eine Genehmigung im Sinne der Richtlinie 85/337 daher aus der Kombination mehrerer gesonderter Entscheidungen, so ist als Datum der förmlichen Einreichung des Antrags auf Genehmigung des Vorhabens der Tag anzusehen, an dem der Bauherr einen Antrag stellt, mit dem die erste Stufe des Verfahrens eingeleitet wird.

    (vgl. Randnrn. 94, 103)

  9.  Art. 15a der Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung ist dahin auszulegen, dass die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Zugangs zu einem Überprüfungsverfahren über die Möglichkeit verfügen müssen, bei dem Gericht oder der anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle den Erlass einstweiliger Anordnungen zu beantragen, mit denen die Vollziehung einer Genehmigung im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie bis zum Erlass der Endentscheidung vorübergehend ausgesetzt werden kann.

    (vgl. Randnr. 110, Tenor 3)

  10.  Die Entscheidung eines nationalen Gerichts, die in einem der Umsetzung der Verpflichtungen aus Art. 15a der Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung und aus Art. 9 Abs. 2 und 4 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) dienenden nationalen Verfahren ergeht und mit der eine unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie erteilte Genehmigung aufgehoben wird, ist als solche nicht geeignet, einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Eigentumsrecht des Betreibers gemäß Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darzustellen.

    (vgl. Randnr. 116, Tenor 4)


Rechtssache C-416/10

Jozef Križan u. a.

gegen

Slovenská inšpekcia životného prostredia

(Vorabentscheidungsersuchen des Najvyšší súd Slovenskej republiky)

„Art. 267 AEUV — Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung — Zurückverweisung an das betreffende Gericht — Verpflichtung, der Aufhebungsentscheidung nachzukommen — Vorabentscheidungsersuchen — Möglichkeit — Umwelt — Übereinkommen von Aarhus — Richtlinie 85/337/EWG — Richtlinie 96/61/EG — Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren — Errichtung einer Abfalldeponie — Antrag auf Genehmigung — Geschäftsgeheimnis — Nichtveröffentlichung eines Schriftstücks — Auswirkung auf die Gültigkeit der Entscheidung über die Genehmigung der Abfalldeponie — Heilung — Umweltverträglichkeitsprüfung — Endgültige Stellungnahme vor dem Beitritt des Mitgliedstaats zur Union — Zeitliche Geltung der Richtlinie 85/337 — Klage — Einstweilige Anordnungen — Aussetzung der Vollziehung — Aufhebung der angefochtenen Entscheidung — Eigentumsrecht — Eingriff“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Januar 2013

  1. Vorabentscheidungsverfahren — Zulässigkeit — Voraussetzungen — Fragen, die in Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits stehen — Fragen nach der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, die keine unmittelbare Wirkung haben — Eindeutigkeit der anwendbaren nationalen Bestimmungen — Unerheblich

    (Art. 267 AEUV)

  2. Vorabentscheidungsverfahren — Anrufung des Gerichtshofs — Vom vorlegenden Gericht von Amts wegen aufgeworfene Frage — Zulässigkeit

    (Art. 267 AEUV)

  3. Vorabentscheidungsverfahren — Anrufung des Gerichtshofs — Vorlagepflicht — Nationales Gericht, das nach Zurückverweisung durch das Verfassungsgericht entscheidet — Pflicht, bei der Entscheidung über den Rechtsstreit der vom Verfassungsgericht vertretenen Rechtsauffassung zu folgen — Unerheblich

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV)

  4. Vorabentscheidungsverfahren — Anrufung des Gerichtshofs — Vorlagepflicht — Möglichkeit, beim Verfassungsgericht ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts einzulegen — Auf die Prüfung einer Verletzung der durch die innerstaatliche Verfassung oder ein internationales Übereinkommen gewährleisteten Rechte und Freiheiten beschränktes Rechtsmittel — Unerheblich

    (Art. 267 Abs. 3 AEUV)

  5. Umwelt — Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Richtlinie 96/61 — Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren — Verfahren zur Genehmigung des Standorts einer Anlage — Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten — Umfang

    (Übereinkommen von Aarhus, Art. 6; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 und Anhang V)

  6. Umwelt — Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Richtlinie 96/61 — Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren — Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten — Grenzen — Gründe, die eine Verweigerung der Mitteilung von Informationen über die Umwelt rechtfertigen können — Standort einer in den Geltungsbereich der Richtlinie fallenden Anlage — Schutz von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen — Umfang

    (Richtlinie 2003/4 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d und Abs. 4; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 Abs. 4)

  7. Umwelt — Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Richtlinie 96/61 — Öffentlichkeitsbeteiligung am Entscheidungsverfahren — Pflicht, den Zugang zu den relevanten Informationen zu gewährleisten — Heilung einer nicht gerechtfertigten Versagung des Zugangs zu den Informationen — Voraussetzungen

    (Übereinkommen von Aarhus, Art. 6; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15 und Anhang V)

  8. Umwelt — Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten — Richtlinie 85/337 — Zeitliche Geltung — Förmlicher Antrag auf Genehmigung eines Vorhabens vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie — Unanwendbarkeit der Richtlinie

    (Richtlinie 85/337 des Rates)

  9. Umwelt — Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Richtlinie 96/61 — Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Genehmigungsentscheidung — Möglichkeit, beim Gericht oder bei der zuständigen nationalen Stelle den Erlass einstweiliger Anordnungen zu beantragen

    (Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 4 und 15a)

  10. Umwelt — Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung — Richtlinie 96/61 — Nichtigerklärung einer unter Verletzung der Richtlinie ergangenen Genehmigungsentscheidung durch das nationale Gericht — Eingriff in das Eigentumsrecht — Fehlen

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17; Übereinkommen von Aarhus, Art. 9 Abs. 2 und 4; Richtlinie 96/61 des Rates, Art. 15a)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 53-56, 58-60)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Randnrn. 64-66)

  3.  Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, auch dann verpflichtet ist, von Amts wegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, wenn es nach Aufhebung seiner ersten Entscheidung und Zurückverweisung durch das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats über die Sache befindet und nach einer nationalen Vorschrift verpflichtet ist, bei seiner Entscheidung über den Rechtsstreit der vom Verfassungsgericht vertretenen Rechtsauffassung zu folgen

    Das Bestehen einer nationalen Verfahrensvorschrift kann nämlich nicht das Recht der nationalen Gerichte in Frage stellen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts haben. Eine nationale Rechtsvorschrift, nach der die Beurteilung des höheren innerstaatlichen Gerichts für ein anderes innerstaatliches Gericht bindend ist, kann dem letztgenannten Gericht somit nicht die Möglichkeit nehmen, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, um das es in dieser rechtlichen Beurteilung geht. Es muss ihm nämlich freistehen, dem Gerichtshof Zweifelsfragen vorzulegen, wenn es der Ansicht ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einem unionsrechtswidrigen Urteil gelangen könnte.

    (vgl. Randnrn. 67, 68, 73, Tenor 1)

  4.  Die Möglichkeit, beim Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats ein auf die Prüfung einer etwaigen Verletzung der durch die innerstaatliche Verfassung oder ein internationales Übereinkommen gewährleisteten Rechte und Freiheiten beschränktes Rechtsmittel gegen die Entscheidungen eines nationalen Gerichts einzulegen, kann nicht zu dem Schluss führen, dass dieses nationale Gericht nicht als ein Gericht eingestuft werden könnte, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Daher ist ein solches Gericht verpflichtet, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, wenn es feststellt, dass die Entscheidung über den Rechtsstreit in der Sache eine zu klärende Frage umfasst, die unter Art. 267 Abs. 1 AEUV fällt.

    (vgl. Randnr. 72)

  5.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie vorschreibt, dass die betroffene Öffentlichkeit zu einer städtebaulichen Entscheidung, die relevante Informationen im Sinne des Anhangs V der Richtlinie enthält, ab der Einleitung des Verfahrens zur Genehmigung der betreffenden Anlage Zugang hat.

    (vgl. Randnrn. 79, 91, Tenor 2)

  6.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie es den zuständigen nationalen Behörden nicht erlaubt, der betroffenen Öffentlichkeit unter Berufung auf den Schutz von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen, die durch einzelstaatliches oder Unionsrecht geschützt sind, um berechtigte wirtschaftliche Interessen zu schützen, jeden auch nur teilweisen Zugang zu einer Entscheidung zu versagen, mit der eine Behörde gemäß den geltenden städtebaulichen Vorschriften den Standort einer Anlage genehmigt, die in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, wobei insbesondere die Bedeutung des Standorts für die Ausübung der einen oder anderen der in der Richtlinie 96/61 aufgeführten Tätigkeiten zu berücksichtigen ist.

    Selbst wenn bestimmte Angaben in der Begründung einer städtebaulichen Entscheidung Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse enthalten könnten, darf der Schutz der Vertraulichkeit solcher Informationen nicht unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2003/4 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen herangezogen werden, um der betroffenen Öffentlichkeit jeden auch nur teilweisen Zugang zu der städtebaulichen Entscheidung über den Standort der in Rede stehenden Anlage zu verwehren.

    (vgl. Randnrn. 82, 83, 91, Tenor 2)

  7.  Die Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung in der durch die Verordnung Nr. 166/2006 geänderten Fassung steht bei einer Auslegung anhand der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie von Art. 6 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) nicht der Möglichkeit entgegen, dass eine nicht gerechtfertigte Ablehnung, der betroffenen Öffentlichkeit eine städtebauliche Entscheidung, die als eine Entscheidung anzusehen ist, die relevante Informationen im Sinne des Anhangs V der Richtlinie enthält, im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren zur Verfügung zu stellen, im zweitinstanzlichen Verwaltungsverfahren geheilt wird, sofern zum einen das nationale Recht die Heilung vergleichbarer Verfahrensmängel innerstaatlicher Art während des zweitinstanzlichen Verwaltungsverfahrens zulässt und zum anderen alle Optionen noch offen sind und die Heilung in diesem Verfahrensstadium noch eine im Hinblick auf den Ausgang des Entscheidungsverfahrens effektive Öffentlichkeitsbeteiligung ermöglicht.

    (vgl. Randnrn. 79, 86-91, Tenor 2)

  8.  Der Grundsatz, nach dem Vorhaben mit möglicherweise erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind, gilt dann nicht, wenn das Datum der förmlichen Stellung des Antrags auf Genehmigung eines Vorhabens vor dem Datum liegt, an dem die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten ablief.

    Umfasst das nationale Verfahren, in dem der Bauherr die Genehmigung für den Beginn der Arbeiten zur Ausführung seines Vorhabens erwirken kann, mehrere aufeinanderfolgende Stufen, und besteht eine Genehmigung im Sinne der Richtlinie 85/337 daher aus der Kombination mehrerer gesonderter Entscheidungen, so ist als Datum der förmlichen Einreichung des Antrags auf Genehmigung des Vorhabens der Tag anzusehen, an dem der Bauherr einen Antrag stellt, mit dem die erste Stufe des Verfahrens eingeleitet wird.

    (vgl. Randnrn. 94, 103)

  9.  Art. 15a der Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung ist dahin auszulegen, dass die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Zugangs zu einem Überprüfungsverfahren über die Möglichkeit verfügen müssen, bei dem Gericht oder der anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle den Erlass einstweiliger Anordnungen zu beantragen, mit denen die Vollziehung einer Genehmigung im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie bis zum Erlass der Endentscheidung vorübergehend ausgesetzt werden kann.

    (vgl. Randnr. 110, Tenor 3)

  10.  Die Entscheidung eines nationalen Gerichts, die in einem der Umsetzung der Verpflichtungen aus Art. 15a der Richtlinie 96/61 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung und aus Art. 9 Abs. 2 und 4 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) dienenden nationalen Verfahren ergeht und mit der eine unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie erteilte Genehmigung aufgehoben wird, ist als solche nicht geeignet, einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Eigentumsrecht des Betreibers gemäß Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darzustellen.

    (vgl. Randnr. 116, Tenor 4)