Rechtssache C‑140/10

Greenstar-Kanzi Europe NV

gegen

Jean Hustin und Jo Goossens

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van Cassatie)

„Verordnung (EG) Nr. 2100/94 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 – Auslegung von Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie der Art. 16, 27, 94 und 104 – Grundsatz der Erschöpfung des gemeinschaftlichen Sortenschutzes – Lizenzvertrag – Verletzungsklage gegen einen Dritten – In seinen Vertragsbeziehungen mit dem Dritten begangener Verstoß des Lizenznehmers gegen den Lizenzvertrag“

Leitsätze des Urteils

Landwirtschaft – Einheitliche Rechtsvorschriften – Sortenschutz – Verletzungsklage des Inhabers des Schutzes oder des Nutzungsberechtigten gegen einen Dritten, der Erntegut der geschützten Sorte von einem anderen Nutzungsberechtigten erhalten hat, der gegen Beschränkungen in dem zuvor mit dem Inhaber geschlossenen Lizenzvertrag verstoßen hat – Zulässigkeit – Voraussetzung

(Verordnung Nr. 2100/94 des Rates in der Fassung der Verordnung Nr. 873/2004, Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie Art. 16, 27, 94 und 104)

Art. 94 der Verordnung Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz in der durch die Verordnung Nr. 873/2004 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie den Art. 16, 27 und 104 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass der Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes oder der Nutzungsberechtigte eine Verletzungsklage gegen einen Dritten erheben kann, der Erntegut der geschützten Sorte von einem anderen Nutzungsberechtigten erhalten hat, der gegen Beschränkungen in dem von ihm zuvor mit dem Inhaber geschlossenen Lizenzvertrag verstoßen hat, soweit sich die fraglichen Beschränkungen unmittelbar auf wesentliche Bestandteile des betroffenen gemeinschaftlichen Sortenschutzes beziehen, was von dem nationalen Gericht zu beurteilen ist.

Bei der Beurteilung der Verletzung ist es in einem solchen Fall nicht von Bedeutung, dass der Dritte, der Handlungen in Bezug auf das verkaufte oder abgegebene Erntegut der geschützten Sorte vorgenommen hat, die in dem Lizenzvertrag auferlegten Beschränkungen kannte oder so behandelt wird, als hätte er sie gekannt.

(vgl. Randnrn. 44, 49, Tenor 1-2)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

20. Oktober 2011(*)

„Verordnung (EG) Nr. 2100/94 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 – Auslegung von Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie der Art. 16, 27, 94 und 104 – Grundsatz der Erschöpfung des gemeinschaftlichen Sortenschutzes – Lizenzvertrag – Verletzungsklage gegen einen Dritten – In seinen Vertragsbeziehungen mit dem Dritten begangener Verstoß des Lizenznehmers gegen den Lizenzvertrag“

In der Rechtssache C‑140/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Belgien) mit Entscheidung vom 25. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 17. März 2010, in dem Verfahren

Greenstar-Kanzi Europe NV

gegen

Jean Hustin,

Jo Goossens

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter M. Safjan, M. Ilešič, E. Levits und J.‑J. Kasel (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Greenstar-Kanzi Europe NV, vertreten durch N. Segers und K. Tielens, advocaten,

–        von Herrn Hustin und Herrn Goossens, vertreten durch H. Van Gompel und J. Hensen, advocaten,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch F. Díez Moreno als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wilman und T. van Rijn als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2011

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie der Art. 16, 27, 94 und 104 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz (ABl. L 227, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 162, S. 38) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2100/94).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Greenstar-Kanzi Europe NV (im Folgenden: GKE) einerseits und Herrn Hustin und Herrn Goossens andererseits über eine Verletzung der Marke Kanzi und der Apfelbaumsorte Nicoter sowie der damit verbundenen Markenrechte und Rechte aus dem gemeinschaftlichen Sortenschutz, die Herr Hustin und Herr Goossens durch den Verkauf von Äpfeln unter der Marke Kanzi begangen haben sollen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2100/94 lautet:

„Da die Wirkung des gemeinschaftlichen Sortenschutzes für das gesamte Gebiet der Gemeinschaft einheitlich sein soll, müssen die Handlungen, die der Zustimmung des Inhabers unterliegen, genau abgegrenzt werden. So wird zwar einerseits der Schutzumfang gegenüber den meisten einzelstaatlichen Systemen auf bestimmtes Material der Sorte erweitert, um Bewegungen über schutzfreie Gebiete außerhalb der Gemeinschaft zu berücksichtigen; andererseits muss die Einführung des Erschöpfungsgrundsatzes sicherstellen, dass der Schutz nicht ungerechtfertigt ausufert.“

4        Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 bestimmt:

„Das Recht auf den gemeinschaftlichen Sortenschutz steht der Person zu, die die Sorte hervorgebracht oder entdeckt und entwickelt hat bzw. ihrem Rechtsnachfolger; diese Person und ihr Rechtsnachfolger werden im Folgenden ‚Züchter‘ genannt.“

5        Art. 13 der Verordnung Nr. 2100/94 lautet:

„(1)      Der gemeinschaftliche Sortenschutz hat die Wirkung, dass allein der oder die Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes, im Folgenden ‚Inhaber‘ genannt, befugt sind, die in Absatz 2 genannten Handlungen vorzunehmen.

(2)      Unbeschadet der Artikel 15 und 16 bedürfen die nachstehend aufgeführten Handlungen in Bezug auf Sortenbestandteile oder Erntegut der geschützten Sorte – beides im Folgenden ‚Material‘ genannt – der Zustimmung des Inhabers:

a)      Erzeugung oder Fortpflanzung (Vermehrung),

b)      Aufbereitung zum Zweck der Vermehrung,

c)      Anbieten zum Verkauf,

d)      Verkauf oder sonstiges Inverkehrbringen,

e)      Ausfuhr aus der Gemeinschaft,

f)      Einfuhr in die Gemeinschaft,

g)      Aufbewahrung zu einem der unter den Buchstaben a) bis f) genannten Zwecke.

Der Inhaber kann seine Zustimmung von Bedingungen und Einschränkungen abhängig machen.

(3)      Auf Erntegut findet Absatz 2 nur Anwendung, wenn es dadurch gewonnen wurde, dass Sortenbestandteile der geschützten Sorte ohne Zustimmung verwendet wurden, und wenn der Inhaber nicht hinreichend Gelegenheit hatte, sein Recht im Zusammenhang mit den genannten Sortenbestandteilen geltend zu machen.

...“

6        Art. 16 der Verordnung Nr. 2100/94 bestimmt:

„Der gemeinschaftliche Sortenschutz gilt nicht für Handlungen, die ein Material der geschützten Sorte oder einer von Artikel 13 Absatz 5 erfassten Sorte betreffen, das vom Inhaber oder mit seiner Zustimmung andernorts in der Gemeinschaft an Dritte abgegeben wurde, oder Material, das von dem genannten Material stammt, außer wenn diese Handlungen

a)      eine weitere Vermehrung der betreffenden Sorte beinhalten, es sei denn, eine solche Vermehrung war beabsichtigt, als das Material abgegeben wurde, oder wenn sie

b)      eine Ausfuhr von Sortenbestandteilen in ein Drittland beinhalten, in dem Sorten der Pflanzengattung oder ‑art, zu der die Sorte gehört, nicht geschützt werden; ausgenommen hiervon ist ausgeführtes Material, das zum Endverbrauch bestimmt ist.“

7        Art. 27 der Verordnung Nr. 2100/94 sieht vor:

„(1)      Der gemeinschaftliche Sortenschutz kann ganz oder teilweise Gegenstand von vertraglich eingeräumten Nutzungsrechten sein. Ein Nutzungsrecht kann ausschließlich oder nicht ausschließlich sein.

(2)      Gegen einen Nutzungsberechtigten, der gegen eine Beschränkung seines Nutzungsrechts nach Absatz 1 verstößt, kann der Inhaber das Recht aus dem gemeinschaftlichen Sortenschutz geltend machen.“

8        Art. 94 der Verordnung Nr. 2100/94 bestimmt:

„(1)      Wer

a)      hinsichtlich einer Sorte, für die ein gemeinschaftlicher Sortenschutz erteilt wurde, eine der in Artikel 13 Absatz 2 genannten Handlungen vornimmt, ohne dazu berechtigt zu sein, oder

...

kann vom Inhaber auf Unterlassung der Verletzung oder Zahlung einer angemessenen Vergütung oder auf beides in Anspruch genommen werden.

(2)      Wer vorsätzlich oder fahrlässig handelt, ist dem Inhaber darüber hinaus zum Ersatz des weiteren aus der Verletzung entstandenen Schadens verpflichtet. Bei leichter Fahrlässigkeit kann sich dieser Anspruch entsprechend dem Grad der leichten Fahrlässigkeit, jedoch nicht unter die Höhe des Vorteils, der dem Verletzer aus der Verletzung erwachsen ist, vermindern.“

9        Art. 104 der Verordnung Nr. 2100/94 lautet:

„(1)      Die Verletzungsklage wird durch den Inhaber erhoben. Ein Nutzungsberechtigter kann die Verletzungsklage erheben, sofern solche Klagen im Fall eines ausschließlichen Nutzungsrechts nicht ausdrücklich durch eine Vereinbarung mit dem Inhaber oder durch das Amt gemäß den Artikeln 29 bzw. 100 Absatz 2 ausgeschlossen sind.

(2)      Jeder Nutzungsberechtigte kann der vom Inhaber erhobenen Verletzungsklage beitreten, um den Ersatz seines eigenen Schadens geltend zu machen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10      Die Nicolaï NV (im Folgenden: Nicolaï) ist „Züchter“ – im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 – einer neuen Apfelbaumsorte, der Sorte Nicoter. Allein diese Sorte bringt Äpfel hervor, die – wenn sie bestimmten Qualitätsanforderungen genügen – unter der Marke Kanzi vertrieben werden. Zur Vermeidung einer Verwässerung der Qualität der Sorte und der Marke wurde ein System eingeführt, das einem selektiven Vertriebsnetz entspricht und ein Pflichtenheft umfasst, das Beschränkungen hinsichtlich der Erzeugung des Baums sowie in Bezug auf die Erzeugung, die Aufbewahrung, das Sortieren und das Inverkehrbringen der Früchte enthält.

11      Der von Nicolaï am 27. April 2001 für die Apfelbaumsorte Nicoter gestellte Antrag wurde am 15. Juni 2001 im Amtsblatt des Gemeinschaftlichen Sortenamtes veröffentlicht.

12      Der mit diesem Antrag einhergehende Sortenschutz wurde von Nicolaï am 3. September 2002 in die Better3fruit NV (im Folgenden: Better3fruit) eingebracht. Better3fruit ist seitdem Inhaberin des gemeinschaftlichen Sortenschutzes für Bäume der Sorte Nicoter.

13      Better3fruit ist ebenfalls Inhaberin der Apfelmarke Kanzi.

14      Im Jahr 2003 schlossen Better3fruit und Nicolaï einen Lizenzvertrag, mit dem Nicolaï ein ausschließliches Recht zur Züchtung und zum Verkauf von Apfelbäumen der Sorte Nicoter erwarb. Nach dem Lizenzvertrag ist es Nicolaï untersagt, „ein Lizenzprodukt zu übertragen oder zu verkaufen, wenn der betreffende Vertragspartner nicht zuvor die in Anhang 6 enthaltene Zuchtlizenz (im Fall eines Züchters) oder die in Anhang 7 enthaltene Vermarktungslizenz (im Fall eines Handelspartners) unterzeichnet hat“.

15      Am 24. Dezember 2004 verkaufte Nicolaï 7 000 Apfelbäume der Sorte Nicoter an Herrn Hustin. Im Rahmen dieses Rechtsgeschäfts ging Herr Hustin keinerlei Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Vorschriften in Bezug auf die Züchtung der Äpfel und den Verkauf der Ernte ein.

16      Der im Jahr 2003 zwischen Better3fruit und Nicolaï geschlossene Lizenzvertrag wurde am 20. Januar 2005 aufgelöst. Zu einem zwischen den Parteien des Ausgangsrechtsstreits streitigen Zeitpunkt erwarb GKE die durch den gemeinschaftlichen Sortenschutz vermittelten ausschließlichen Nutzungsrechte für Nicoter-Apfelbäume. Damit ging das Nutzungsrecht von Nicolaï auf GKE über.

17      Am 4. Dezember 2007 wurde festgestellt, dass Herr Goossens Äpfel unter der Marke Kanzi zum Kauf anbot. Es stellte sich heraus, dass ihm diese Äpfel von Herrn Hustin geliefert worden waren.

18      Auf der Grundlage dieser Feststellung erhob GKE gegen Herrn Hustin und Herrn Goossens eine Klage wegen Verletzung des gemeinschaftlichen Sortenschutzes. Am 29. Januar 2008 entschied der Präsident der Rechtbank van Koophandel te Antwerpen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, sowohl Herr Hustin als auch Herr Goossens hätten den gemeinschaftlichen Sortenschutz von GKE verletzt.

19      Mit Urteil vom 24. April 2008 änderte der Hof van Beroep te Antwerpen diese Entscheidung ab. Dieses Gericht war zwar der Ansicht, dass Nicolaï tatsächlich ihre Verpflichtungen aus dem Lizenzvertrag nicht beachtet habe, entschied aber, dass Herr Hustin und Herr Goossens den gemeinschaftlichen Sortenschutz von GKE nicht verletzt hätten, da die Beschränkungen, die in den zwischen Better3fruit und Nicolaï geschlossenen Lizenzvertrag aufgenommen worden seien, Herrn Hustin und Herrn Goossens nicht entgegengehalten werden könnten.

20      Gegen dieses Urteil des Hof van Beroep te Antwerpen legte GKE Kassationsbeschwerde ein. Der Hof van Cassatie, der Zweifel hinsichtlich der Tragweite der Erschöpfungsregel des Art. 16 der Verordnung Nr. 2100/94 hat, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die beiden folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 94 der Verordnung Nr. 2100/94 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie den Art. 16, 27 und 104 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass der Inhaber oder der Nutzungsberechtigte eine Verletzungsklage gegen denjenigen erheben kann, der Handlungen in Bezug auf Material vornimmt, das von einem Lizenznehmer an ihn verkauft oder abgegeben wurde, wenn die Beschränkungen, die im Lizenzvertrag zwischen dem Lizenznehmer und dem Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes für den Fall des Verkaufs dieses Materials ausbedungen wurden, nicht eingehalten wurden?

2.      Wenn ja, ist es für die Prüfung dieses Verstoßes von Bedeutung, ob derjenige, der die zuvor erwähnte Handlung vornimmt, die in dem betreffenden Lizenzvertrag auferlegten Beschränkungen kannte oder so behandelt wird, als hätte er sie gekannt?

 Zu den Vorlagefragen

21      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes oder sein Lizenznehmer eine Verletzungsklage gegen einen Dritten erheben kann, der Material bei einem anderen Lizenznehmer erworben hat, ohne dass dieser letztgenannte Lizenznehmer im Rahmen des Verkaufs des Materials die in dem zwischen dem Inhaber und ihm geschlossenen Lizenzvertrag enthaltenen Beschränkungen eingehalten hat.

22      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Ausgangsverfahren nur die Frage betrifft, ob der neue Lizenznehmer, d. h. GKE, eine Verletzungsklage gegen Dritte, hier Herrn Hustin und Herrn Goossens, erheben kann, die Material bei dem vormaligen Lizenznehmer, hier Nicolaï, erworben haben, der im Rahmen des Verkaufs des Materials gegen Beschränkungen verstoßen hat, die in dem von ihm seinerzeit mit dem Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes, also Better3fruit, geschlossenen Lizenzvertrag enthalten sind.

23      Die erste von dem vorlegenden Gericht genannte Fallgestaltung, d. h. die Befugnis des Inhabers, selbst eine Verletzungsklage gegen den Dritten zu erheben, ist zwar angesichts der Besonderheiten des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant, doch ist festzustellen, dass Art. 94 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 das Recht auf Erhebung einer Verletzungsklage dem Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes vorbehält.

24      Da das Recht des Nutzungsberechtigten zur Erhebung einer solchen Klage vom Klagerecht des Inhabers abhängig ist, ist zunächst zu klären, von welchen genauen Voraussetzungen die Verordnung Nr. 2100/94 die Ausübung dieses Rechts durch den Inhaber abhängig macht.

25      Was den mit der Verordnung Nr. 2100/94 eingeführten Sortenschutz betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung verschiedene Schutzniveaus und verschiedene Klagemöglichkeiten vorsieht.

26      Erstens gibt es einen „Primärschutz“, der nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2100/94 für Sortenbestandteile gilt. Erntegut wiederum ist Gegenstand eines „Sekundärschutzes“, der, obwohl er ebenfalls in Art. 13 Abs. 2 dieser Verordnung erwähnt wird, durch Abs. 3 desselben Artikels stark eingeschränkt wird. Auch wenn sowohl Sortenbestandteile als auch Erntegut unter den Begriff „Material“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Verordnung fallen, unterscheidet sich demnach der für diese beiden Kategorien vorgesehene Schutz gleichwohl.

27      Zweitens sieht die Verordnung Nr. 2100/94 mehrere Klagemöglichkeiten vor. Nach ihrem Art. 94 Abs. 1 kann, wer hinsichtlich einer Sorte, für die ein gemeinschaftlicher Sortenschutz erteilt wurde, eine der in Art. 13 Abs. 2 genannten Handlungen vornimmt, ohne dazu berechtigt zu sein, mit einer Verletzungsklage in Anspruch genommen werden.

28      Was insbesondere Lizenzverträge betrifft, sieht Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2100/94 vor, dass der Inhaber gegen einen Nutzungsberechtigten, der gegen eine Beschränkung seines Nutzungsrechts nach Abs. 1 desselben Artikels verstößt, das Recht aus dem gemeinschaftlichen Sortenschutz geltend machen kann.

29      Zu unterscheiden sind daher Klagen des Inhabers gegen den Nutzungsberechtigten einerseits und Klagen gegen einen Dritten, der unberechtigt Handlungen in Bezug auf geschütztes Material vornimmt, andererseits.

30      In Bezug auf die letztgenannte dieser beiden Fallgestaltungen, um die es im Ausgangsrechtsstreit geht, ist zu ergänzen, dass Art. 104 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 die Möglichkeit vorsieht, dass der Nutzungsberechtigte die Verletzungsklage anstelle des Inhabers erhebt. GKE ist demnach als Lizenznehmerin zur Erhebung einer Verletzungsklage gegen Herrn Hustin und Herrn Goossens befugt.

31      Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der gemeinschaftliche Sortenschutz nach der in Art. 16 der Verordnung Nr. 2100/94 aufgestellten sogenannten „Erschöpfungsregel“ nicht für Handlungen gilt, die ein Material der geschützten Sorte betreffen, das vom Inhaber oder mit seiner Zustimmung andernorts in der Europäischen Union an Dritte abgegeben wurde, außer wenn diese Handlungen eine weitere Vermehrung der betreffenden Sorte beinhalten, es sei denn, eine solche Vermehrung war beabsichtigt, als das Material abgegeben wurde, oder wenn sie eine Ausfuhr von Sortenbestandteilen in ein Drittland beinhalten, in dem Sorten der Pflanzengattung oder ‑art, zu der die Sorte gehört, nicht geschützt werden, wobei hiervon ausgeführtes Material ausgenommen ist, das zum Endverbrauch bestimmt ist.

32      Aus diesem Art. 16 der Verordnung Nr. 2100/94 und der dort aufgestellten Regel geht hervor, dass im Rahmen einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens eine von GKE als neuer Lizenznehmerin anstelle der Inhaberin, d. h. Better3fruit, erhobene Verletzungsklage gegen Herrn Hustin und Herrn Goossens nur dann in Betracht gezogen werden kann, wenn das Recht der Inhaberin nicht erschöpft ist.

33      Aus den Akten geht insoweit hervor, dass Better3fruit und Nicolaï einen Lizenzvertrag geschlossen haben, mit dem Better3fruit Nicolaï das ausschließliche Recht zur Züchtung und zum Verkauf von Apfelbäumen der Sorte Nicoter sowie der Nutzung der damit verbundenen Rechte eingeräumt hat.

34      Dieser Lizenzvertrag enthielt Beschränkungen, nach denen Nicolaï nicht berechtigt war, ein von der Lizenz erfasstes Erzeugnis zu veräußern, ohne dass sich der entsprechende Dritte dazu verpflichtet, diese Beschränkungen einzuhalten.

35      Zu prüfen ist daher, ob das Recht der Inhaberin des gemeinschaftlichen Sortenschutzes angesichts der in den vorstehenden Randnummern genannten Umstände erschöpft ist.

36      Die Tragweite des in Art. 16 der Verordnung Nr. 2100/94 aufgestellten Erschöpfungsgrundsatzes ist vom Gerichtshof noch nicht ausgelegt worden.

37      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob gleichwohl die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Tragweite des Erschöpfungsgrundsatzes im Markenrecht entsprechend herangezogen werden kann.

38      Aus dieser Rechtsprechung, die das Verhältnis zwischen dem Inhaber einer Marke und seinem Lizenznehmer betrifft, ergibt sich, dass das Inverkehrbringen von mit der Marke versehenen Waren durch einen Lizenznehmer grundsätzlich als mit der Zustimmung des Inhabers der Marke erfolgt angesehen werden muss (vgl. Urteil vom 23. April 2009, Copad, C‑59/08, Slg. 2009, I‑3421, Randnr. 46).

39      Allerdings kommt der Lizenzvertrag nach dieser Rechtsprechung keiner absoluten und unbedingten Zustimmung des Inhabers zum Inverkehrbringen von mit der Marke versehenen Waren durch den Lizenznehmer gleich (vgl. Urteil Copad, Randnr. 47).

40      Was insbesondere den Sortenschutz betrifft, sieht Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2100/94 ausdrücklich vor, dass der Inhaber die Rechte, die ihm dieser Schutz verleiht, gegen einen Nutzungsberechtigten geltend machen kann, wenn dieser gegen eine der Klauseln des Lizenzvertrags verstößt.

41      Was dagegen die Verletzungsklage gegen Dritte nach Art. 94 der Verordnung Nr. 2100/94 betrifft, ist der 14. Erwägungsgrund dieser Verordnung zu berücksichtigen, wonach der Schutz des Inhabers nicht ungerechtfertigt ausufern soll. Somit ist festzustellen, dass ein Verstoß gegen eine beliebige Klausel des Lizenzvertrags nicht immer bedeutet, dass die Zustimmung des Inhabers fehlt. Insbesondere kann dann keine fehlende Zustimmung angenommen werden, wenn der Nutzungsberechtigte gegen eine Bestimmung des Lizenzvertrags verstößt, die nicht die Zustimmung zum Inverkehrbringen und damit auch nicht die Erschöpfung des Rechts des Inhabers betrifft.

42      Da die beim Gerichtshof eingereichten Akten keine Kopien der Anhänge 6 und 7 des Lizenzvertrags enthalten, auf die in der entsprechenden Klausel des Vertrags Bezug genommen wird, verfügt der Gerichtshof nicht über hinreichende Anhaltspunkte, um die Art der im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmung zu ermitteln. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage des Sachverhalts und der Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache die Bestimmungen des fraglichen Lizenzvertrags zu würdigen.

43      Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass das geschützte Material von dem Nutzungsberechtigten unter Verstoß gegen eine in dem Lizenzvertrag enthaltene Beschränkung veräußert wurde, die sich unmittelbar auf wesentliche Bestandteile des gemeinschaftlichen Sortenschutzes bezieht, dann wäre der Schluss zu ziehen, dass diese Veräußerung des Materials durch den Nutzungsberechtigten an einen Dritten ohne Zustimmung des Inhabers erfolgt ist, so dass dessen Recht nicht erschöpft ist. Ein Verstoß gegen in dem Lizenzvertrag enthaltene Vertragsklauseln jedweder anderen Natur steht dagegen der Erschöpfung des Rechts des Inhabers nicht entgegen.

44      Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 94 der Verordnung Nr. 2100/94 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie den Art. 16, 27 und 104 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Inhaber oder der Nutzungsberechtigte unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine Verletzungsklage gegen einen Dritten erheben kann, der Material von einem anderen Nutzungsberechtigten erhalten hat, der gegen Beschränkungen in dem von ihm zuvor mit dem Inhaber geschlossenen Lizenzvertrag verstoßen hat, soweit sich die fraglichen Beschränkungen unmittelbar auf wesentliche Bestandteile des betroffenen gemeinschaftlichen Sortenschutzes beziehen, was von dem vorlegenden Gericht zu beurteilen ist.

45      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es bei der Beurteilung der Verletzung von Bedeutung ist, ob der Dritte, der Handlungen in Bezug auf verkauftes oder abgegebenes Material vornimmt, die in dem betreffenden Lizenzvertrag auferlegten Beschränkungen kannte oder so behandelt wird, als hätte er sie gekannt.

46      Dazu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 94 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 die Voraussetzungen festlegt, unter denen der Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes eine Verletzungsklage gegen den Verletzer erheben kann, um entweder die Unterlassung der Verletzung oder die Zahlung einer angemessenen Vergütung oder beides in Kombination zu erreichen.

47      In Abs. 2 dieses Artikels sind die Fälle aufgeführt, in denen der Inhaber den Verletzer darüber hinaus mit einer Verletzungsklage auf Ersatz des weiteren aus der Verletzung entstandenen Schadens in Anspruch nehmen kann. Damit der Inhaber einen solchen Ersatz des entstandenen Schadens verlangen kann, muss der Verletzer nach diesem Abs. 2 vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben. Bei leichter Fahrlässigkeit kann sich der Ersatzanspruch des Inhabers grundsätzlich entsprechend vermindern.

48      Bei einem Vergleich des Wortlauts dieser beiden Absätze zeigt sich, dass in Abs. 1 jedes subjektive Element fehlt. Daher ist festzustellen, dass subjektive Elemente wie die Kenntnis der in dem Lizenzvertrag enthaltenen Beschränkungen für die Beurteilung einer Verletzung und das Recht, gegen den Urheber der entsprechenden Verletzung vorzugehen, grundsätzlich keine Rolle spielen.

49      Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass es bei der Beurteilung der Verletzung nicht von Bedeutung ist, dass der Dritte, der Handlungen in Bezug auf das verkaufte oder abgegebene Material vorgenommen hat, die in dem Lizenzvertrag auferlegten Beschränkungen kannte oder so behandelt wird, als hätte er sie gekannt.

 Kosten

50      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 94 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz in der durch die Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates vom 29. April 2004 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 bis 3 sowie den Art. 16, 27 und 104 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass der Inhaber oder der Nutzungsberechtigte unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine Verletzungsklage gegen einen Dritten erheben kann, der Material von einem anderen Nutzungsberechtigten erhalten hat, der gegen Beschränkungen in dem von ihm zuvor mit dem Inhaber geschlossenen Lizenzvertrag verstoßen hat, soweit sich die fraglichen Beschränkungen unmittelbar auf wesentliche Bestandteile des betroffenen gemeinschaftlichen Sortenschutzes beziehen, was von dem vorlegenden Gericht zu beurteilen ist.

2.      Bei der Beurteilung der Verletzung ist es nicht von Bedeutung, dass der Dritte, der Handlungen in Bezug auf das verkaufte oder abgegebene Material vorgenommen hat, die in dem Lizenzvertrag auferlegten Beschränkungen kannte oder so behandelt wird, als hätte er sie gekannt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.