Verbundene Rechtssachen C-259/10 und C-260/10

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

gegen

The Rank Group plc

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division] und des Upper Tribunal [Tax and Chancery Chamber])

„Steuerrecht – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Art. 13 Teil B Buchst. f – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen (‚mechanised cash bingo‘) – Geldspielautomaten – Verwaltungspraxis, nach der die Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt werden – Auf die gebotene Sorgfalt (‚due diligence‘) gestütztes Verteidigungsvorbringen“

Leitsätze des Urteils

1.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Dienstleistungen – Unterschiedliche Behandlung zweier aus der Sicht des Verbrauchers gleicher oder gleichartiger Dienstleistungen – Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

(Richtlinie 77/388 des Rates)

2.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

3.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

4.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

5.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

1.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht dazu noch der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.

(vgl. Randnr. 36, Tenor 1)

2.        Werden zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ungleich behandelt, so ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.

Diese Bestimmung hat den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann, sofern sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.

Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit zweier Glücksspiele, deren unterschiedliche Behandlung eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität begründen kann, kommt es auf Umstände wie die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Veranstaltung der Glücksspiele, die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte oder die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, nicht an. Gleiches gilt für die Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden, insbesondere hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente. Der Umstand schließlich, dass nur eine der beiden Arten von Glücksspielen einer nichtharmonisierten Abgabe unterliegt, kann ebenso wenig die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass diese Glücksspielarten nicht vergleichbar wären.

(vgl. Randnrn. 40-41, 45-48, 51, Tenor 2)

3.        Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, ist zu prüfen, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest- und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.

(vgl. Randnr. 58, Tenor 3)

4.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.

Denn eine öffentliche Verwaltung, die nach einer allgemeinen Entscheidungspraxis verfährt, kann zwar an diese gebunden sein, jedoch muss der Grundsatz der Gleichbehandlung, der auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt, mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann. Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger nicht verlangen kann, dass ein bestimmter Umsatz derselben steuerlichen Behandlung wie ein anderer Umsatz unterworfen wird, wenn dessen Behandlung nicht mit der einschlägigen nationalen Regelung in Einklang steht.

(vgl. Randnrn. 61-64, Tenor 4)

5.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.

Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung, wie diejenige des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388, hängt nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt. Auf diese Bestimmung kann sich daher ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten berufen, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.

(vgl. Randnrn. 69-70, 74, Tenor 5)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

10. November 2011(*)

„Steuerrecht – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Art. 13 Teil B Buchst. f – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen (‚mechanised cash bingo‘) – Geldspielautomaten – Verwaltungspraxis, nach der die Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt werden – Auf die gebotene Sorgfalt (‚due diligence‘) gestütztes Verteidigungsvorbringen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑259/10 und C‑260/10

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) und vom Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidungen vom 20. und 19. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2010, in den Verfahren

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

gegen

The Rank Group plc

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der The Rank Group plc, vertreten durch K. Lasok, QC, und V. Sloane, Barrister, beauftragt durch P. Drinkwater, Solicitor,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von G. Peretz, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal als Bevollmächtigten,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität im Rahmen der Anwendung von Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (im Folgenden: Commissioners) und der The Rank Group plc (im Folgenden: Rank) über die Ablehnung des Antrags von Rank durch die Commissioners, die Mehrwertsteuer zu erstatten, die Rank für im Rahmen bestimmter Glücksspiele in den Jahren 2002 bis 2005 getätigte Umsätze gezahlt hatte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“, der Mehrwertsteuer.

4        Art. 13 der Sechsten Richtlinie („Steuerbefreiungen im Inland“) bestimmt:

„…

B. Sonstige Steuerbefreiungen

Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

f)      Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden;

…“

 Nationales Recht

 Mehrwertsteuerregelung

5        Nach Section 31 (1) des Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994) in der zur Zeit der maßgeblichen Vorgänge der Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz von 1994) war die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen von der Steuer befreit, wenn sie einem der in Schedule 9 dieses Gesetzes beschriebenen Umsätze entsprach.

6        Schedule 9 Gruppe 4 („Wetten, Glücksspiele und Lotterien“) sah in Nr. 1 die Bereitstellung von Vorrichtungen zum Abschließen von Wetten oder zum Spielen von Glücksspielen vor.

7        In den Anmerkungen 1 bis 3 dieser Gruppe 4 hieß es:

„(1)      Zu Nr. 1 gehören nicht

b)      die Einräumung eines Rechts zur Teilnahme an einem Spiel, für das ein Entgelt nach aufgrund von Section 14 des Gaming Act 1968 (Glücksspielgesetz von 1968) … erlassenen Regulations erhoben werden kann,

d)      die Bereitstellung eines Glücksspielgeräts.

(2)      ‚Glücksspiel‘ hat die gleiche Bedeutung wie im Glücksspielgesetz von 1968 …

(3)      Der Begriff ‚Glücksspielgerät‘ bezeichnet ein Gerät, bei dem folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

a)      Es ist dazu gebaut oder entsprechend angepasst worden, um mit ihm Glücksspiele zu spielen; und

b)      zum Spielen mit dem Gerät entrichtet der Spieler entweder durch Einwurf einer Münze oder einer Spielmarke [ab 2003: einer Münze, einer Marke oder eines anderen Gegenstands] in das Gerät oder auf sonstige Weise ein Entgelt (sofern er nicht, weil er zuvor erfolgreich gespielt hat, die Möglichkeit eines unentgeltlichen Freispiels erhält); und

c)       das Zufallselement des Spiels wird vom Gerät zur Verfügung gestellt.“

 Regelung für Spiele und Wetten

8        Nach Section 52 (1) des Glücksspielgesetzes von 1968 in der zur Zeit der maßgeblichen Vorgänge der Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Glücksspielgesetz von 1968) bedeutete „spielen“ („gaming“) im Sinne dieses Gesetzes das Spielen eines Glücksspiels um Geld oder einen geldwerten Preis und „Gerät“ („machine“) ein Gerät jeder Art.

9        Section 26 (1) und (2) des Glücksspielgesetzes von 1968 bestimmte:

„(1)      [Teil III] des vorliegenden Gesetzes gilt für jedes Gerät, das

a)      dazu gebaut oder entsprechend angepasst worden ist, um mit ihm Glücksspiele zu spielen, und

b)      einen Schlitz oder eine sonstige Öffnung für den Einwurf von Geld oder geldwerten Gegenständen in Form von Bargeld oder Spielmarken aufweist.

(2)      Das Spielen eines Glücksspiels mittels eines Geräts im Sinne der vorigen Subsection schließt das Spielen eines Glücksspiels teilweise mittels eines Geräts und teilweise mit anderen Vorrichtungen ein, sofern das Zufallselement des Spiels von dem Gerät zur Verfügung gestellt wird.“

10      Ein dieser Definition eines „Glücksspielgeräts“ entsprechendes Gerät durfte nur in Geschäftslokalen betrieben werden, für die eine entsprechende Zulassung bestand, und unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen, die die Höhe der Einsätze und der Gewinne sowie die Zahl der in einer bestimmten Räumlichkeit vorhandenen Geräte betrafen. Handelte es sich bei der mit einem bestimmten Gerät ausgeübten Tätigkeit um ein „Glücksspiel“, entsprach das Gerät aber nicht der genannten Definition, galten für dessen Benutzung andere gesetzliche Vorschriften, die u. a. andere Höchsteinsätze und -gewinne vorsahen.

11      Hingegen unterlagen als Wetten angesehene Tätigkeiten der Regelung des Betting, Gaming and Lotteries Act 1963 (Gesetz von 1963 über Wetten, Spiele und Lotterien). Zum Abschluss von Wetten in Geschäftslokalen hatte sich der Kunde an Wettbüros zu wenden, die eine ordnungsgemäße Lizenz zur Annahme von Wetten besaßen (licensed betting offices, im Folgenden: LBOs).

12      Für ein bestimmtes Geschäftslokal konnte entweder nur eine Wett- oder nur eine Spielelizenz erteilt werden. Außerdem waren die Voraussetzungen für die Erteilung einer Lizenz und die Regelungen für die zugelassenen Geschäftslokale unterschiedlich ausgestaltet, insbesondere was den Verkauf alkoholischer Getränke und die Öffnungszeiten anging. Wetten durften ausschließlich in LBOs, Spiele ausschließlich in Casinos, Gaststätten/Bars, Bingosälen oder Spielhallen veranstaltet werden.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Rank ist vertretungsberechtigtes Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe, die im Vereinigten Königreich Bingo-Clubs und Casinos betreibt, in denen der Kundschaft insbesondere „mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen“ („mechanised cash bingo“, im Folgenden: mc-Bingo) und Geldspielautomaten angeboten werden.

14      Rank, die für im Rahmen des mc-Bingo und mit Geldspielautomaten erbrachte Dienstleistungen Mehrwertsteuer bei den Commissioners angemeldet und an sie abgeführt hatte, erhob in der Folge zwei Klagen beim Value Added Tax Tribunal, jetzt First-tier Tribunal (Tax Chamber) (im Folgenden: Tribunal), um die Erstattung dieser Steuer zu erwirken. Bei der ersten Klage ging es um die Besteuerung von mc-Bingo zwischen dem 1. Januar 2003 und dem 31. Dezember 2005, bei der zweiten um die Besteuerung von Geldspielautomaten zwischen dem 1. Oktober 2002 und dem 5. Dezember 2005.

15      Diese Klagen wurden im Wesentlichen darauf gestützt, dass verschiedene Arten von mc-Bingo und Geldspielautomaten unterschiedlichen Mehrwertsteuerregelungen unterlägen, obwohl sie aus der Sicht des Verbrauchers miteinander vergleichbar, wenn nicht identisch seien, so dass die Mehrwertbesteuerung bestimmter Arten von mc-Bingo und Geldspielautomaten gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoße.

 Klage betreffend mc-Bingo

16      Mc-Bingo wurde in Serien von mehreren Spielen gespielt. Während die Höhe des Einsatzes im Voraus angekündigt wurde, konnte sich die Höhe des Gewinns, die von der Zahl der an einem Spiel teilnehmenden Spieler abhing, im Laufe eines Spieleblocks und sogar während des ersten Teils eines Spiels ändern und war den Spielern bei Zahlung des Einsatzes nicht notwendig bekannt.

17      Zwischen den Parteien der Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass mc-Bingo wegen der Verweisung in Schedule 9 Gruppe 4 Anmerkung 1 Buchst. b des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 auf das Glücksspielgesetz von 1968 nur dann von der Mehrwertsteuer befreit war, wenn der Einsatz höchstens 0,50 GBP und der Gewinn höchstens 25 GBP betrugen. War dagegen eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, war das betreffende Spiel nicht mehrwertsteuerfrei. Ebenso ist unstreitig, dass die beiden Arten von mc-Bingo aus der Sicht des Verbrauchers identische Spiele darstellten. Die Commissioners hielten gleichwohl eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität für nicht gegeben, da nicht bewiesen sei, dass diese unterschiedliche Behandlung den Wettbewerb zwischen diesen Glücksspielen beeinträchtigt habe.

18      Am 15. Mai 2008 erließ das Tribunal eine Entscheidung zugunsten von Rank. Der von den Commissioners gegen diese Entscheidung eingelegte Einspruch wurde vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, mit Urteil vom 8. Juni 2009 zurückgewiesen. Daraufhin legten die Commissioners gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein.

 Klage betreffend Geldspielautomaten

19      Die in Schedule 9 Gruppe 4 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung war auf Geldspielautomaten nicht anwendbar, wenn es sich bei dem betreffenden dem Spieler zur Verfügung gestellten Gerät um ein „Glücksspielgerät“ im Sinne der Anmerkungen 1 Buchst. d und 3 dieser Gruppe handelte.

20      Insoweit werden die von Rank betriebenen, als solche Glücksspielgeräte angesehenen Geldspielautomaten, die zugleich unter Teil III des Glücksspielgesetzes von 1968 fallen („Part‑III‑machines“, im Folgenden: Teil‑III‑Geräte), zwei anderen Arten von Geldspielautomaten insbesondere unter dem Gesichtspunkt gegenübergestellt, ob das Zufallselement von dem vom Spieler benutzten Gerät selbst – auf einen Befehl der in ihm eingebauten Software hin – zur Verfügung gestellt wird oder nicht.

21      Bei Teil‑III‑Geräten wird das Zufallselement von einem elektronischen Zufallszahlengenerator („electronic random number generator“) zur Verfügung gestellt, der in das vom Spieler benutzte Gerät eingebaut ist. Die erste für einen Vergleich herangezogene Art von Geldspielautomaten (im Folgenden: Vergleichsgeräte I) besteht dagegen aus Geräten, von denen mehrere auf elektronischem Wege an einen gemeinsamen, separaten elektronischen Zufallszahlengenerator angeschlossen werden, der allerdings in denselben Räumen wie die von den Spielern benutzten Endgeräte untergebracht ist.

22      Die zweite für einen Vergleich herangezogene Art von Geldspielautomaten stellen Festquotenwettgeräte („Fixed Odds Betting Terminals“, im Folgenden: FOBT) dar, die nur in LBOs installiert werden konnten. Der Spieler am FOBT schloss die Wette auf den Ausgang eines in die Software des FOBT geladenen virtuellen Ereignisses oder Spiels, d. h. eines sogenannten Formats („format“), ab, indem er ein Guthaben in das Gerät einzahlte. Der Ausgang des virtuellen Ereignisses oder Spiels wurde durch einen außerhalb der Räumlichkeiten des betreffenden LBO aufgestellten elektronischen Zufallszahlengenerator bestimmt. Ein Rechtsstreit über die Frage, ob unter Berücksichtigung der rechtlichen Regelung für Glücksspiele mit bestimmten auf den FOBT verfügbaren Formaten der „Abschluss von Wetten“ oder aber das „Spielen von Glücksspielen“ angeboten wurde, wurde wegen einer zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarung nicht durch Urteil entschieden. Da FOBT nicht der Definition von „Glücksspielgeräten“ im Sinne des Mehrwertsteuerrechts entsprachen, waren sie von dieser Steuer befreit. Auf die Einkünfte aus ihnen wurde jedoch die allgemeine Wettsteuer erhoben.

23      Vor dem Tribunal war unstreitig, dass die besteuerten Teil‑III‑Geräte und die Vergleichsgeräte I aus der Sicht der Verbraucher gleichartig waren. Die Commissioners bestritten jedoch, dass diese beiden Gerätearten in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stünden und dass die Vergleichsgeräte I nach innerstaatlichem Recht tatsächlich von der Steuer befreit seien.

24      Mit Entscheidung vom 19. August 2008 erkannte das Tribunal über bestimmte streitige Aspekte zugunsten von Rank, während es seine Entscheidung über andere Aspekte einem späteren Zeitpunkt vorbehielt. In der Entscheidung vom 19. August 2008 vertrat es die Ansicht, dass die Vergleichsgeräte I nach den nationalen Rechtsvorschriften von der Mehrwertsteuer befreit seien. Jedenfalls hätten die Commissioners diese Geräte bewusst als steuerbefreit behandelt.

25      Der Einspruch der Commissioners gegen diese Entscheidung wurde am 8. Juni 2009 vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, zurückgewiesen. Gegen dieses Urteil legten die Commissioners ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein, in dessen Rahmen sie u. a. das Bestehen einer maßgeblichen Praxis bestritten, nach der Vergleichsgeräte I von der Mehrwertsteuer befreit seien.

26      Das Tribunal entschied am 11. Dezember 2009 zugunsten von Rank über die zunächst zurückgestellten Fragen. Zu den Vergleichsgeräten I vertrat es die Auffassung, den Commissioners sei es verwehrt, als Verteidigungsvorbringen geltend zu machen, dass sie mit der gebotenen Sorgfalt („due diligence“) gehandelt hätten, auch wenn diese Geräte erst nach Erlass der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften in den Verkehr gebracht worden seien. Das Tribunal stellte weiter eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität in Bezug auf FOBT fest, die Teil‑III‑Geräten – stark abstrahiert – aus der Sicht der meisten Spieler ähnlich seien. Geräte beider Arten würden einfach als Geldspielgeräte angesehen. Die Unterschiede seien entweder den meisten Verbrauchern unbekannt oder hätten für sie keine Bedeutung.

27      Gegen das Urteil vom 11. Dezember 2009 legten die Commissioners ein Rechtsmittel beim Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) ein. Dieses Rechtsmittel zielt insbesondere darauf ab, die Ähnlichkeit der besteuerten Geldspielautomaten und der FOBT zu prüfen und das auf gebotene Sorgfalt gestützte Vorbringen zurückzuweisen.

 Vorlagefragen in der Rechtssache C‑259/10

28      Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division), nach dessen Ansicht die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Reicht eine mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung

–        von Umsätzen, die aus der Sicht des Verbrauchers identisch sind, oder

–        von ähnlichen Umsätzen, die jeweils dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen,

für sich genommen zur Begründung einer Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität aus, oder muss (und, wenn ja, in welcher Weise) berücksichtigt werden,

a)      in welchem rechtlichen und wirtschaftlichen Kontext sie erfolgt,

b)      ob die fraglichen identischen bzw. ähnlichen Dienstleistungen in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen und/oder

c)      ob die mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung zu einer Wettbewerbsverfälschung geführt hat?

2.      Kann ein Steuerpflichtiger, dessen Umsätze nach innerstaatlichem Recht (aufgrund des von einem Mitgliedstaat nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie wahrgenommenen Ermessensspielraums) der Mehrwertsteuer unterliegen, die Rückzahlung der auf diese Umsätze entrichteten Mehrwertsteuer wegen Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität unter Hinweis auf die mehrwertsteuerliche Behandlung anderer Umsätze (Vergleichsumsätze) verlangen, wenn

a)      die Vergleichsumsätze zwar nach innerstaatlichem Recht der Mehrwertsteuer unterlagen,

b)      die Steuerbehörde des Mitgliedstaats jedoch nach einer Praxis verfuhr, wonach die Vergleichsumsätze als von der Mehrwertsteuer befreit behandelt wurden?

3.      Falls die zweite Frage zu bejahen ist, welches Verhalten macht eine maßgebliche Praxis aus, und ist es insbesondere

a)      erforderlich, dass sich die Steuerbehörde zuvor klar und unzweideutig dahin geäußert hat, dass die Vergleichsumsätze als von der Mehrwertsteuer befreit behandelt würden,

b)      von Bedeutung, dass die Steuerbehörde zum Zeitpunkt einer etwaigen Äußerung ein unvollständiges und irriges Verständnis von den Tatsachen hatte, die für die korrekte mehrwertsteuerliche Behandlung der Vergleichsumsätze erheblich sind, und

c)      von Bedeutung, dass die Mehrwertsteuer auf die Vergleichsumsätze weder vom Steuerpflichtigen angemeldet noch von der Steuerbehörde verlangt wurde, diese jedoch in der Folgezeit bestrebt war, die Mehrwertsteuer vorbehaltlich der üblichen innerstaatlichen Verjährungsfristen nachzufordern?

4.      Sofern die steuerliche Ungleichbehandlung Folge einer einheitlichen Praxis der nationalen Steuerbehörden ist, die auf einer allgemein akzeptierten Vorstellung vom tatsächlichen Inhalt der innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruht, spielt es dann für das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine Rolle, wenn

a)      die Steuerbehörden später ihre Praxis ändern,

b)      ein nationales Gericht später entscheidet, dass die geänderte Praxis den Gehalt der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zutreffend wiedergibt,

c)      dem Mitgliedstaat aufgrund innerstaatlicher und/oder europäischer Rechtsgrundsätze, darunter die Grundsätze des Vertrauensschutzes, des Estoppel, der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots, und/oder aufgrund der Verjährungsfristen die Erhebung der Mehrwertsteuer auf die zuvor als steuerbefreit erachteten Umsätze verwehrt ist?

 Vorlagefragen in der Rechtssache C‑260/10

29      Das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber), nach dessen Ansicht die Entscheidung des bei ihm anhängigen Ausgangsrechtsstreits ebenfalls von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Hat ein Mitgliedstaat in Wahrnehmung seines Ermessensspielraums nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie bestimmte Arten von Geräten, die für Glücksspiele mit Geldeinsatz genutzt werden (Teil‑III‑Geräte), der Mehrwertsteuer unterworfen, andere solche Geräte (darunter FOBT) jedoch weiterhin von der Mehrwertsteuer befreit, und wird geltend gemacht, dass der Mitgliedstaat damit gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen habe, ist es dann bei einem Vergleich von Teil‑III‑Geräten und FOBT i) entscheidend oder ii) erheblich, dass

a)      mit FOBT Tätigkeiten angeboten wurden, die „Wetten“ im Sinne des innerstaatlichen Rechts waren (oder Tätigkeiten, die die zuständige Regulierungsbehörde in Ausübung ihrer Regelungsbefugnisse als „Wetten“ im Sinne des innerstaatlichen Rechts zu behandeln bereit war), und

b)      mit Teil‑III‑Geräten Tätigkeiten angeboten wurden, die nach innerstaatlichem Recht anders, und zwar als „Glücksspiele“, eingestuft wurden,

und dass Glücksspiele und Wetten nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats hinsichtlich der Aufsicht und Regulierung von Glücksspielen mit Geldeinsatz unterschiedlichen rechtlichen Regelungen unterlagen? Falls ja, welche Unterschiede zwischen den rechtlichen Regelungen hat das nationale Gericht zu berücksichtigen?

2.      Auf welcher Abstraktionsebene hat das nationale Gericht bei der Prüfung der Frage, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine steuerliche Gleichbehandlung der in der ersten Frage bezeichneten Gerätearten (FOBT und Teil‑III‑Geräte) gebietet, zu beurteilen, ob die Produkte einander ähnlich sind? Inwieweit muss insbesondere Folgendes berücksichtigt werden:

a)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen FOBT und Teil‑III‑Geräten hinsichtlich der höchstzulässigen Einsätze und Gewinne;

b)      der Umstand, dass an FOBT nur in bestimmten Arten von für Wetten lizenzierten Räumlichkeiten gespielt werden durfte, die sich von den für Glücksspiele lizenzierten Räumlichkeiten unterschieden und anderen rechtlichen Beschränkungen unterlagen (auch wenn FOBT und bis zu zwei Teil‑III‑Geräte nebeneinander in für Wetten lizenzierten Räumlichkeiten betrieben werden durften);

c)      der Umstand, dass die Gewinnchancen bei FOBT in direktem Verhältnis zu den veröffentlichten Festquoten standen, während die Gewinnchancen bei Teil‑III‑Geräten in einigen Fällen durch ein Gerät verändert werden konnten, das über einen gewissen Zeitraum sowohl dem Betreiber als auch dem Spieler jeweils einen bestimmten Gewinnprozentsatz sicherte;

d)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Formaten, die auf FOBT und Teil‑III‑Geräten zur Verfügung standen;

e)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen FOBT und Teil‑III‑Geräten hinsichtlich der Interaktionen, die zwischen dem Spieler und dem Gerät stattfinden konnten;

f)      ob die die Geräte benutzenden Spieler im Allgemeinen von den vorstehenden Umständen Kenntnis hatten oder sie für erheblich oder wichtig hielten;

g)      ob die mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung durch einen der vorstehenden Umstände zu rechtfertigen ist?

3.      Wenn ein Mitgliedstaat in Wahrnehmung seines Ermessensspielraums nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Glücksspiele mit Geldeinsatz von der Mehrwertsteuer befreit hat, eine bestimmte Kategorie von Geräten, die für Glücksspiele mit Geldeinsatz genutzt werden, jedoch der Mehrwertsteuer unterworfen hat,

a)      kann dann der Mitgliedstaat gegen den Vorwurf, er habe gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, zu seiner Verteidigung grundsätzlich einwenden, er habe die gebotene Sorgfalt walten lassen, und

b)      falls Frage a zu bejahen ist, anhand welcher Kriterien ist zu beurteilen, ob sich der Mitgliedstaat zu seiner Verteidigung auf diesen Einwand berufen kann?

30      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. August 2010 sind die Rechtssachen C‑259/10 und C‑260/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu Frage 1 Buchst. b und c in der Rechtssache C‑259/10

31      Mit dieser Frage möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden, oder ob darüber hinaus festgestellt werden muss, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen der genannten Ungleichbehandlung verzerrt ist.

32      Nach ständiger Rechtsprechung lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (vgl. u. a. Urteile vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, C‑481/98, Slg. 2001, I‑3369, Randnr. 22, vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C‑498/03, Slg. 2005, I‑4427, Randnrn. 41 und 54, vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, Slg. 2008, I‑2283, Randnr. 47, und vom 3. März 2011, Kommission/Niederlande, C‑41/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 66).

33      Aus dieser Beschreibung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ergibt sich, dass die Gleichartigkeit zweier Dienstleistungen dazu führt, dass sie in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen.

34      Daher stellt das tatsächliche Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen zwei Dienstleistungen dann keine selbständige, zusätzliche Voraussetzung für eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dar, wenn die betreffenden Dienstleistungen aus der Sicht des Verbrauchers gleich oder gleichartig sind und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2003, Kommission/Deutschland, C‑109/02, Slg. 2003, I‑12691, Randnrn. 22 und 23, sowie vom 17. Februar 2005, Linneweber und Akritidis, C‑453/02 und C‑462/02, Slg. 2005, I‑1131, Randnrn. 19 bis 21, 24, 25 und 28).

35      Entsprechendes gilt auch für das Vorliegen einer Wettbewerbsverzerrung. Wenn zwei gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse befriedigen, im Hinblick auf die Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden, führt dies in der Regel zu einer Wettbewerbsverzerrung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. März 2001, Kommission/Frankreich, C‑404/99, Slg. 2001, I‑2667, Randnrn. 46 und 47, und vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies, C‑363/05, Slg. 2007, I‑5517, Randnrn. 47 bis 51).

36      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf Frage 1 Buchst. b und c in der Rechtssache C‑259/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht noch zusätzlich der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.

 Zu Frage 1 Buchst. a in der Rechtssache C‑259/10 und Frage 1 in der Rechtssache C‑260/10

37      Mit diesen Fragen möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen Aufschluss darüber erhalten, ob, wenn zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie ungleich behandelt werden, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass berücksichtigt werden muss, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.

38      Nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.

39      Diese Steuerbefreiung ist durch praktische Erwägungen veranlasst, da sich Glücksspielumsätze schlecht für die Anwendung der Mehrwertsteuer eignen, und nicht, wie es bei bestimmten im sozialen Bereich erbrachten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse der Fall ist, durch den Willen, diesen Tätigkeiten eine günstigere mehrwertsteuerliche Behandlung zu gewährleisten (vgl. Urteile vom 13. Juli 2006, United Utilities, C‑89/05, Slg. 2006, I‑6813, Randnr. 23, und vom 10. Juni 2010, Leo-Libera, C‑58/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 24).

40      Aus der Formulierung von Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie selbst ergibt sich, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt hat, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann (vgl. Urteil Leo-Libera, Randnr. 26).

41      Machen die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, nach dieser Bestimmung Gebrauch, müssen sie den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (vgl. Urteile vom 11. Juni 1998, Fischer, C‑283/95, Slg. 1998, I‑3369, Randnr. 27, sowie Linneweber und Akritidis, Randnr. 24).

42      Wie in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, lässt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es insbesondere nicht zu, gleichartige Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.

43      Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen im Sinne der in der genannten Randnummer angeführten Rechtsprechung gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Februar 1999, CPP, C‑349/96, Slg. 1999, I‑973, Randnr. 29), wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, Randnrn. 22 und 23).

44      Zwei Dienstleistungen sind daher gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, Randnr. 27, und entsprechend Urteile vom 11. August 1995, Roders u. a., C‑367/93 bis C‑377/93, Slg. 1995, I‑2229, Randnr. 27, und vom 27. Februar 2002, Kommission/Frankreich, C‑302/00, Slg. 2002, I‑2055, Randnr. 23).

45      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet jedoch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften (vgl. insbesondere Urteile vom 5. Juli 1988, Mol, 269/86, Slg. 1988, 3627, Randnr. 18, vom 29. Juni 1999, Coffeeshop „Siberië“, C‑158/98, Slg. 1999, I‑3971, Randnrn. 14 und 21, sowie vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C‑439/04 und C‑440/04, Slg. 2006, I‑6161, Randnr. 50). Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass die Mitgliedstaaten die Steuerbefreiung nicht den erlaubten Glücksspielen vorbehalten dürfen (Urteil Fischer, Randnr. 28). Bei der Prüfung der Gleichartigkeit von zwei Glücksspielen kann daher nicht berücksichtigt werden, ob deren Veranstaltung rechtmäßig oder rechtswidrig ist.

46      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich weiter, dass es für die Prüfung der Gleichartigkeit von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten auf die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte sowie auf die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich nicht ankommt (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnrn. 25 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Wie darüber hinaus aus diesem Urteil, insbesondere dessen Randnrn. 29 und 30, hervorgeht, sind Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden – insbesondere hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente –, für die Vergleichbarkeit dieser Spiele unerheblich.

48      Schließlich ist den Randnrn. 29 und 30 des Urteils Fischer zu entnehmen, dass der Umstand, dass nur eine der beiden Arten von Glücksspielen einer nichtharmonisierten Abgabe unterliegt, nicht die Schlussfolgerung rechtfertigen kann, dass diese Glücksspielarten nicht vergleichbar wären. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem würde nämlich verfälscht, wenn die Mitgliedstaaten bei seiner Anwendung danach unterscheiden könnten, ob andere, nichtharmonisierte Abgaben bestehen.

49      Daraus folgt, dass es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der betreffenden Glücksspiele auf die von den vorlegenden Gerichten angeführten Unterschiede in der rechtlichen Regelung nicht ankommt.

50      Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof in bestimmten Ausnahmefällen anerkannt hat, dass unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Wirtschaftszweige Unterschiede im rechtlichen Rahmen und in der rechtlichen Regelung der betreffenden Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen, wie die etwaige Erstattungsfähigkeit eines Arzneimittels oder der Umstand, dass der Leistungserbringer möglicherweise Universaldienstverpflichtungen unterliegt, aus der Sicht des Verbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse führen können (vgl. Urteile vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, Randnr. 27, und vom 23. April 2009, TNT Post UK, C‑357/07, Slg. 2009, I‑3025, Randnrn. 38, 39 und 45).

51      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf Frage 1 Buchst. a in der Rechtssache C‑259/10 und auf Frage 1 in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass, wenn zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie ungleich behandelt werden, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.

 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑260/10

52      Mit dieser Frage möchte das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) im Wesentlichen wissen, ob bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, die Unterschiede bei den Mindest‑ und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten berücksichtigt werden müssen oder nicht.

53      Zunächst ist festzustellen, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, soll Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie und dem in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils genannten weiten Wertungsspielraum, der den Mitgliedstaaten in dieser Bestimmung eingeräumt worden ist, nicht jede praktische Wirksamkeit genommen werden, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz sämtlich als gleichartige Leistungen im Sinne dieses Grundsatzes anzusehen wären. Ein Mitgliedstaat kann daher die Mehrwertsteuerbefreiung auf bestimmte Formen von Glücksspielen beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil Leo-Libera, Randnr. 35).

54      Aus dem Urteil Leo-Libera ergibt sich, dass eine Verletzung dieses Grundsatzes nicht vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat die mit Geldspielautomaten erbrachten Dienstleistungen der Mehrwertsteuer unterwirft, jedoch Pferderennwetten, Wetten zu festen Odds sowie Lotterien und Ausspielungen von dieser Steuer befreit (vgl. in diesem Sinne Urteil Leo-Libera, Randnrn. 9, 10 und 36).

55      Um jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht auszuhöhlen und das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht zu verfälschen, kann eine Ungleichbehandlung bei der Mehrwertbesteuerung nicht auf Detailunterschiede in der Struktur, den Modalitäten oder den Regeln der betreffenden Glücksspiele gestützt werden, die, wie Geldspielautomaten, sämtlich zu derselben Kategorie von Glücksspielen gehören.

56      Wie sich aus den Randnrn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils ergibt, hat die vom nationalen Gericht nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmende Prüfung der Gleichartigkeit von einer unterschiedlichen Besteuerung unterliegenden Glücksspielen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2006, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen, C‑443/04 und C‑444/04, Slg. 2006, I‑3617, Randnrn. 42 und 45, und Marks & Spencer, Randnr. 48) aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers zu erfolgen, wobei die maßgeblichen oder wichtigen Umstände zu berücksichtigen sind, die dessen Entscheidung, das eine oder das andere Glücksspiel zu spielen, erheblich beeinflussen können.

57      Insoweit können Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht.

58      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, zu prüfen ist, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest‑ und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.

 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑259/10

59      Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑259/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.

60      Bei dieser Frage geht es um das im Ausgangsverfahren von den Commissioners angeführte Argument, dass die Besteuerung von Teil‑III‑Geräten deshalb nicht den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt habe, weil auch die Vergleichsgeräte I nach den Bestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 nicht von der Mehrwertsteuer befreit gewesen seien, auch wenn die Commissioners einräumen, dass sie während der im Ausgangsverfahren fraglichen Jahre keine Mehrwertsteuer auf diese Geräte erhoben hätten.

61      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck kommt (vgl. u. a. Urteile vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark, C‑174/08, Slg. 2009, I‑10567, Randnr. 41, und vom 10. Juni 2010, CopyGene, C‑262/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 64).

62      Zwar kann eine öffentliche Verwaltung, die nach einer allgemeinen Entscheidungspraxis verfährt, an diese gebunden sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 1987, Ferriera Valsabbia/Kommission, 268/84, Slg. 1987, 353, Randnrn. 14 und 15, und vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Randnr. 211), jedoch muss der Grundsatz der Gleichbehandlung mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 1984, Witte/Parlament, 188/83, Slg. 1984, 3465, Randnr. 15, vom 4. Juli 1985, Williams/Rechnungshof, 134/84, Slg. 1985, 2225, Randnr. 14, und vom 10. März 2011, Agencja Wydawnicza Technopol/HABM, C‑51/10 P, Slg. 2011, I‑0000, Randnrn. 75 und 76).

63      Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger nicht verlangen kann, dass ein bestimmter Umsatz derselben steuerlichen Behandlung wie ein anderer Umsatz unterworfen wird, wenn dessen Behandlung nicht mit der einschlägigen nationalen Regelung in Einklang steht.

64      Infolgedessen ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑259/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.

65      In Anbetracht dieser Antwort sind die dritte und die vierte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑259/10 nicht zu beantworten.

 Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑260/10

66      Mit dieser Frage möchte das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) im Wesentlichen Aufschluss darüber erhalten, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.

67      Diese Frage betrifft das Vorbringen der Commissioners, bei Erlass der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die Teil-III‑Geräte von der Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele ausgeschlossen worden seien, habe es keine gleichartigen befreiten Geldspielautomaten gegeben. Die unterschiedliche Behandlung gleichartiger Geräte sei erst später wegen der Entwicklung einer neuen Art von Geldspielgeräten zutage getreten, von der die Steuerbehörden erst einige Zeit nach Beginn ihrer Vermarktung Kenntnis erhalten hätten. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland habe in der Folge mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt, indem es innerhalb angemessener Frist geeignete Maßnahmen ergriffen habe, um die unterschiedliche steuerliche Behandlung zu beenden.

68      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich ein Mitgliedstaat dann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen kann, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Sechsten Richtlinie einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnr. 37).

69      Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie hat daher unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmung berufen kann, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnr. 38).

70      Eine solche unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung hängt nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325, Randnrn. 25 und 27, vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835, Randnr. 103, und vom 10. April 2008, Marks & Spencer, Randnr. 36).

71      Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nach der fraglichen nationalen Regelung die Bereitstellung von Vorrichtungen zum Abschließen von Wetten oder zum Spielen von Glücksspielen grundsätzlich mehrwertsteuerfrei war, mit Ausnahme von Glücksspielgeräten, die bestimmte Kriterien erfüllten. Hat der Mitgliedstaat solche Abgrenzungskriterien festgelegt, kann er nicht damit gehört werden, dass es seiner Ansicht nach keine Geräte gegeben habe, die diese Kriterien nicht erfüllten, und er einer möglichen Entwicklung solcher Geräte auch nicht habe Rechnung tragen müssen.

72      Im Übrigen geht aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Regierung des Vereinigten Königreichs hervor, dass das Gaming Board, die Regulierungsstelle für Glücksspiele und damit eine Behörde dieses Mitgliedstaats, schon vor der kommerziellen Verwendung der neuen Geldspielautomaten über deren Existenz unterrichtet war.

73      Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kann das Argument der Commissioners, die Steuerbehörden hätten von dieser Existenz erst nachträglich Kenntnis erhalten, so dass die unterschiedliche Behandlung der beiden Arten von Geldspielautomaten während eines bestimmten Zeitraums gerechtfertigt gewesen sei, keinen Erfolg haben.

74      Demgemäß ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.

 Kosten

75      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht dazu noch der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.

2.      Werden zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ungleich behandelt, so ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.

3.      Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, ist zu prüfen, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest- und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.

4.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.

5.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.