Rechtssache C–107/10
Enel Maritsa Iztok 3 AD
gegen
Direktor „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ NAP
(Vorabentscheidungsersuchen des
Administrativen sad Sofia-grad)
„Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuer – Richtlinien 77/388/EWG und 2006/112/EG – Erstattung – Frist – Zinsen – Verrechnung – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit – Vertrauensschutz“
Leitsätze des Urteils
1. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Erstattung des Überschusses
(Richtlinie 2006/112 des Rates in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung, Art. 183)
2. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Erstattung des Überschusses
(Richtlinie 2006/112 des Rates in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung, Art. 183)
3. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Erstattung des Überschusses
(Richtlinie 2006/112 des Rates in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung, Art. 183)
1. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses vorsieht, soweit durch diese Regelung dem Steuerpflichtigen der ihm vor dem Inkrafttreten der Regelung zustehende Anspruch auf Verzugszinsen auf den an ihn zu erstattenden Betrag genommen wird.
(vgl. Randnr. 41, Tenor 1)
2. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die normale Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von 45 Tagen, nach deren Ablauf Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden, im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens mit der Folge verlängert wird, dass die Verzugszinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet werden, zu dem das Steuerprüfungsverfahren abgeschlossen ist, wenn dieser Überschuss während der drei dem Zeitraum seiner Entstehung folgenden Besteuerungszeiträume bereits Gegenstand eines Vortrags war. Dass die normale Frist 45 Tage beträgt, steht hingegen nicht im Widerspruch zu dieser Vorschrift.
(vgl. Randnr. 61, Tenor 2)
3. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung nicht entgegensteht.
Die Mitgliedstaaten verfügen nämlich hinsichtlich der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses über einen gewissen Spielraum, sofern die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dem Steuerpflichtigen kein finanzielles Risiko entsteht.
(vgl. Randnrn. 64, 67, Tenor 3)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
12. Mai 2011(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuer – Richtlinien 77/388/EWG und 2006/112/EG – Erstattung – Frist – Zinsen – Verrechnung – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit – Vertrauensschutz“
In der Rechtssache C‑107/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2010, in dem Verfahren
Enel Maritsa Iztok 3 AD
gegen
Direktor „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ NAP
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász und T. von Danwitz (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Enel Maritsa Iztok 3 AD, vertreten durch L. Ruessmann, avocat, und S. Yordanova, advokat,
– des Direktor „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ NAP, vertreten durch A. Georgiev und I. Atanasova Kirova als Bevollmächtigte,
– der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und S. Petrova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) und von Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 (ABl. L 384, S. 92) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Enel Maritsa Iztok 3 AD (im Folgenden: Enel) und dem Direktor „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ NAP (Leiter der Direktion „Anfechtung und Verwaltung des Vollzugs“ bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, im Folgenden: Direktor) über den maßgeblichen Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen auf einen zu erstattenden Mehrwertsteuerbetrag geschuldet werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 18 Abs. 2 und 4 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„(2) Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Erklärungszeitraum schuldet, den Betrag der Steuer absetzt, für die das Abzugsrecht entstanden ist und wird nach Absatz 1 während des gleichen Zeitraums ausgeübt.
Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die die in Artikel 4 Absatz 3 genannten Umsätze nur gelegentlich bewirken, vorschreiben, dass sie das Abzugsrecht erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.
…
(4) Übersteigt der Betrag der zulässigen Abzüge den Betrag der für einen Erklärungszeitraum geschuldeten Steuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen, oder ihn nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten.
Die Mitgliedstaaten können jedoch regeln, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“
4 Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“
5 Art. 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Die Mehrwertsteuererklärung ist innerhalb eines von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegenden Zeitraums abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate nach Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums nicht überschreiten.
(2) Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden.
Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.“
Nationales Recht
6 Nach Art. 87 des Mehrwertsteuergesetzes umfasst der Besteuerungszeitraum im Allgemeinen einen Monat.
7 Art. 92 des Mehrwertsteuergesetzes in seiner bis 18. Dezember 2007 geltenden Fassung bestimmte:
„(1) Die zu erstattende Steuer gemäß Art. 88 Abs. 3 wird wie folgt verrechnet, abgezogen oder erstattet:
1. Bestehen sonstige fällige und nicht beglichene Steuerschulden und Schulden aus Versicherungsbeiträgen, die von der Nationalen Agentur für Einnahmen eingezogen werden und bis zum Tag der Abgabe der Steuererklärung entstanden sind, verrechnet die Einnahmebehörde diese Schulden mit dem in der Steuererklärung ausgewiesenen Steuererstattungsbetrag; auf einen etwaigen Restbetrag findet das Verfahren nach Nr. 2 Anwendung.
2. Bestehen keine sonstigen fälligen und nicht beglichenen Steuerschulden nach Nr. 1 oder sind sie niedriger als der in der Steuererklärung ausgewiesene Steuererstattungsbetrag, zieht die registrierte Person die zu erstattende Steuer oder den Restbetrag nach Nr. 1 von der zu entrichtenden Steuer ab, die in den Steuererklärungen der nächsten drei aufeinanderfolgenden Besteuerungszeiträume ausgewiesen ist.
…
4. Verbleibt nach Ablauf der Frist gemäß Nr. 2 ein Restbetrag zu erstattender Steuer, verrechnet die Einnahmebehörde diesen Restbetrag zum Zweck der Tilgung sonstiger fälliger und nicht beglichener Steuerschulden oder Schulden aus Versicherungsbeiträgen, die von der Nationalen Agentur für Einnahmen eingezogen werden, oder erstattet ihn innerhalb von 45 Tagen ab Abgabe der nächsten Steuererklärung.
…
(8) Der Erstattung unterliegende Steuer, die ohne Grund oder aus einem weggefallenen Grund (auch bei Aufhebung eines Bescheids) nicht innerhalb der in diesem Gesetz vorgesehenen Fristen erstattet worden ist, wird zusammen mit den gesetzlichen Verzugszinsen erstattet, die unabhängig von Hemmung und Fortlauf der Fristen im Steuerverfahren von dem Tag, an dem die Steuer nach diesem Gesetz hätte erstattet werden müssen, bis zu ihrer endgültigen Zahlung anfallen. Steuer, die aus einem weggefallenen Grund nicht erstattet worden ist, liegt auch dann vor, wenn nach Durchführung der Steuerprüfung der festgesetzte Steuererstattungsbetrag in Bezug auf den der Erstattung unterliegenden Teil dem ausgewiesenen Betrag entspricht oder niedriger ist.“
8 Art. 92 des Mehrwertsteuergesetzes in seiner ab dem 19. Dezember 2007 geltenden Fassung sieht vor:
„…
(8) Ungeachtet der Bestimmungen des Abs. 1 Nr. 4 und der Abs. 3 bis 6 entspricht, wenn eine Steuerprüfung beim Betreffenden eingeleitet worden ist, die Frist für die Steuererstattung der Frist für den Erlass des Steuerprüfungsbescheids, außer in den Fällen, in denen der Betreffende eine Sicherheit in Form von Geld, staatlichen Wertpapieren oder einer unbedingten und unwiderruflichen Bankbürgschaft … leistet.
…
(10) Der Erstattung unterliegende Steuer, die ohne Grund oder aus einem weggefallenen Grund (auch bei Aufhebung eines Bescheids) nicht innerhalb der in diesem Gesetz vorgesehenen Fristen erstattet worden ist, wird zusammen mit den gesetzlichen Verzugszinsen erstattet, die unabhängig von Hemmung und Fortlauf der Fristen im Steuerverfahren von dem Tag, an dem die Steuer nach diesem Gesetz hätte erstattet werden müssen, bis zu ihrer endgültigen Zahlung anfallen.“
9 Art. 93 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes in seiner bis 18. Dezember 2007 geltenden Fassung lautete:
„Die Fristen für die Erstattung nach Art. 92 Abs. 1 Nr. 4 sowie Art. 92 Abs. 3 und 4 werden gehemmt:
…
5. im Fall der Einleitung einer Steuerprüfung beim Betreffenden bis zu deren Abschluss innerhalb der Frist nach Art. 114 der Steuer- und Versicherungsprozessordnung.“
10 Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 des Mehrwertsteuergesetzes wurde zum 19. Dezember 2007 aufgehoben.
11 Art. 114 des Gesetzbuchs über die Verfahren in Steuer- und Versicherungssachen lautet:
„(1) Die Frist für die Durchführung der Steuerprüfung beträgt drei Monate und beginnt am Tag der Zustellung der Verfügung über die Anordnung.
(2) Erweist sich die Frist nach Abs. 1 als unzureichend, kann sie von der Behörde, die die Steuerprüfung angeordnet hat, durch Verlängerungsbescheid um bis zu einem Monat verlängert werden.“
12 Art. 117 des Gesetzbuchs über die Verfahren in Steuer- und Versicherungssachen bestimmt:
„(1) Der Steuerprüfungsbericht wird von der prüfenden Einnahmebehörde spätestens 14 Tage nach Ablauf der Frist für die Durchführung der Steuerprüfung erstellt.
…
(5) Die der Steuerprüfung unterliegende Person kann innerhalb von 14 Tagen ab Zustellung des Steuerprüfungsberichts bei den Behörden, die die Steuerprüfung durchgeführt haben, schriftlich Einspruch einlegen und Beweise vorlegen. Ist die Frist unzureichend, wird sie auf Antrag des Betreffenden verlängert, jedoch höchstens um einen Monat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 Am 11. Oktober 2007 gab Enel eine Steuererklärung ab, die als Ergebnis einen von der bulgarischen Finanzverwaltung zu erstattenden Betrag in Höhe von 2 273 514,85 BGN auswies. Dieser Erstattungsbetrag ergab sich daraus, dass der Vorsteuerbetrag den für den betreffenden Besteuerungszeitraum geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag überstieg und Enel nicht in der Lage war, den Vorsteuerabzug in den nachfolgenden Besteuerungszeiträumen vorzunehmen. Nach Art. 92 Abs. 1 Nr. 4 des Mehrwertsteuergesetzes in seiner bis 18. Dezember 2007 geltenden Fassung wäre die Frist, innerhalb deren die Erstattung hätte vorgenommen werden müssen, nämlich 45 Tage, normalerweise am 26. November 2007 abgelaufen, so dass die bulgarische Finanzverwaltung gemäß Art. 92 Abs. 8 des Mehrwertsteuergesetzes ab diesem Tag zur Zahlung von Verzugszinsen verpflichtet gewesen wäre.
14 Am 8. November 2007 war ENEL jedoch ein Bescheid zugestellt worden, mit dem eine Steuerprüfung zur Feststellung der Mehrwertsteuerschulden für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2007 sowie weiterer Steuerschulden für die Jahre 2005 und 2006 angeordnet wurde.
15 Mit Verrechnungs- und Erstattungsbescheid vom 19. Dezember 2007 wurde ein Betrag von 1 364 108,91 BGN der in der Steuererklärung ausgewiesenen Mehrwertsteuer erstattet und am 21. Dezember 2007 auf das Konto der Gesellschaft überwiesen.
16 Über die Steuerprüfung erging am 13. März 2008 ein Bericht, gegen den Enel Einspruch erhob, wobei sie einen Anspruch auf Verzugszinsen auf den bereits erstatteten Betrag von 1 364 108,91 BGN für den Zeitraum vom 27. November 2007 bis 21. Dezember 2007 und auf den noch zu erstattenden Betrag für den Zeitraum vom 27. November 2007 bis zum Tag der tatsächlichen Erstattung geltend machte.
17 Am 29. April 2008 wurde ein Steuerprüfungsbescheid erlassen. Er enthält keine Ausführungen über die Zahlung von Verzugszinsen.
18 Der Enel nach dem Steuerprüfungsbescheid zu erstattende Steuerbetrag wurde mit den um die Verzugszinsen erhöhten Steuerschulden für die Jahre 2005 und 2006, die mit demselben Bescheid festgesetzt worden waren, verrechnet. Am 13. Mai 2008 wurde der Restbetrag in Höhe von 179 092,25 BGN auf das Konto von Enel überwiesen, ohne dass eine Entscheidung über die angefallenen Verzugszinsen getroffen wurde.
19 Am 20. Mai 2008 erhob Enel auf dem Verwaltungsweg Beschwerde gegen den Steuerprüfungsbescheid vom 29. April 2008, mit der sie sich gegen die Festsetzung der Steuerschulden und der darauf entfallenden Verzugszinsen, die Verrechnung dieser Schulden mit den ihr zu erstattenden Beträgen und die stillschweigende Weigerung, ihr die mit dem Einspruch vom 13. März 2008 geltend gemachten Verzugszinsen zu zahlen, wandte.
20 Auf diese Beschwerde hin erließ der Direktor die Entscheidung Nr. 1518 vom 20. Oktober 2008. Aufgrund dieser Entscheidung wurden Verzugszinsen auf den Betrag von 179 092,25 BGN für den Zeitraum vom Erlass des Steuerprüfungsbescheids am 29. April 2008 bis zur tatsächlichen Erstattung dieses Betrags am 13. Mai 2008 zuerkannt. Im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet angesehen.
21 Am 31. Oktober 2008 rief Enel den Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) an und beantragte u. a. die Zahlung von Verzugszinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerbetrag für die Zeit vom 27. November 2007 bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Erstattung des gesamten Betrags.
22 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass für die Entscheidung über diesen Antrag eine Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Sechsten Richtlinie oder der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderlich sei. Im Hinblick auf Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Bulgarischen Republik und Rumäniens und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2005, L 157, S. 203) sowie Anhang VI Kapitel 6 Nr. 1 dieser Akte hält es die Sechste Richtlinie in zeitlicher Hinsicht für anwendbar.
23 Der Administrativen sad Sofia-grad hat daher beschlossen, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 18 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie und Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass sie unter den Umständen des Ausgangsverfahrens erlauben,
1. dass aufgrund einer Gesetzesänderung mit dem Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen die Frist für die Erstattung von Mehrwertsteuer bis zum Tag des Erlasses eines Steuerprüfungsbescheids verlängert wird, weil innerhalb von 45 Tagen ab Abgabe der Steuererklärung eine Steuerprüfung bei dem Betreffenden eingeleitet worden ist, ohne dass für diesen Zeitraum Zinsen auf den der Erstattung unterliegenden Betrag geschuldet werden, wenn zugleich folgende Umstände vorliegen:
a) Vor dieser Änderung war die gesetzlich festgelegte Frist von 45 Tagen für die Steuererstattung abgelaufen und hatte ungeachtet der Einleitung der Steuerprüfung der Lauf der Zinsen auf den zu erstattenden Betrag begonnen;
b) bei der Steuerprüfung wurde die Richtigkeit des ausgewiesenen Steuererstattungsbetrags festgestellt;
c) die einzige rechtliche Möglichkeit, die der Steuerpflichtige hat, um diese Frist zu verkürzen, besteht in der Stellung einer Sicherheit in Form von Geld, staatlichen Wertpapieren oder einer unbedingten und unwiderruflichen Bankbürgschaft für eine bestimmte Dauer in Höhe des der Erstattung unterliegenden Betrags;
2. dass eine Frist für die Erstattung von Mehrwertsteuer mit einer Dauer von 45 Tagen ab dem Tag der Abgabe der Steuererklärung für diese Steuer sowie die rechtliche Möglichkeit ihrer Hemmung und in der Folge auch ihrer Verlängerung durch eine während dieser Frist erfolgende Anordnung einer Steuerprüfung vorgesehen werden, wenn der Besteuerungszeitraum für die Abrechnung dieser Steuer einen Monat umfasst;
3. dass eine Erstattung von Mehrwertsteuer durch Steuerprüfungsbescheid erfolgt, indem der einer Erstattung unterliegende Betrag mit durch denselben Bescheid festgesetzten Mehrwertsteuerschulden und sonstigen Steuerschulden sowie staatlichen Forderungen für verschiedene Besteuerungszeiträume und bis zum Tag des Erlasses des Steuerprüfungsbescheids erhobenen Zinsen auf diese Beträge verrechnet wird, wenn bei der Steuerprüfung die Richtigkeit des ausgewiesenen Steuererstattungsbetrags festgestellt worden ist und zugleich folgende Umstände vorliegen:
a) Im Steuerprüfungsverfahren ist eine vorläufige Sicherung künftiger Forderungen des Staates, die im Laufe des Verfahrens zum Erlass des Steuerprüfungsbescheids festgestellt werden könnten, nicht gewährt worden;
b) die Verrechnung mit Forderungen des Staats ist im nationalen Gesetz nicht als Mittel des zwangsweisen Vollzugs und als Sicherungsmaßnahme vorgesehen;
c) die Fristen für die Anfechtung und die freiwillige Zahlung der verrechneten Hauptbeträge und Zinsen sind nicht abgelaufen, weil diese durch denselben Steuerprüfungsbescheid festgesetzt worden sind, und ein Teil von ihnen ist auch vor Gericht angefochten worden;
4. dass der Staat, wenn die Richtigkeit des in der Steuererklärung ausgewiesenen Steuererstattungsbetrags festgestellt wurde, am Tag des Erlasses des Steuerprüfungsbescheids eine Verrechnung mit durch diesen Bescheid festgesetzten Steuerschulden für Zeiträume vor dem Tag der Abgabe der Erklärung sowie mit Zinsen auf diese Schulden vornimmt statt am Tag der Steuererklärung, wobei der Staat während der gesetzlich festgelegten Frist für die Erstattung des Betrags keine Zinsen schuldet und vom Tag der Abgabe der Erklärung bis zum Erlass des Steuerprüfungsbescheids Zinsen auf die verrechneten Steuern erhebt?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
24 Da sich die Vorlagefragen sowohl auf die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie als auch auf die der Mehrwertsteuerrichtlinie beziehen, ist darauf hinzuweisen, dass sich der maßgebliche Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nach dem 1. Januar 2007 zugetragen hat, dem Zeitpunkt, zu dem die Mehrwertsteuerrichtlinie, wie sich aus ihren Art. 411 und 413 ergibt, in Kraft getreten ist und die Sechste Richtlinie ersetzt hat.
25 Nach Art. 411 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie gelten Verweisungen auf die Sechste Richtlinie als Verweisungen auf die Mehrwertsteuerrichtlinie. Somit kann der Umstand, dass Nr. 6 der Liste nach Art. 20 des Protokolls über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union (ABl. 2005, L 157, S. 29) auf die Sechste Richtlinie verweist, nicht zur Folge haben, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie in Bulgarien ab dem 1. Januar 2007 nicht anwendbar war.
26 Daher kommt es für die Prüfung der Vorlagefragen, die allein die Berechnung von Verzugszinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss zum Gegenstand haben, nur auf die Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere ihres Art. 183, an.
27 Zwar sieht diese Vorschrift, wie die bulgarische Regierung hervorhebt, ihrem Wortlaut nach weder eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss noch den Zeitpunkt vor, ab dem solche Zinsen geschuldet werden.
28 Dieser Umstand allein erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass die betreffende Bestimmung dahin auszulegen ist, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten hinsichtlich der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von jeglicher unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C‑472/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 15).
29 Zum einen fällt nämlich die Durchführung des in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zwar grundsätzlich in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten; dies ändert jedoch nichts daran, dass diese Autonomie durch die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Alstom Power Hydro, Randnr. 17). Ferner müssen die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung bei der Durchführung von Unionsregelungen den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (vgl. Urteil vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Zum anderen ist zu prüfen, inwieweit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei einer Auslegung im Hinblick auf den Regelungszusammenhang und die im Bereich der Mehrwertsteuer geltenden allgemeinen Grundsätze spezifische Regeln enthält, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses beachten müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 30. September 2010, Strabag u. a., C‑314/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 34).
31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die bereits als Vorsteuer die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen belastet hat, nach ständiger Rechtsprechung ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. u. a. Urteile vom 18. Dezember 1997, Molenheide u. a., C‑286/94, C‑340/95, C‑401/95 und C‑47/96, Slg. 1997, I‑7281, Randnr. 47, vom 25. Oktober 2001, Kommission/Italien, C‑78/00, Slg. 2001, I‑8195, Randnr. 28, und vom 10. Juli 2008, Sosnowska, C‑25/07, Slg. 2008, I‑5129, Randnr. 14).
32 Wie der Gerichtshof wiederholt betont hat, ergibt sich daraus, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Insbesondere kann es für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. u. a. Urteile vom 6. Juli 1995, BP Soupergaz, C‑62/93, Slg. 1995, I‑1883, Randnr. 18, vom 18. Dezember 2007, Cedilac, C‑368/06, Slg. 2007, I‑12327, Randnr. 31, und Sosnowska, Randnr. 15).
33 In Bezug auf die nach Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestehende Möglichkeit, vorzusehen, dass der Mehrwertsteuerüberschuss entweder auf den folgenden Besteuerungszeitraum übertragen oder erstattet wird, hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zwar über einen gewissen Spielraum verfügen, dass diese Einzelheiten aber den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (vgl. Urteile Kommission/Italien, Randnrn. 32 bis 34, und Sosnowska, Randnr. 17).
34 Die Vorlagefragen sind demnach unter Berücksichtigung dieser Vorüberlegungen zu prüfen.
Zur ersten Frage
35 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses vorsieht.
36 Dem vorlegenden Gericht zufolge ist die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Ausgangsverfahren am 26. November 2007 abgelaufen. Unter der Geltung der nationalen Regelung, die bis zum 18. Dezember 2007 in Kraft war, wären ab dem 26. November 2007 Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet gewesen, und zwar unabhängig davon, dass am 8. November 2007 ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet worden sei. Nach der am 19. Dezember 2007 in Kraft getretenen nationalen Regelung jedoch hätte ein Steuerprüfungsverfahren zur Folge, dass die Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses und somit der Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen geschuldet würden, bis zur Erstellung eines Prüfungsberichts aufgeschoben würde, der vorliegend erst am 13. März 2008 erging.
37 In Bezug auf die Auslegung der bis zum 18. Dezember 2007 geltenden nationalen Regelung durch das vorlegende Gericht, wonach im Ausgangsverfahren ab dem 27. November 2007 Verzugszinsen geschuldet gewesen seien, weil der Ablauf der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses von einer Steuerprüfung nicht beeinflusst werde, tragen der Direktor und die bulgarische Regierung vor, dass schon vor der Änderung dieser Regelung Verzugszinsen erst mit dem Abschluss des Steuerprüfungsverfahrens geschuldet worden seien, da der Ablauf der betreffenden Erstattungsfrist während dieses Verfahrens gehemmt gewesen sei.
38 Insoweit ist es allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob aufgrund der nationalen Regelung, wie sie bis zum 18. Dezember 2007 in Kraft war, im Ausgangsverfahren seit dem 27. November 2007 Verzugszinsen geschuldet wurden; hingegen ist es Aufgabe des Gerichtshofs, die Vorlagefrage unter Zugrundelegung der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung der nationalen Regelung zu beantworten und dem vorlegenden Gericht alle unionsrechtlichen Auslegungshinweise zu geben, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Februar 2008, Deutsche Shell, C‑293/06, Slg. 2008, I‑1129, Randnrn. 25 und 26, und vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, Slg. 2009, I‑8343, Randnr. 45).
39 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass es vollkommen zulässig ist und prinzipiell im Einklang mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes steht, wenn eine neue Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, angewandt wird (Urteil vom 29. Juni 1999, Butterfly Music, C‑60/98, Slg. 1999, I‑3939, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes lässt es jedoch nicht zu, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung der nationalen Regelung rückwirkend ein auf der Grundlage der früheren Regelung erworbenes Recht genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Marks & Spencer, Randnr. 45).
40 Folglich lässt es in einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht zu, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung des nationalen Rechts rückwirkend der ihm zuvor zustehende Anspruch auf Verzugszinsen auf den ihm zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Marks & Spencer, Randnr. 46).
41 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses vorsieht, soweit durch diese Regelung dem Steuerpflichtigen der ihm vor Inkrafttreten der Regelung zustehende Anspruch auf Verzugszinsen auf den an ihn zu erstattenden Betrag genommen wird.
Zur zweiten Frage
42 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, wonach für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses normalerweise eine Frist von 45 Tagen gilt, nach deren Ende Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden, diese Frist jedoch im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens mit der Folge verlängert wird, dass die Verzugszinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet werden, zu dem das Steuerprüfungsverfahren abgeschlossen ist.
43 Um diese Frage zu beantworten, ist es angezeigt, sich die Besonderheiten der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung in Erinnerung zu rufen.
44 Zunächst sieht diese Regelung ausdrücklich die Zahlung von Verzugszinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss vor. Der Gerichtshof hat daher allein die Frage zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt diese Zinsen nach Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität geschuldet werden.
45 Sodann ist festzustellen, dass die von Art. 183 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumte Möglichkeit, geringfügige Überschüsse weder vorzutragen noch zu erstatten, die erst recht für Zinsen gilt, im Ausgangsverfahren nicht in Rede steht.
46 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren streitige Regelung die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses nur insoweit vorsieht, als dieser Überschuss nicht auf die Steuerbeträge angerechnet werden kann, der für die drei Besteuerungszeiträume zu entrichten ist, die auf den Besteuerungszeitraum folgen, in dem der Überschuss aufgetreten ist; die betreffende Regelung kombiniert somit die beiden in Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Wege für die Rückvergütung des Mehrwertsteuerüberschusses, nämlich die Erstattung und den Vortrag.
47 Was erstens die Kombination von Vortrag und Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses betrifft, ist die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass dieser Überschuss in der Weise rückvergütet wird, dass er vorgetragen und anschließend erstattet wird, zu Recht weder vom vorlegenden Gericht noch von den Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, in Frage gestellt worden. Denn Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sich Erstattung und Vortrag gegenseitig ausschließen. Andernfalls wäre ein Mitgliedstaat, der sich dafür entschieden hat, den Mehrwertsteuerüberschuss im Wege des Vortrags auszugleichen, entgegen den in den Randnrn. 29 bis 33 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätzen daran gehindert, diesen Überschuss zu erstatten, falls in dem Besteuerungszeitraum, auf den er vorgetragen worden ist, der Betrag der zu entrichtenden Steuer nicht ausreicht, damit der betreffende Überschuss ausgeglichen werden kann.
48 Was zweitens den Vortrag des Mehrwertsteuerüberschusses auf die drei dem Zeitraum der Entstehung des Überschusses folgenden Besteuerungszeiträume betrifft, ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten den Überschuss dem Wortlaut von Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie zufolge auf „den folgenden Zeitraum“ vortragen lassen können.
49 Aus diesem Wortlaut kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass der Vortrag, so wie ihn die im Ausgangsverfahren streitige Regelung vorsieht, mit dieser Vorschrift unvereinbar wäre. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass, wie die bulgarische Regierung ausgeführt hat, die betreffende nationale Regelung den Steuerzeitraum, der nach Art. 252 Abs. 2 und 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwischen einem Monat und einem Jahr betragen darf, auf einen Monat festgelegt hat. Unter diesen Umständen beeinträchtigt der Vortrag auf die drei dem Zeitraum der Entstehung des Überschusses folgenden Besteuerungszeiträume für sich genommen nicht die in den Randnrn. 29 bis 33 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze. Denn ein solcher Vortrag, der eine Rückvergütung binnen drei Monaten einschließt, liegt innerhalb des den Mitgliedstaaten eingeräumten Spielraums für die Festlegung der Einzelheiten der Rückvergütung des Mehrwertsteuerüberschusses.
50 Drittens ist hervorzuheben, dass die Erstattung des betreffenden Überschusses nach der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung im Allgemeinen binnen einer Frist von 45 Tagen erfolgt, wobei es sich um eine Frist handelt, die als solche im Einklang mit Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht, und dass ab dem Ende dieser Frist Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden. Leiten die Steuerbehörden jedoch ein Steuerprüfungsverfahren ein, werden diese Zinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet, zu dem dieses Verfahren abgeschlossen ist.
51 Hinsichtlich einer solchen Regelung, wonach die Verpflichtung der bulgarischen Steuerverwaltung zur Zahlung von Zinsen vom Abschluss eines Steuerprüfungsverfahrens abhängt, ist zu beachten, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich gegen die Anforderungen von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt, wenn der Berechnung der von der Staatskasse geschuldeten Zinsen nicht der Tag als Verzinsungsbeginn zugrunde gelegt wird, an dem der Mehrwertsteuerüberschuss gemäß dieser Richtlinie hätte ausgeglichen werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Molenheide u. a., Randnrn. 63 und 64).
52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das normale Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems die genaue Erhebung der Steuer voraussetzt. Denn jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten; hierzu müssen die Mitgliedstaaten die Erklärungen der Steuerpflichtigen, deren Konten und die anderen einschlägigen Unterlagen prüfen und die geschuldete Steuer berechnen und einziehen (Urteil vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C‑188/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 21).
53 Demzufolge kann die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses grundsätzlich verlängert werden, um eine Steuerprüfung vorzunehmen, ohne dass eine solche verlängerte Frist als unangemessen anzusehen ist, sofern die Verlängerung nicht über das für die ordnungsgemäße Durchführung des Steuerprüfungsverfahrens Erforderliche hinausgeht (vgl. entsprechend Urteil Sosnowska, Randnr. 27). Soweit der Steuerpflichtige jedoch über das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital vorübergehend nicht verfügen kann, erleidet er wirtschaftlich einen Nachteil, der sich durch die Zahlung von Zinsen ausgleichen lässt, wodurch gewährleistet ist, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gewahrt wird.
54 Da die im Ausgangsverfahren streitige Regelung den Vortrag und die Erstattung als Wege für den Ausgleich des Mehrwertsteuerüberschusses miteinander kombiniert, muss viertens geprüft werden, ob es mit den in den Randnrn. 29 bis 33 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätzen vereinbar ist, wenn der Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen geschuldet werden, bis zum Abschluss eines Steuerprüfungsverfahrens aufgeschoben wird, obwohl der Überschuss während der drei dem Zeitraum seiner Entstehung folgenden Besteuerungszeiträume bereits Gegenstand eines Vortrags war.
55 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Anwendung der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung nicht nur zur Folge hatte, dass dem Steuerpflichtigen während eines erheblichen Zeitraums, nämlich für ungefähr acht Monate, das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital entzogen wurde, sondern auch, dass der Steuerpflichtige von dem Anspruch auf die normalerweise in Anwendung dieser Regelung geschuldeten Zinsen ausgeschlossen war.
56 Zum anderen ist zu beachten, dass es die betreffende Regelung den Steuerbehörden gestattet, jederzeit, ja sogar kurz bevor die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses fällig wird, eine Steuerprüfung einzuleiten, wodurch es möglich wird, die Frist für die Erstattung erheblich zu verlängern und gleichzeitig den Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag zu zahlen sind, hinauszuschieben.
57 Folglich ist der Steuerpflichtige nicht nur finanziellen Nachteilen ausgesetzt, sondern ihm ist auch unmöglich, den Zeitpunkt vorherzusehen, ab dem er über das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital verfügen kann, wodurch ihm eine zusätzliche Belastung auferlegt wird.
58 Unter diesen Umständen erlauben es die von der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung festgelegten Einzelheiten dem Steuerpflichtigen nicht, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, ohne dass ihm ein finanzielles Risiko entsteht.
59 Es bleibt jedoch noch die Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, wie sich die dem Steuerpflichtigen eingeräumte Möglichkeit, die Erstattungsfrist zu verkürzen, indem er eine Sicherheit in Form von Geld leistet, auf die Bewertung der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung auswirkt.
60 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, eine solche Sicherheit zu leisten, nicht zur Folge haben kann, dass der Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen auf den Betrag des zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschusses geschuldet werden, hinausgeschoben werden darf, bis ein Steuerprüfungsverfahren durchgeführt worden ist. Denn wie der Gerichtshof in Randnr. 32 des Urteils Sosnowska entschieden hat, hat die Verpflichtung, eine solche Sicherheit zu stellen, um die normalerweise anwendbare Frist geltend machen zu können, in Wirklichkeit lediglich die Auswirkung, dass die finanzielle Belastung, die damit verbunden ist, dass das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital blockiert ist, für die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens durch eine finanzielle Belastung in Gestalt der Blockierung des Betrags der Sicherheitsleistung ersetzt wird.
61 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die normale Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von 45 Tagen, nach deren Ablauf Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden, im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens mit der Folge verlängert wird, dass die Verzugszinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet werden, zu dem das Steuerprüfungsverfahren abgeschlossen ist, wenn dieser Überschuss während der drei dem Zeitraum seiner Entstehung folgenden Besteuerungszeiträume bereits Gegenstand eines Vortrags war. Dass die normale Frist 45 Tage beträgt, steht hingegen nicht im Widerspruch zu dieser Vorschrift.
Zur dritten und zur vierten Frage
62 In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage sind die dritte und die vierte Frage, die zusammen zu prüfen sind, als Frage danach zu verstehen, ob Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung entgegensteht.
63 Hierzu ist festzustellen, dass die Verrechnung zum vollständigen oder teilweisen Erlöschen der beiden gegenseitigen Verpflichtungen führt, wodurch es dem Mitgliedstaat ermöglicht wird, seiner Verpflichtung zur Erstattung nachzukommen.
64 Nach der in Randnr. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses über einen gewissen Spielraum, sofern die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dem Steuerpflichtigen kein finanzielles Risiko entsteht.
65 In Anbetracht dieser Grundsätze spricht generell nichts gegen die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung, da auf diesem Wege die Forderung des Steuerpflichtigen sofort getilgt wird, ohne dass dieser einem finanziellen Risiko ausgesetzt wird.
66 Diese Bewertung gilt auch für den Fall, dass der Steuerpflichtige die Forderung des Mitgliedstaats bestreitet, sofern dem Steuerpflichtigen, wie die Europäische Kommission betont, wirksame Rechtsbehelfe offenstehen, um vor Gericht seinen Standpunkt in Bezug auf die staatliche Forderung, die zur Verrechnung herangezogen wird, geltend zu machen.
67 Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung nicht entgegensteht.
Kosten
68 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 geänderten Fassung ist in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses vorsieht, soweit durch diese Regelung dem Steuerpflichtigen der ihm vor dem Inkrafttreten der Regelung zustehende Anspruch auf Verzugszinsen auf den an ihn zu erstattenden Betrag genommen wird.
2. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die normale Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von 45 Tagen, nach deren Ablauf Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden, im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens mit der Folge verlängert wird, dass die Verzugszinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet werden, zu dem das Steuerprüfungsverfahren abgeschlossen ist, wenn dieser Überschuss während der drei dem Zeitraum seiner Entstehung folgenden Besteuerungszeiträume bereits Gegenstand eines Vortrags war. Dass die normale Frist 45 Tage beträgt, steht hingegen nicht im Widerspruch zu dieser Vorschrift.
3. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung nicht entgegensteht.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Bulgarisch.