SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 20. Oktober 2011(1)

Rechtssache C‑507/10

X

gegen

Y

(Vorabentscheidungsersuchen des Giudice delle Indagini Preliminari presso il Tribunale di Firenze [Italien])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen –Rahmenbeschluss 2001/220/JI – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Zeugenaussage von Minderjährigen – Beweissicherungsverfahren – Ablehnung des Antrags auf Durchführung des Beweissicherungsverfahrens beim Ermittlungsrichter durch die Staatsanwaltschaft – Anspruch auf einen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft“






1.        Die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren(2) (im Folgenden: Rahmenbeschluss) gibt weiterhin Anlass zu Zweifeln in Zusammenhang mit seiner Anwendung auf besonders gefährdete Opfer, namentlich Minderjährige. Nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Pupino(3) fragt das Gericht, das damals das Vorabentscheidungsersuchen vorlegte, erneut nach der Reichweite der Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses und nach ihrem Verhältnis zu dem „Beweissicherungsverfahren“ im italienischen Strafprozess, in dem eine Beweisaufnahme vorab in der Ermittlungsphase durchgeführt werden kann, wenn das Opfer minderjährig ist.

2.        Im Einzelnen legt der Giudice per le indagini preliminari di Firenze (im Folgenden: G.I.P.) dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vereinbarkeit der Bestimmungen über das Beweissicherungsverfahren mit dem Rahmenbeschluss vor. Mit der ersten Frage möchte er wissen, ob eine Regelung wie die italienische, nach der die Initiative für die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens allein bei der Staatsanwaltschaft liegt, mit dem Rahmenbeschluss vereinbar ist, soweit die Staatsanwaltschaft auch dann nicht verpflichtet ist, die Beweiserhebung zu beantragen, wenn das minderjährige Opfer sie darum ersucht hat. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Rahmenbeschluss einen Anspruch des minderjährigen Opfers auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen mit Gründen versehene Entscheidungen der Staatsanwaltschaft gewährt, mit denen die Durchführung des von dem minderjährigen Opfer beantragten Beweissicherungsverfahrens abgelehnt wird.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Durch den Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurde eine Schutzregelung zur Harmonisierung der nationalen strafverfahrensrechtlichen Bestimmungen geschaffen. Hierfür wird der Begriff des „Opfers“ in Art. 1 Buchst. a folgendermaßen definiert:

„a) ‚Opfer‘: eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen“.

4.        Art. 2 hebt unter der Überschrift „Achtung und Anerkennung“ die Notwendigkeit hervor, besonders gefährdeten Opfern eine spezifische Behandlung zukommen zu lassen, und hat folgenden Wortlaut:

„(1)       Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.

(2)       Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren.“

5.        Der Anspruch des Opfers auf rechtliches Gehör ist eines der wesentlichen Merkmale, die den in dem Rahmenbeschluss vorgesehenen Status kennzeichnet, durch den ferner eine verhältnismäßige und mit den Verfahrenszielen im Einklang stehende Behandlung gewährleistet wird, die aufwändige Verfahrensschritte vermeidet. So heißt es in Art. 3:

Artikel 3

Vernehmung und Beweiserbringung

Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.

Die Mitgliedstaaten ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen.“

6.        Art. 8 sieht schließlich eine Reihe von Opferschutzrechten vor, darunter das Recht gefährdeter Opfer, unter Bedingungen auszusagen, die ihrer Würde und besonderen Situation Rechnung tragen:

Artikel 8

Recht auf Schutz

(1)       Die Mitgliedstaaten gewährleisten ein angemessenes Schutzniveau für die Opfer und gegebenenfalls ihre Familien oder gleichgestellte Personen, insbesondere hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit und des Schutzes ihrer Privatsphäre, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass die ernste Gefahr von Racheakten besteht oder schlüssige Beweise für eine schwere und absichtliche Störung der Privatsphäre vorliegen.

(2)       Zu diesem Zweck und unbeschadet des Absatzes 4 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass bei Bedarf im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geeignete Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre sowie vor Lichtbildaufnahmen des Opfers, seiner Familienangehörigen oder gleichgestellter Personen getroffen werden können.

(3)       Die Mitgliedstaaten stellen ebenfalls sicher, dass eine Begegnung zwischen Opfern und Tätern an den Gerichtsorten vermieden wird, es sei denn, dass das Strafverfahren dies verlangt. Sofern es zu diesem Zweck erforderlich ist, stellen die Mitgliedstaaten schrittweise sicher, dass an Gerichtsorten separate Warteräume für Opfer vorhanden sind.

(4)       Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Opfern, insbesondere den am meisten gefährdeten, die vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt werden müssen, im Wege gerichtlicher Entscheidungen gestattet werden kann, unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann.“

B –    Nationales Recht

7.        Art. 111 der italienischen Verfassung regelt die Garantien im Strafprozess und hebt u. a. die Bedeutung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens sowie seiner Ausnahmen in Beweiserhebungsverfahren hervor:

Artikel 111

Die Rechtsprechung erfolgt im Wege eines gesetzlich geregelten fairen Verfahrens.

Alle gerichtlichen Verfahren sind in kontradiktorischen Verhandlungen unter Gleichstellung der Parteien vor einem unbeteiligten und unparteiischen Richter zu führen. Eine angemessene Verfahrensdauer wird gesetzlich gewährleistet.

Der Strafprozess unterliegt dem Grundsatz der kontradiktorischen Beweisaufnahme. Die Schuld kann nicht anhand von Aussagen von Personen, die sich aus freien Stücken einer Vernehmung durch den Angeklagten oder dessen Verteidiger bewusst und beständig entzogen haben, nachgewiesen werden.

Die Fälle, in denen die Beweisaufnahme mit der Zustimmung des Angeklagten oder infolge festgestellter objektiver Unmöglichkeit oder auch infolge eines nachweislich rechtswidrigen Verhaltens des Angeklagten nicht in kontradiktorischer Verhandlung durchgeführt wird, werden gesetzlich geregelt.

…“

8.        Art. 112 der italienischen Verfassung betrifft die Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafprozess und sieht vor, dass sie „die Pflicht [hat], das Klagerecht in Strafsachen auszuüben“.

9.        In Art. 392 Abs. 1bis des italienischen Codice di procedura penale (Strafprozessordnung, im Folgenden: CPP)(4) ist die Möglichkeit vorgesehen, ein Beweissicherungsverfahren durchzuführen, um schon während des Ermittlungsverfahrens Beweise sichern und erheben zu können:

„In Verfahren wegen Delikten im Sinne der Artikel 572, 609bis, 609ter, 609quater, 609quinquies, 609octies, 612bis, 600, 600bis, 600ter auch in Zusammenhang mit Pornografie im Sinne der Artikel 600quater.1, 600quinquies, 601 und 602 des Codice penale kann die Staatsanwaltschaft auf [eigene Initiative oder] Antrag des Opfers oder der Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, beantragen, dass minderjährige Personen oder volljährige Opfer auch in anderen als den in Absatz 1 genannten Fällen im Beweissicherungsverfahren vernommen werden.“

10.      Das Recht des Opfers, die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu beantragen, ist in Art. 394 wie folgt niedergelegt:

„(1)       Das Opfer kann bei der Staatsanwaltschaft beantragen, die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu veranlassen.

(2)       Gibt die Staatsanwaltschaft dem Antrag nicht statt, erlässt sie einen mit Gründen versehenen Ablehnungsbescheid, der dem Opfer zuzustellen ist.“

11.      Die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens ist in Art. 398 Abs. 5bis CPP detailliert wie folgt geregelt:

„Im Fall von Beweiserhebungen in Bezug auf Straftaten im Sinne der Artikel 600, 600bis, 600ter auch in Zusammenhang mit Pornografie im Sinne der Artikel 600quater.1, 600quinquies, 601, 602, 609bis, 609ter, 609quater, 609octies und 612bis des Codice penale legt der Richter, wenn sich unter den von der Beweiserhebung betroffenen Personen Minderjährige befinden, durch den Beschluss gemäß Absatz 2 den Ort, die Zeit und besondere Modalitäten der Beweiserhebung fest, sofern die Bedürfnisse dieser Personen dies erforderlich oder angezeigt erscheinen lassen. Zu diesem Zweck kann die Verhandlung an einem anderen Ort als dem Gericht stattfinden, wobei der Richter, soweit vorhanden, spezielle Hilfseinrichtungen oder, wenn dies nicht der Fall ist, den Minderjährigen in dessen Wohnung aufsuchen kann. Die Zeugenaussagen müssen in vollem Umfang mit Mitteln der akustischen oder audiovisuellen Wiedergabe dokumentiert werden. Sind Aufnahmegeräte oder technisches Personal nicht verfügbar, so ist auf Sachverständige oder Gutachter zurückzugreifen. Über die Befragung wird ein zusammenfassendes Protokoll erstellt. Eine Niederschrift der Aufnahme erfolgt nur auf Antrag der Parteien.“

II – Sachverhalt

12.      Herr X und Frau Y, die Eltern der Minderjährigen Z, beendeten im Juni 2007 ihr Zusammenleben. Von da an entstand zwischen beiden eine Konfliktsituation, in der sie sich mehrfach gegenseitig anzeigten. In einer der Anzeigen teilte Frau Y den Behörden ihren Verdacht mit, dass Herr X im Juni 2007 sexuelle Handlungen an der minderjährigen gemeinsamen Tochter vorgenommen habe. Die Schwere der Vorwürfe rechtfertigte die Eröffnung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens beim Giudice delle indagini preliminari (Ermittlungsrichter).

13.      Aus dem Vorlagebeschluss sowie der nationalen Verfahrensakte, die dem Gerichtshof übermittelt wurde, ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft am 8. Mai 2008 beim G.I.P. die Einstellung des Verfahrens beantragt hat, da die Beschuldigung nicht schlüssig sei(5).

14.      Am 27. Mai 2008 erhob die Rechtsanwältin der Geschädigten Beschwerde gegen den Einstellungsantrag der Staatsanwaltschaft. Der G.I.P. gab den Parteien und der Geschädigten Gelegenheit zur Stellungnahme; letztere beantragte, das Beweissicherungsverfahren durchzuführen. Der G.I.P. lehnte einen neuen Einstellungsantrag der Staatsanwaltschaft ab und ordnete die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens an, das in einer Sitzung vom 9. November 2009 stattfand.

15.      Der Verteidiger des Herrn X legte gegen die Entscheidung des G.I.P. über die Anordnung der Durchführung des Beweissicherungsverfahrens Kassationsbeschwerde bei der Corte di cassazione ein, der durch Entscheidung vom 27. Mai 2010 stattgegeben wurde. Die angefochtene Entscheidung wurde ebenso wie sämtliche Handlungen der Durchführung des Beweissicherungsverfahrens für nichtig erklärt.

16.      Am 14. Juli 2010 beantragte die Staatsanwaltschaft erneut die Einstellung des Verfahrens unter Bezugnahme auf die im Rahmen ihres ersten Antrags vorgebrachten Argumente sowie die später beigebrachten Elemente, durch die sich ihrer Ansicht nach an ihrer anfänglichen Sachverhaltswürdigung nichts ändere. Die Rechtsanwältin des Opfers widersetzte sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es fand erneut ein Erörterungstermin statt, nach dem der G.I.P. beschloss, das Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

III – Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

17.      Das Vorabentscheidungsersuchen ging am 25. Oktober 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs ein. Im Rahmen seiner detaillierten Darstellung nimmt das Gericht davon Abstand, die Fragen gesondert zu formulieren. Es ergibt sich daraus jedoch mit genügender Klarheit, dass zwei Fragen gestellt werden, die folgendermaßen formuliert werden können:

1.       Sind die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 392 Abs. 1bis CCP entgegenstehen, soweit nach dieser die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet ist, zu beantragen, dass der Geschädigte bzw. das minderjährige Opfer vor der Hauptverhandlung im Wege der Beweissicherung angehört und vernommen wird, obwohl dieser darum ausdrücklich ersucht hat?

2.       Sind die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Vorschrift wie Art. 394 CCP entgegenstehen, wonach das minderjährige Opfer gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit der sein Antrag auf Vernehmung im Beweissicherungsverfahren abgelehnt wird, keinen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen kann?

18.      Der Verteidiger von Herrn X, die Vertreterin des Opfers des Ausgangsverfahrens, die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, der Republik Irland und der Niederlande sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Kein Beteiligter hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

IV – Vorbemerkungen

19.      Die Fragen des vorlegenden Gerichts bedürfen vorab einiger Klarstellungen im Hinblick auf das italienische Strafverfahren. Die Vorabentscheidungsfrage betrifft das sogenannte Beweissicherungsverfahren, ein Verfahren, das in der Ermittlungsphase vor der Eröffnung der Hauptverhandlung durchgeführt werden kann. Bekanntermaßen ist der Gerichtshof nicht zum ersten Mal mit den Problemen befasst, die das italienische Beweissicherungsverfahren im Zusammenhang mit dem Recht der Union aufwirft. Allerdings ist der Rahmen neu, in den die vorgelegten Fragen sich einfügen, denn sie betreffen die Rolle der Staatsanwaltschaft und die richterliche Kontrolle, der sie infolge ihrer Gesetzesbindung unterliegt.

20.      Trotz der Änderungen des Strafprozessrechts, die sich aus der italienischen Verfassung ergaben, unternahm der Gesetzgeber keine umfassende Reform der Materie vor dem Inkrafttreten des CPP im Jahr 1988, dessen wesentliche Neuerung in der Einführung eines Strafprozesses mit Anklagegrundsatz bestand. Bis dahin orientierte sich der italienische Strafprozess an einem inquisitorisch ausgerichteten Modell, für das vor allem der „Codice Rocco“ aus dem Jahr 1930 stand(6). 

21.      Durch den CPP aus dem Jahr 1988 wurde ein Strafverfahrensablauf eingeführt, der auf einer strikten Trennung zwischen Ermittlungsphase und Hauptverhandlung beruht und in dem während der Phase der Ermittlungen diese der Polizei und Staatsanwaltschaft obliegen(7). Während der Ermittlungsphase werden die Beweismittel zur Stützung der Anklage und der Verteidigung gesammelt und zu den Akten genommen. Nach Eröffnung der Hauptverhandlung tragen die Parteien dem Gericht den Sachverhalt vor, der ihren jeweiligen Standpunkt stützt, wobei sich dieser aus den in der Ermittlungsphase vorgenommenen Ermittlungshandlungen ergeben muss(8). Das Gericht, das in der Sache entscheidet, hat grundsätzlich keinen Zugang zur Gesamtheit der Ermittlungsakten, sondern nur zu den von den Parteien ausgewählten Beweismitteln, die in der Hauptverhandlung zum Beweis zugelassen werden.

22.      Die Starrheit dieses Systems findet ihre Daseinsberechtigung im akkusatorischen Modell, an dem sich der italienische Strafprozess orientiert. Das System strebt ein kontradiktorisches Verfahren und die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung an. Aus diesem Streit soll eine materielle Wahrheit zutage treten, die es dem Gericht ermöglicht, ein bestimmtes Verhalten zu qualifizieren und über den Sachverhalt zu entscheiden. Es geht letztendlich um die Gewährleistung eines strikt am Sachverhalt orientierten Verfahrens, bei dem gleichzeitig die Rechte des Angeklagten garantiert sind(9). 

23.      Der italienische Strafprozess entspricht jedoch nach seinen Merkmalen nicht einem reinen Modell des Anklagegrundsatzes. Kurz nach Inkrafttreten des CPP wurden durch sowohl die Corte constituzionale als auch die ordentlichen Gerichte Verfahrensweisen durchgesetzt oder beibehalten, die eher dem früheren, inquisitorisch ausgerichteten Modell entsprachen. Diese unterschiedliche Beurteilung durch den Gesetzgeber und die Gerichte mündete in eine Reform des Art. 111 der italienischen Verfassung, mit der u. a. die Grundprinzipien eines akkusatorischen Verfahrens verankert wurden und gleichzeitig dem Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum eingeräumt wurde(10). Dieser Spielraum hat eine prozessuale Ausgestaltung ermöglicht, die den italienischen Strafprozess zu einer Zwischenform macht, die durch ihren akkusatorischen Charakter gekennzeichnet ist, aber noch einige Merkmale aufweist, die charakteristisch für das inquisitorisch ausgerichtete Modell sind(11).

24.      Zwei Ausnahmen vom Anklagegrundsatz sind im Hinblick auf das Vorabentscheidungsersuchen von besonderer Bedeutung, da sie die Rolle der Staatsanwaltschaft und die Beibringung von Beweismitteln vor der Eröffnung des Hauptverfahrens betreffen.

25.      In der Ermittlungsphase kommt dem Ermittlungsrichter (dem G.I.P.) eine mehr reaktive als aktive Rolle zu, da sich seine Funktion darauf beschränkt, die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens sicherzustellen und die Rechte des Angeklagten sowie des Opfers zu gewährleisten(12). Weder leitet der G.I.P. die verschiedenen Ermittlungshandlungen, noch greift er in sie ein, denn die Beweiselemente werden förmlich erst in die Hauptverhandlung eingebracht. Diese passive Rolle des G.I.P. macht die Staatsanwaltschaft, die für die Leitung der Ermittlungen(13) und die Anklageerhebung ausschließlich zuständig ist(14), zur wesentlichen Impulsgeberin in der Ermittlungsphase. Art. 409 Abs. 5 CPP bestimmt als Ausnahme vom reinen Anklagemodell, dass der G.I.P. die Staatsanwaltschaft dazu verpflichten kann, „die Anklage zu erheben“, und durchbricht so zur Wahrung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit seine passive Stellung(15). 

26.      Während der Ermittlungen werden die Sachverhaltselemente erforscht, die später Gegenstand der Beweisaufnahme sind, doch obliegt es ausschließlich der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten, sie im Rahmen des Prozesses beizubringen. Von der Regel besteht eine Ausnahme, wenn die Voraussetzungen des Art. 392 CPP vorliegen, nach dem der G.I.P. das Beweissicherungsverfahren durchführen kann. Tatsächlich wird im Wege dieses Verfahrens die vorgezogene Erhebung von Beweisen in der Ermittlungsphase zugelassen, um sie später in der Hauptverhandlung der Würdigung zu unterziehen. Der Grund für diese Bestimmung ist eindeutig: Wenn eine erkennbare Gefahr besteht, dass es unmöglich sein wird, den Beweis in der mündlichen Prozessphase zu erheben, oder wenn es erforderlich ist, die Suche nach der materiellen Wahrheit mit anderen Werten von besonderer Bedeutung miteinander in Einklang zu bringen, kann eine Ausnahme vom Anklagegrundsatz gemacht werden und eine Verfahrenshandlung, die grundsätzlich zur Hauptverhandlung gehört, in das Ermittlungsverfahren vorgezogen werden(16). 

27.      Art. 392 Abs. 1bis ermöglicht die Vorwegnahme der Beweiserhebung, wenn das Opfer einer der dort aufgezählten Straftaten minderjährig ist. Mit dieser Maßnahme soll einerseits verhindert werden, dass die Zeugenaussage des Opfers durch die zwischen den in Frage stehenden Vorgängen und der mündlichen Verhandlung verstrichene Zeit an Wert verliert, und andererseits eine Zeugenvernehmung sichergestellt werden, die der besonderen Gefährdung des Minderjährigen gerecht wird.

28.      Die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens kann durch den G.I.P. nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeklagten angeordnet werden(17). Minderjährigen Opfern räumt der CPP die Befugnis ein, die Staatsanwaltschaft zu ersuchen, das Beweissicherungsverfahren beim G.I.P. zu beantragen. Die Entscheidung über den Antrag auf Durchführung des Beweissicherungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft liegt zwar in deren Ermessen, muss aber immer mit Gründen versehen sein(18), wenngleich das Opfer sie, wenn der Antrag abgelehnt wird, nicht anfechten kann.

29.      Genau an diesem Punkt setzen die beiden Fragen des G.I.P. im vorliegenden Verfahren an, die nacheinander geprüft werden.

V –    Erste Vorlagefrage

30.      Mit seiner ersten Frage fragt der G.I.P. nach der Vereinbarkeit einer Bestimmung wie Art. 392 Abs. 1bis CPP mit den Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses. Konkret wirft nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine Regelung, nach der die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet ist, förmlich die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu beantragen, wenn das minderjährige Opfer darum ersucht hat, im Licht der zitierten Bestimmungen des Unionsrechts Zweifel auf.

31.      Herr X und die Staaten, die in diesem Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht haben, sind der Ansicht, dass zwischen dem italienischen Recht und dem Rahmenbeschluss keine Inkohärenz bestehe. Sie heben übereinstimmend hervor, dass die zitierten Art. 2, 3 und 8 die Mitgliedstaaten selbstverständlich verpflichteten, Maßnahmen zum Erlass gefährdeter Opfer zu treffen, die in einem Strafprozess aussagen müssten, nicht aber die konkret anzuwendenden Modalitäten regelten.

32.      Die Kommission vertritt eine mittlere Position und schließt sich grundsätzlich der zuvor dargestellten These an, jedoch mit einer Ausnahme für den Fall, dass der G.I.P. davon überzeugt sei, dass eine Hauptverhandlung stattfinden werde. In diesem Fall müsse das Beweissicherungsverfahren auf die eine oder andere Weise aufgrund des Rahmenbeschlusses zwingend durchgeführt werden. Nur die Bevollmächtigte des Opfers im Ausgangsverfahren hält die italienische Regelung für rechtswidrig.

33.      Ich werde die Frage in drei Schritten beantworten und mich zuerst auf den besonderen Status, der nach dem Rahmenbeschluss dem minderjährigen Opfer als besonders gefährdetem Opfer zukommt, und die sich daraus ergebenden Wirkungen konzentrieren. Nachdem feststeht, dass dieser Fall hier vorliegt, werde ich die mögliche Reichweite des Rahmenbeschlusses im Hinblick auf Beweissicherungsverfahren in der Ermittlungsphase von Strafverfahren darstellen, die minderjährige Opfer betreffen. Zuletzt werde ich die spezielle Regelung des italienischen Beweissicherungsverfahrens und insbesondere die der Staatsanwaltschaft darin eingeräumten Befugnisse im Licht des dargestellten rechtlichen Kontextes einer Prüfung unterziehen.

34.      An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel ausschließlich die Ermittlungsphase des Strafverfahrens betreffen. Daher bleiben von den gestellten Fragen alle Erwägungen ausgeklammert, die auf der Behandlung basieren, auf die Opfer und insbesondere minderjährige Opfer in anderen Abschnitten des Strafverfahrens Anspruch haben.

A –    Der Rahmenbeschluss 2001/220 und die besonders gefährdeten Opfer

35.      Wenngleich der Rahmenbeschluss eine allgemeine Regelung für sämtliche Opfer im Strafverfahren vorsieht, nimmt Art. 2 Abs. 1 gesondert Bezug auf „besonders gefährdete Opfer“, denen die Mitgliedstaaten „eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung“ gewährleisten. Diese Vorschrift, die systematisch in der Einleitung des Rahmenbeschlusses angesiedelt wurde, ist Ausdruck eines Grundgedankens, der seinen gesamten Wortlaut prägt. Demnach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine unterschiedliche Behandlung zugunsten besonders gefährdeter Opfer vorzusehen und jede Maßnahme zu vermeiden, die zu einer willkürlichen Gleichstellung führt und nicht auf die besondere Situation abstellt, der sie ausgesetzt sind. Unter dem Aspekt der Wirkungen dieses Konzepts lässt sich feststellen, dass durch den Rahmenbeschluss ein höherer Schutzstandard eingeführt wird, soweit eine nationale Maßnahme ein besonders gefährdetes Opfer betrifft(19). 

36.      Bekanntlich wird der Begriff des „besonders gefährdeten Opfers“ im Unionsrecht nicht definiert. Es handelt sich dabei um eine bewusste Entscheidung des europäischen Gesetzgebers, mit der eine flexible Anwendung des Rahmenbeschlusses angestrebt wird(20). Bei minderjährigen Opfern bestehen jedoch hinsichtlich ihrer Einstufung als „besonders gefährdete Opfer“ keine Zweifel. Dies hat der Gerichtshof im Urteil Pupino(21) festgestellt, in dem er die detaillierte Argumentation von Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in dieser Rechtssache übernahm(22). In dem Urteil hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „der Umstand, dass das Opfer einer Straftat minderjährig ist, im Allgemeinen ausreicht, um ein solches Opfer als besonders gefährdet im Sinne des Rahmenbeschlusses einzustufen“(23). 

37.      In der vorliegenden Rechtssache sind daher die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses unter Berücksichtigung des hohen Schutzniveaus auszulegen, das besonders gefährdeten Opfern zugutekommt, zu denen unzweifelhaft die Geschädigte im Ausgangsverfahren gehört, die angeblich im Alter von fünf Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Diese Besonderheit muss im Verlauf der nachstehenden Erwägungen präsent bleiben, da sie eine der verschiedenen Größen darstellt, die gegeneinander abzuwägen sind, um eine sachgerechte Antwort geben zu können.

B –    Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220 und die Maßnahmen zur Beweissicherung in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens

38.      An diesem Punkt soll, bevor auf die einzelnen Aspekte des italienischen Beweissicherungsverfahrens eingegangen wird, klargestellt werden, unter welchen Voraussetzungen der Rahmenbeschluss auf nationale Maßnahmen zur Vorwegnahme der Beweisaufnahme in der Ermittlungsphase eines Strafverfahrens anwendbar ist. Es wird sich zeigen, dass er eine allgemeine Verpflichtung beinhaltet, nach der die Mitgliedstaaten die besonderen Umstände gefährdeter Opfer berücksichtigen müssen, deren Aussage in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung erforderlich ist. Der rechtliche Rahmen der Union einschließlich des Primärrechts und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigen, dass eine Verpflichtung besteht, solche Maßnahmen zu gewährleisten, und räumen den Mitgliedstaaten gleichzeitig einen weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum ein.

39.      Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet die Mitgliedstaaten, „die gebotenen Maßnahmen“ zu ergreifen, damit ihre Behörden Opfer „nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang“ befragen. In Anbetracht der Wiederholung des Begriffs „erforderlich“ wird klar, dass Art. 3 Ausdruck einer Verpflichtung zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist, die den Mitgliedstaaten auferlegt wird, die die geeigneten und erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, die sich aus der Abwägung sämtlicher betroffener Aspekte ergeben. Die Bestimmung bezieht sich auch nicht auf die verschiedenen Abschnitte des Strafverfahrens, sondern beschränkt sich auf eine generelle und auf das gesamte Verfahren anwendbare Vorgabe.

40.      Art. 8 des Rahmenbeschlusses ist eine lex specialis gegenüber dem zuvor zitierten Art. 3. Er bezieht sich auf einen Schutzstandard unter dem Aspekt der Sicherheit und der Privatsphäre des Opfers. In Abs. 4 wird dabei näher die Verpflichtung der Mitgliedstaaten statuiert, dafür zu sorgen, dass die am meisten gefährdeten Opfer „vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt“ werden. Zur Gewährleistung dieses Schutzes begründet die Bestimmung das Recht, „unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen [dieser Schutz] erreicht werden kann“. Deshalb wählt der Rahmenbeschluss im Hinblick auf den Fall, in dem das Opfer als Zeuge an der öffentlichen Gerichtsverhandlung teilnimmt, eine wesentlich stärker akzentuierte Sprache, und sein Wortlaut nähert sich hier einem Recht des Opfers. Allerdings ist hervorzuheben, dass dies erneut unter Einräumung eines weiten Handlungsspielraums für die Mitgliedstaaten (er bezieht sich auf „geeignete Mittel“) und unter einem Vorbehalt erfolgt: den „Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung“.

41.      Der Gerichtshof hatte nur eine, wenngleich relevante Gelegenheit, die Reichweite der Art. 3 und 8 des Rahmenbeschlusses in Fällen auszulegen, in denen minderjährige Opfer betroffen waren, nämlich in dem berühmten Urteil Pupino(24). In Randnr. 56 der Entscheidung nahm der Gerichtshof zu der Verpflichtung Stellung, die die Mitgliedstaaten aufgrund der zitierten Bestimmungen trifft, und führte aus, dass „die Verwirklichung der mit den genannten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziele [verlangt], dass ein nationales Gericht die Möglichkeit hat, bei besonders gefährdeten Opfern ein spezielles Verfahren wie das in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats vorgesehene Beweissicherungsverfahren … anzuwenden“(25). Sodann wird in dem Urteil ausgeführt, dass dieses Verfahren angezeigt ist, wenn es „der Situation dieser Opfer am besten entspricht und geboten ist, um den Verlust von Beweismitteln zu verhindern, wiederholte Befragungen auf ein Minimum zu reduzieren und nachteilige Folgen der Aussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung für diese Opfer zu verhindern“.

42.      Hervorzuheben ist, dass das vom Gerichtshof genannte „Erfordernis“ sich ausschließlich auf die „Möglichkeit“ bezieht, dass das Gericht ein besonderes Verfahren zur Sicherung oder Vorwegnahme der Beweiserhebung anwendet. Es wird keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründet, ein Beweissicherungsverfahren wie im italienischen Recht vorzusehen. Indem es diese Terminologie verwendet, legt das Urteil Nachdruck auf die Bedeutung, die nach dem Rahmenbeschluss dem Umstand zukommt, dass die Mitgliedstaaten eine spezielle Behandlung besonders gefährdeter Opfer vorsehen, sei es mittels des geschriebenes Rechts, sei es in allgemeiner Form in der gerichtlichen Praxis. Es wird jedoch zu keinem Zeitpunkt erklärt, dass das Beweissicherungsverfahren das einzige Verfahren ist, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann.

43.      Diese Schlussfolgerung wird durch das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof in der Rechtssache Pupino kam, nicht widerlegt. Bekanntermaßen wurde im Tenor des Urteils festgestellt, dass eine Regelung wie die italienische, mit der das Beweissicherungsverfahren nur auf eine geringe Zahl von Straftaten beschränkt wird, nicht mit dem Rahmenbeschluss vereinbar ist.

44.      Bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit der italienischen Regelung nahm der Gerichtshof keine weite Auslegung des Rahmenbeschlusses vor, die zu einer Ausweitung des Beweissicherungsverfahrens auf die gesamte Union geführt hätte. Ich bin der Auffassung, dass der dem Urteil in der Rechtssache Pupino zugrunde liegende und entscheidende Grund in der Unmöglichkeit lag, in der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, das Beweissicherungsverfahren nur für Sexualdelikte zum Nachteil minderjähriger Opfer vorzusehen, eine rationale Wahl zu erkennen. Das italienische Recht stand nicht in Rede, weil es ein bestimmtes Verfahren vorsah oder nicht vorsah, sondern weil dieses Verfahren für Verfahren wegen bestimmter Straftaten wie dem sexuellen Missbrauch, nicht aber wegen anderer wie Körperverletzungen vorgesehen war. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass durch diese Ausgestaltung ohne Rechtfertigung einer großen Zahl von besonders gefährdeten Opfern eine prozessuale Vorkehrung versagt blieb, die ihrem besonderen Status gerecht wurde(26). 

45.      Der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten ist jedoch weiter, wenn sie andere schutzwürdige Interessen verfolgen, wie im Fall der Politiken zum Schutz der Rechte anderer Personen als des Opfers. Dies hat der Gerichtshof im Urteil Gueye entschieden, in dem er die Möglichkeit bejahte, das Recht auf Anhörung des gefährdeten Opfers zu beschränken, wenn dies aus Gründen des Allgemeininteresses wie der Bekämpfung der häuslichen Gewalt gerechtfertigt ist(27). 

46.      Abschließend ist auf Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte hinzuweisen, in dem niedergelegt ist, dass die Meinung der Kinder „in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt“ wird. Der Wortlaut ist, wie sich den Erläuterungen zur Charta entnehmen lässt, von Art. 12 des Übereinkommens von New York über die Rechte des Kindes(28) inspiriert, das alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben und dessen Inhalt dem des in der Unionsbestimmung vorgesehenen Rechts praktisch entspricht(29). Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Bestimmungen (der aber keinesfalls einen Widerspruch darstellt) besteht in Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens, durch den, nachdem das Recht des Kindes, seine Meinung zu äußern und gehört zu werden, anerkannt wurde, hinzugefügt wird, dass „… dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben [wird], in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden“.

47.      Folglich enthält Art. 24 Abs. 1 der Charta im Hinblick auf den Aspekt, dass die Meinung des Kindes im Hinblick auf seine besondere Situation berücksichtigt wird, eine gerichtliche Dimension. Aus seiner Auslegung im Licht des Übereinkommens von New York ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Bedürfnisse der minderjährigen Opfer zu berücksichtigen, wenn sie vor einem Gericht aussagen sollen. Allerdings verlangen weder die Charta noch das Übereinkommen von den Mitgliedstaaten, auf eine bestimmte Art und Weise tätig zu werden. Das Mandat des Art. 24 ist darauf beschränkt, dass die Schutzmaßnahmen existieren, während die Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet über ein weites Ermessen verfügen.

48.      Diesen Ansatz hat der Gerichtshof in den wenigen bislang zu Art. 24 der Charta ergangenen Urteilen bestätigt. Es ist dies der Fall beim Urteil Aguirre Zarraga(30), einer Rechtssache, in der es um das Recht einer Minderjährigen ging, in einem Zivilprozess über das Sorgerecht für einen Minderjährigen angehört zu werden. Ebenso wie im Urteil Pupino wiederholte der Gerichtshof, dass das Recht der Union zwar verlangt, dass Verfahren zum Schutz der Rechte Minderjähriger in gerichtlichen Verfahren vorgesehen sind, nicht aber ein spezifisches. So wird in dem Urteil festgestellt, dass die Mitgliedstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügen, um abwägen zu können, welche Maßnahmen im konkreten Fall geeignet sind(31). Entsprechend dieser Feststellung fügt der Gerichtshof abschließend hinzu, dass trotz des Wortlauts des Art. 24 der Charta „[d]ie Anhörung [des Minderjährigen] … somit … keine absolute Verpflichtung darstellen [kann], sondern … Gegenstand einer Beurteilung jedes Einzelfalls anhand der mit dem Wohl des Kindes zusammenhängenden Erfordernisse sein [muss]“(32).

49.      Der Rahmenbeschluss wurde zwar vor dem Inkrafttreten der Charta angenommen, muss aber anhand der dort niedergelegten Grundrechte ausgelegt werden(33). Wie soeben dargelegt wurde, stimmen die zitierten Rechtstexte bei einer harmonischen Auslegung immer im Hinblick auf dieselbe Prämisse überein: Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, spezifische Maßnahmen als Antwort auf die besonderen Bedürfnisse minderjähriger Opfer in Gerichtsverfahren einzuführen. Keine der untersuchten Bestimmungen schreibt jedoch ein konkretes und genau bezeichnetes Verfahren vor, sondern sie räumen den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen ein, das nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Gerichte leiten muss.

50.      Vor dem Hintergrund dieses normativen Kontexts können wir uns nun mit dem spezifischen Problem dieser Rechtssache beschäftigen. Die Frage, die der G.I.P. stellt, betrifft nicht die Existenz des Beweissicherungsverfahrens, denn es ist für einen Fall wie dem vorliegenden vorgesehen, sondern seine prozessuale Ausgestaltung und insbesondere den geringeren oder größeren Einfluss des Opfers oder des Ermittlungsrichters auf die Entscheidung über die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens. Mit anderen Worten: Es muss geprüft werden, ob es sich um Maßnahmen handelt, die den Zugang des Opfers zum Beweissicherungsverfahren übermäßig erschweren. Offenkundig kann der Rahmenbeschluss durch einen Mitgliedstaat verletzt werden, wenn dieser Voraussetzungen festlegt, die so belastend sind, dass sie für das gefährdete Opfer einer Beseitigung jeglichen besonderen Verfahrens zur Zeugeneinvernahme gleichkommen. Es ist nunmehr festzustellen, ob die streitige italienische Regelung zu einem solchen Ergebnis führt.

C –    Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, beim G.I.P. die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu beantragen

51.      Zusammenfassend hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der italienischen prozessualen Regelung mit den Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses, denn das Beweissicherungsverfahren kann, selbst wenn das minderjährige Opfer ausdrücklich seinen Willen zugunsten seiner Durchführung geäußert hat, nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden. Der G.I.P. ist nicht befugt, von Amts wegen die Durchführung des Verfahrens anzuordnen, aber auch das Opfer kann sie bei ihm nicht unmittelbar beantragen, sondern muss sich notwendig an die Staatsanwaltschaft wenden, damit diese den entsprechenden Antrag beim Richter stellt. Dieses Problem stellt nach Ansicht des ersuchenden Gerichts ein „Problem der Vernunftwidrigkeit von Art. 392 Abs. 1bis und Art. 398 CPP“ dar, denn die Staatsanwaltschaft ist zwar verpflichtet, Anklage zu erheben (und das Gericht kann sie sogar dazu zwingen), nicht aber, das Beweissicherungsverfahren zu beantragen.

52.      Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine detaillierte Auslegung von Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses. In der Tat sieht diese Bestimmung im Hinblick auf die Aussage minderjähriger Zeugen in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung vor, dass die Mitgliedstaaten dafür „sorgen …, dass [gefährdeten] Opfern, … die … geschützt werden müssen“, Mittel zur Verfügung stehen, damit das Opfer „unter Bedingungen [aussagen kann], unter denen dieses Ziel erreicht werden kann“. Die Bestimmung enthält darüber hinaus zwei bedeutende Präzisierungen. Die erste betrifft das Organ sowie die Form, die die einschlägige Entscheidung annehmen muss, denn die Vorschrift bestimmt, dass das Verfahren „im Wege gerichtlicher Entscheidungen“ angeordnet wird(34). Die zweite Bestimmung wirkt als Grenze, denn das Verfahren muss nur gewährleistet sein, soweit es „unter Einsatz geeigneter Mittel“ durchgeführt wird, „die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind“, also mit dem nationalen Recht. Folglich verpflichtet der Rahmenbeschluss die Mitgliedstaaten, die Zuständigkeit für das Beweissicherungsverfahren einem öffentlichen Organ zuzuweisen, das „gerichtlich“ sein muss, verlangt aber auch bestimmte Schutzvorkehrungen zugunsten des jeweiligen Rechtssystems. Der Schutz des gefährdeten Opfers ist vorrangig, aber in Bezug auf das geeignete Verfahren zur Gewährleistung seines Schutzes haben die nationalen Behörden ein weites Ermessen.

53.      Im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses wird ausgeführt, dass seine Bestimmungen „den Mitgliedstaaten jedoch nicht die Verpflichtung [auferlegen], zu gewährleisten, dass Opfer den Prozessparteien gleichgestellt werden“. Diese Präzisierung steht im Einklang mit Art. 8, denn der Rechtsanwender wird durch sie daran erinnert, dass die Stellung des Opfers zwar eines besonderen Schutzes bedarf, deshalb aber keine Verpflichtung begründet wird, seinen Status dem der Staatsanwaltschaft anzugleichen. In einem akkusatorischen System wie dem italienischen würde die Entscheidung, die Anklage ausschließlich einem unabhängigen und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit unterliegenden Organ zuzuweisen, entwertet, wenn über ein Gesetzgebungsinstrument der Union dem Opfer eine Stellung zuerkannt würde, die der der Staatsanwaltschaft entspricht. Weder liegt dem Rahmenbeschluss das Modell einer auf Vergeltung zielenden Strafgerichtsbarkeit zugrunde, noch ergibt sich aus seinen Vorarbeiten das Gegenteil: Die Portugiesische Republik hat, als sie dem Rat den Entwurf vorschlug, der der jetzigen Regelung zugrunde liegt, zu keiner Zeit die Notwendigkeit angesprochen, dem Opfer eine impulsgebende Funktion in sämtlichen Strafprozessen in den Mitgliedstaaten einzuräumen(35). Folglich wird, wenn Art. 8 verlangt, dass die Entscheidung über die Durchführung eines spezifischen Verfahrens im Wege „gerichtlicher Entscheidungen“ ergehen muss, und immer in dem von den Grundprinzipien der Rechtsordnung vorgegebenen Raum, daran erinnert, dass das Opfer Gegenstand des Schutzes ist, nicht aber Inhaber der Befugnisse, die auf seinen Schutz gerichtet sind. Diese Befugnisse obliegen den Justizbehörden, zu denen im italienischen Recht auch die Staatsanwaltschaft gehört(36). 

54.      Nach Darstellung des anwendbaren rechtlichen Rahmens wenden wir uns nun der Frage zu, ob die Bestimmungen über das Beweissicherungsverfahren mit dem Rahmenbeschluss vereinbar sind.

55.      Gemäß Art. 394 CPP kann sich das Opfer an die Staatsanwaltschaft wenden und beantragen, dass diese beim G.I.P. um die Anordnung der Maßnahme ersucht. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft muss in jedem Fall mit einer Begründung versehen sein, womit bei einer Zurückweisung des Antrags des Opfers die Gründe für diese Entscheidung anzugeben sind. Die Staatsanwaltschaft unterliegt darüber hinaus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und hat die in der Verfassung niedergelegte Pflicht, das Klagerecht in Strafsachen auszuüben(37). Die Funktion der Staatsanwaltschaft besteht in der Wahrung der Gesetzmäßigkeit. Sie übt diesen Auftrag in völliger Unabhängigkeit aus und verfügt dafür über einen durch die Verfassung und die Gesetze geschützten Status(38). Im Rahmen der Wahrung der Gesetzmäßigkeit berücksichtigt die Staatsanwaltschaft logischerweise die spezifische Situation der am meisten gefährdeten Opfer. Als unabhängige Justizbehörde, die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit unterliegt, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, das übergeordnete Interesse der Minderjährigen zu schützen. Von diesem Standpunkt aus handelt es sich bei ihr um ein Organ, das als Garant der Gesetzmäßigkeit das minderjährige Opfer während des Strafprozesses schützt(39).

56.      Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft einzige Adressatin des Antrags des minderjährigen Opfers auf Durchführung des Beweissicherungsverfahrens ist, bestätigt die vorstehende Beurteilung. Da das italienische Recht der Staatsanwaltschaft die Aufgabe zuweist, die übergeordneten Interessen des Minderjährigen zu vertreten, entscheidet sie im Sinne dieses Interesses darüber, ob es angebracht ist, formell die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu beantragen. Insofern stellt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft eine „gerichtliche Entscheidung“ im Sinne des Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses dar. Dieser Begriff ist, wie bereits hervorgehoben wurde, unter Berücksichtigung der Grundprinzipien der jeweiligen Rechtsordnung weit auszulegen(40). So hat das italienische Recht der Staatsanwaltschaft neben anderen Aufgaben die Funktion eines Garanten des Opfers bei seiner Aussage in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zugewiesen. Indem dies zugunsten der Staatsanwaltschaft erfolgte, einem unabhängigen, allein an das Gesetz gebundenen Organ, das das Recht des Opfers, zur Zweckmäßigkeit der Durchführung des Verfahrens angehört zu werden, beachten und hierüber begründet entscheiden muss, hat das nationale Recht eine ausgeglichene Abwägung vorgenommen, die grundsätzlich die Ziele und Bestimmungen des Rahmenbeschlusses berücksichtigt.

57.      Dies gilt umso mehr, wenn man auf die Besonderheiten des italienischen Strafprozessmodells abstellt, die aufgrund des so häufig zitierten Art. 8 Abs. 4 zu berücksichtigen sind. Wenn dieser verlangt, dass die Opfer im Rahmen spezifischer Verfahren aussagen können, sofern diese „mit den Grundprinzipien ihrer [innerstaatlichen] Rechtsordnung vereinbar sind“, wird damit die Bedeutung der Grundrechte, aber auch der nationalen verfahrensrechtlichen und insbesondere der strafverfahrensrechtlichen Traditionen hervorgehoben. Diese Begrenzung wird derzeit in allgemeiner Weise und für den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch Art. 67 Abs. 1 AEUV zum Ausdruck gebracht, nach dem die Union einen Raum bildet, „in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“. Durch den Rahmenbeschluss, der gemäß den Rechtsgrundlagen für die in Frage stehende Politik erlassen wurde, wird dieses Mandat unter Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Rechtsordnungen erfüllt.

58.      Für Italien ist daran zu erinnern, dass das Beweissicherungsverfahren eine Ausnahme vom Anklagegrundsatz darstellt und als solches in Art. 111 der Verfassung eine spezifische Regelung erfahren hat(41). Die Möglichkeit der Sicherung oder der Vorwegnahme der Beweiserhebung im Strafprozess ist eine Maßnahme, die die meisten nationalen Rechtsordnungen vorsehen, aber ihre Praxis geht einher mit zahlreichen Vorbehalten zum Schutz der Rechte des Angeklagten. Dieses Spannungsverhältnis, dem ein Modell der Strafjustiz zugrunde liegt, das vom Unionsrecht nicht in Frage gestellt wird, verlangt einen Ausgleich zwischen der Effizienz bei der Suche nach der materiellen Wahrheit, dem Schutz des übergeordneten Interesses des gefährdeten Opfers und den Grundrechten des Angeklagten. All diesen Faktoren trägt das italienische Recht im Rahmen der Regelung des Beweissicherungsverfahrens Rechnung, so dass ich der Auffassung bin, dass die genannten Bestimmungen weder zum Wortlaut noch den Zielen der Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses im Widerspruch stehen.

59.      Bevor ich zum Schluss komme, ist auf das Argument der Kommission einzugehen, nach dem gegen den Rahmenbeschluss verstoßen wird, wenn der G.I.P. die Gewissheit hat, dass die mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Die These der Kommission geht von zwei Szenarien aus. Das erste stellt sich bei der Durchführung der Hauptverhandlung, in der sich nach Ansicht der Kommission das minderjährige Opfer schädlichen Konsequenzen, die nicht mit dem Rahmenbeschluss zu vereinbaren sind, ausgesetzt sieht. Das zweite Szenario stellt sich vor Beginn der Hauptverhandlung, sofern der G.I.P. die Gewissheit hat, dass sie durchgeführt wird.

60.      Im ersten Fall irrt die Kommission, wenn sie ohne Weiteres ausführt, das die Hauptverhandlung schädliche Folgen für das minderjährige Opfer nach sich ziehe, denn im italienischen Recht sind, wie die Regierung der Republik Italien in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben hat, spezifische Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Opfer in dieser Phase des Verfahrens vorgesehen. Es kann nicht kategorisch behauptet werden, dass die Aussage des minderjährigen Opfers in der Hauptverhandlung gegen den Rahmenbeschluss verstoße. Darüber hinaus geht es im vorliegenden Verfahren nicht um die Stellung des Opfers in der Hauptverhandlung, sondern in der Phase vor Beginn der Hauptverhandlung. Daher ist dieser Teil des Einwands der Kommission zurückzuweisen.

61.      Auf den zweiten Fall, den die Kommission beschreibt, muss hingegen genauer eingegangen werden. Tatsächlich kann es unter Umständen wie im vorliegenden Fall und in der vor der Hauptverhandlung liegenden Phase dazu kommen, dass die Weigerung der Staatsanwaltschaft, die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu beantragen, mit der Entscheidung, die kontradiktorische Phase einzuleiten, oder mit einer Entscheidung, für die der Richter zuständig ist und die erkennen lässt, dass das Verfahren fortgesetzt wird, kollidiert. In diesem Kontext könnte die Ablehnung der Durchführung des Beweissicherungsverfahrens zu einem Verstoß gegen den Rahmenbeschluss führen. Folglich ist es erforderlich, detailliert zu prüfen, ob es in der Phase vor der Hauptverhandlung im italienischen Strafprozess zu einer derartigen Konstellation kommen kann.

62.      Im italienischen Recht führt die Erhebung der Anklage nicht automatisch zur Eröffnung der Hauptverhandlung. Zu diesem Ergebnis käme es nur, wenn der Giudice dell'udienza preliminare, ein Einzelrichter, der sich vom Giudice per le indagini preliminari unterscheidet(42), die Beteiligten in öffentlicher Sitzung anhört, den Tatvorwurf prüft und die Hauptverhandlung eröffnet(43). Zwischen der Anklageerhebung und dem Beginn der Hauptverhandlung liegt mithin eine Zeitspanne, in der das Beweissicherungsverfahren noch beantragt werden kann(44). Wenn der G.I.P. die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung auffordert, beginnt das Anhörungsverfahren, das in eine Entscheidung über die Einleitung des Hauptverfahrens mündet(45). In dieser Zeitspanne erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren schließlich durchgeführt wird. Bestehen Zweifel an der Konsistenz des die Anklage stützenden Sachverhalts, ist zudem das geeignete Forum zur Klärung aller Zweifel die Hauptverhandlung. In diesem Zusammenhang ist an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den positiven Pflichten des Staats und insbesondere der Staatsanwaltschaft in Fällen zu erinnern, in denen gefährdete Opfer beteiligt sind und die Ermittlungen infolge von Zweifeln an dem Sachverhalt beendet werden, der eigentlich durch ein Gericht zu klären wäre(46). Folglich ist es, wenn die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung aufgefordert wurde und die Möglichkeit besteht, dass der Giudice dell'udienza preliminare die Eröffnung der Hauptverhandlung anordnet, vorhersehbar und sogar folgerichtig, dass die Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des minderjährigen Opfers folgt und die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens beantragt.

63.      Dieses Ergebnis scheint der Kommission vorzuschweben, wenn sie ausführt, dass die italienische Regelung mit dem Rahmenbeschluss unvereinbar sei, wenn der G.I.P. die Gewissheit habe, dass die Hauptverhandlung eröffnet werde. Allerdings können weder der G.I.P. noch die Staatsanwaltschaft insoweit eine absolute Gewissheit haben, denn für die Entscheidung ist ausschließlich der Giudice dell'udienza preliminare zuständig. Es ist jedoch offenkundig, dass die Staatsanwaltschaft als Garantin der Gesetzmäßigkeit und Verteidigerin des übergeordneten Interesses des Minderjährigen in den meisten Fällen keine andere Wahl hat, als das Beweissicherungsverfahren zu beantragen, wenn sie zur Anklageerhebung aufgefordert wurde.

64.      Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist es jedoch, wie ich in Nr. 34 dieser Schlussanträge ausgeführt habe, nicht erforderlich, auf die Auswirkungen des Rahmenbeschlusses in späteren Phasen des Verfahrens einzugehen, die bereits nicht mehr in die Zuständigkeit des G.I.P. fallen. Obwohl der von der Kommission angeführte Fall zu berechtigten Zweifeln an der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Vorschriften mit dem Rahmenbeschluss führen kann, bin ich daher der Ansicht, dass der Gerichtshof die spezifische Frage, die in diesem Verfahren gestellt wurde, beantworten muss, die einzig und allein die Ermittlungsphase betrifft.

65.      Folglich und im Ergebnis der oben dargelegten Argumente schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie Art. 394 CPP entgegenstehen, die der Staatsanwaltschaft nicht die Verpflichtung auferlegt, auf ausdrückliches Ersuchen des minderjährigen Opfers zu beantragen, dass dieses im Wege der Beweissicherung in der Ermittlungsphase angehört und vernommen wird.

VI – Zweite Vorlagefrage

66.      Sodann fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses einer Regelung wie Art. 394 CPP entgegenstehen, nach der das minderjährige Opfer gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit der sein Antrag auf Vernehmung im Beweissicherungsverfahren abgelehnt wird, keinen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen kann. Wie sogleich dargelegt wird, ergibt sich die Antwort auf diese Frage mittelbar aus der Antwort, die ich für die erste Frage vorschlage.

67.      In der Tat weist, wie oben dargestellt wurde, die italienische Regelung der Staatsanwaltschaft bei der Beantragung des Beweissicherungsverfahrens eine herausragende Rolle zu. Anders als der Angeklagte, der ebenfalls befugt ist, dieses Verfahren zu beantragen, kann die Staatsanwaltschaft vom minderjährigen Opfer ersucht werden, beim G.I.P. die Durchführung des Verfahrens zu beantragen. Es wurde bereits gesagt, dass die Staatsanwaltschaft eine Art Schutzrolle gegenüber dem Opfer innehat, wenn sie über die Zweckmäßigkeit des Antrags entscheidet. Diese Befugnisse unterliegen notwendig ihrem Ermessen, denn jeder Fall erfordert eine detaillierte Prüfung, insbesondere wenn Interessen und Werte von besonderer Relevanz betroffen sind, was immer der Fall ist, wenn das Opfer minderjährig ist. In diesen Fällen kann sich die Relevanz der Funktion der Staatsanwaltschaft sogar noch erhöhen, denn es ist üblich, dass das minderjährige Opfer durch einen gesetzlichen Vertreter handelt, wie es im vorliegenden Fall auch tatsächlich der Fall ist. Unter solchen Voraussetzungen gewährleistet und betreibt die Staatsanwaltschaft die berechtigten Initiativen des minderjährigen Opfers und überprüft gleichzeitig jeden Antrag, um zu vermeiden, dass das Verfahren für Zwecke instrumentalisiert wird, die mit ihm nichts zu tun haben(47). 

68.      Unter diesen Voraussetzungen erscheint es vernünftig, dass der italienische Gesetzgeber die Staatsanwaltschaft zumindest dazu verpflichtet, ihre Entscheidung über den Antrag auf das Beweissicherungsverfahren zu begründen, auch wenn diese Entscheidung nicht anfechtbar ist. Diese Vorschrift macht das Verfahren transparent und ist kohärent mit den Rechten des Angeklagten, gewährleistet aber auch das Recht des Opfers, über alle Verfahrenshandlungen unterrichtet zu werden, die es betreffen. Darüber hinaus wird dadurch, dass das Opfer vom G.I.P. angehört werden kann, wenn die Einstellung des Verfahrens beantragt wird, gewährleistet, dass es den Argumenten der Staatsanwaltschaft widersprechen kann. Im Ergebnis besteht die Möglichkeit, wie oben bereits dargelegt wurde, dass der G.I.P. die Staatsanwaltschaft zur Erhebung der Anklage verpflichtet und damit die Befugnis, das Beweissicherungsverfahren zu beantragen, wieder auflebt. Folglich impliziert das Fehlen eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht, dass das Opfer jede Möglichkeit verliert, dass seinem Antrag stattgegeben wird.

69.      Würde der Rahmenbeschluss einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft verlangen, würden die Ausgestaltung und das Gleichgewicht, die der italienische Gesetzgeber geschaffen hat, zudem ernsthaft in Frage gestellt. Es wurde bereits ausgeführt, dass das System des Beweissicherungsverfahrens im Wesentlichen die Staatsanwaltschaft in die Pflicht nimmt, wenn das Opfer minderjährig ist, indem es dieser „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses die Entscheidung über die Zweckmäßigkeit, das Verfahren beim G.I.P. zu beantragen, zuweist. Hätte das Opfer einen Anspruch auf einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung, würde das System umgekehrt, denn für die Entscheidung wäre in letzter Instanz nicht die Staatsanwaltschaft zuständig, sondern das Gericht.

70.      Folglich und im Ergebnis der oben dargelegten Argumente schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220 dahin auszulegen sind, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie Art. 394 CPP entgegenstehen, nach der das minderjährige Opfer in der Ermittlungsphase keinen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft einlegen kann, mit der diese seinen Antrag abgelehnt hat, dass sie beim G.I.P. die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens betreiben möge.

VII – Ergebnis

71.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Giudice per le indagini preliminari di Firenze zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.       Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie Art. 394 CPP entgegenstehen, die der Staatsanwaltschaft nicht die Verpflichtung auferlegt, auf ausdrückliches Ersuchen des minderjährigen Opfers zu beantragen, dass dieses im Wege der Beweissicherung in der Ermittlungsphase angehört und vernommen wird.

2.       Die Art. 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220 sind dahin auszulegen, dass sie nicht einer nationalen Regelung wie Art. 394 CPP entgegenstehen, nach der das minderjährige Opfer in der Ermittlungsphase keinen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft einlegen kann, mit der diese seinen Antrag abgelehnt hat, dass sie beim G.I.P. die Durchführung des Beweissicherungsverfahrens betreiben möge.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Rahmenbeschluss des Rates vom 15. März 2001 (ABl. L 82, S. 1).


3 – Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino (C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285).


4 – Der Wortlaut entspricht der Fassung nach den Änderungen durch das Gesetz vom 6. Februar 2006 (GURI Nr. 38 vom 15. Februar 2006) mit Bestimmungen zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Kinderpornografie, auch mittels des Internets, sowie durch das Decreto legge Nr. 11 vom 23. Februar 2009.


5 – Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft kommt zu dem Beweismangel die ausgesprochen konfliktreiche Beziehung zwischen den Eltern der Minderjährigen seit ihrer Trennung und konkret seit dem Zeitpunkt hinzu, zu dem Frau Y Kenntnis davon erlangte, dass Herr X eine feste Beziehung mit einer anderen Frau unterhielt.


6 – Zur geschichtlichen Entwicklung des Strafprozessrechts in Italien vgl. F. Cordero, Procedura Penale, 8. Aufl., Mailand 2006, S. XX.


7 – Art. 326 CPP.


8 – Art. 493 CPP.


9 – Vgl. allgemein Giostra, G., „Contraddittorio“, in Enciclopedia Giuridica Treccani, 2001, Bd. II, S. 1 ff., Ubertis, G., „La ricerca della verità giudiziale“, in Ubertis, G. (Hrsg.), La conoscenza del fatto nel processo penale, Mailand 1992, S. 2 ff., Ferrua, P., „La regola d'oro del processo accusatorio“, in Kostoris, R. (Hrsg.), Il giusto processo tra contraddittorio e diritto al silenzio, Turin 2002, S. 11 ff., und Illuminati, G., „Giudizio“, in Conso, G., und Grevi, V. (Hrsg.), Compendio di procedura penale, Padua 2003, S. 644 ff.


10 – Zur Reform und ihrer Vorgeschichte vgl. Pizzi, W. T., und Montagna, M., „The Battle to Establish an Adversarial Trial System in Italy“, Michigan Journal of International Law, 2004, und Panzavolta, M., „Reforms and Counter-Reforms in the Italian Struggle for an Accusatorial Criminal Law System“, North Carolina Journal of International and Commercial Regulation, 2005.


11 – Vgl. hierzu Busetto, L., Il contraddittorio inquinato, Padua 2009, S. 8 ff.


12 – Art. 328 CPP.


13 – Art. 327 CPP.


14 – Art. 50 CPP.


15 – „(…) il giudice, quando non accoglie la richiesta di archiviazione, dispone con ordinanza che, entro dieci giorni, il pubblico ministero formuli l’imputazione. Entro due giorni dalla formulazione dell'imputazione, il giudice fissa con decreto l’udienza preliminare“ (Hervorhebung nur hier). In der italienischen Literatur besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Beurteilung dieser Befugnis des Richters, die für einen Teil der Lehre eine logische Folge der in Art. 112 der Verfassung ausdrücklich verankerten Bindung der Staatsanwaltschaft an das Gesetz ist, während sie für einen anderen Teil ein zweifelhaftes Ungleichgewicht zulasten des Anklagegrundsatzes begründet. Vgl. die Gegenüberstellung der Standpunkte in den Arbeiten von Zagrebelsky, V., „Le soluzioni peggiori del male (a proposito del pubblico ministerio)“, Cassazione Penale 1991, S. 313, und Ferraioli, L., Il ruolo di garante del giudice per le indagini preliminari, Padua 2006, S. 105 f.


16 – Zu Regelung, Grundlage und Zweck des italienischen Beweissicherungsverfahrens generell vgl. Esposito, G., Contributo allo studio dell'incidente probatorio, Neapel 1989, Di Geronimo, P., L'incidente probatorio, 2000, Morselli, L'incidente probatorio, Turin 2000, Renon, P., L'incidente probatorio nel processo penale, tra riforme ordinarie e riforme costituzionali, Padua 2000, Di Martino, C., und Procaccianti, T., La prova testimoniale nel processo penale, 2. Aufl., 2010, S. 163 ff., insbesondere S. 167 bis 174.


17 – Art. 394 CPP.


18 – Ebd.


19 – Vgl. die detaillierte Untersuchung von L. Fayolle, Naissance et influence de la notion d'exploitation sexuelle enfantine. Étude des incriminations et sanctions pertinentes et de la participation de l'enfant victime au cours de la phase préparatoire en droit comparé, en droit international, en droit du Conseil de l'Europe et en droit de l'Union Européenne, Jur. Diss. Florenz 2008, S. 347 ff.


20 – Dies wird dadurch belegt, dass in Art. 2 Abs. 2 der Initiative der Portugiesischen Republik im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses, deren Wortlaut die Grundlage für die derzeitige Regelung bildet, eine Reihe von Kriterien zur Identifizierung gefährdeter Opfer aufgestellt wurden, zu denen u. a. das Alter gehörte (Initiative der Portugiesischen Republik im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl. 2000, C 243, S. 4).


21 – Oben in Fn. 3 angeführt.


22 – Schlussanträge vom 11. November 2004, Nrn. 53 bis 58.


23 – Urteil Pupino, Randnr. 53.


24 – Das Urteil Gueye befasst sich ebenfalls mit der Anwendung beider Vorschriften auf gefährdete Opfer, allerdings im Kontext häuslicher Gewalt gegen Frauen und nicht, wie im vorliegenden Fall und in der Rechtssache Pupino, im Zusammenhang mit Minderjährigen.


25 – Hervorhebung nur hier.


26 – Vgl. im gleichen Sinne das Urteil vom 9. Oktober 2008, Katz (C‑404/07, Slg. 2008, I‑7607), in dem der Gerichtshof feststellte, dass der Rahmenbeschluss ein nationales Gericht nicht dazu verpflichtet, dem Opfer einer Straftat in dem Verfahren einer Ersatzprivatklage zu gestatten, als Zeuge gehört zu werden. „Besteht eine solche Möglichkeit nicht, muss es dem Opfer aber gestattet werden können, eine Aussage zu machen, die als Beweismittel berücksichtigt werden kann“ (Randnr. 50). Der Rahmenbeschluss präjudiziert folglich nicht die Modalitäten der Befugnis, sondern ihr Bestehen an sich.


27 –      Urteil vom 15. September 2011, Gueye und Salmerón Sánchez (verbundene Rechtssachen C‑483/09 und C‑1/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 62). Vgl. auch die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in dieser Rechtssache, insbesondere Nr. 63, in der sie Bezug nimmt auf die „dienende Funktion“ des Art. 8 des Rahmenbeschlusses, der „nicht umfassend alle denkbaren Interessen des Opfers zum Gegenstand“ hat.


28 – Das Übereinkommen wurde am 20. November 1989 angenommen und zur Unterzeichnung und Ratifikation aufgelegt (UN Treaty Series, Bd. 1577, S. 43).


29 – Die Erläuterung zu Art. 24 hat folgenden Wortlaut: „Dieser Artikel stützt sich auf das am 20. November 1989 unterzeichnete und von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Übereinkommen von New York über die Rechte des Kindes, insbesondere auf die Artikel 3, 9, 12 und 13 dieses Übereinkommens.“


30 –      Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga (C‑491/10, Slg. 2010, I‑0000).


31 – Ebd., Randnr. 67.


32 – Ebd., Randnr. 66.


33 – Urteile Pupino, Randnr. 59, Katz, Randnr. 48, und Gueye, Randnr. 64.


34 – Die Nuance ist nicht ohne Bedeutung, denn die Initiative Portugals bezog sich allgemein auf „die Mitgliedstaaten“. Es handelt sich mithin um eine ausschließliche Zuweisung der Zuständigkeit an die Gerichte in einem weiten Sinne.


35 – Vgl. die Erwägungsgründe 8, 9 und 10 des ursprünglichen Vorschlags Portugals, in denen eindeutig zum Ausdruck kommt, dass das Ziel seiner Initiative darin bestand, die Vorschriften im Bereich des Strafverfahrens anzugleichen, um umfassend die Bedürfnisse des Opfers zu behandeln. Zu keinem Zeitpunkt bestand die Absicht, die Rolle des Opfers in den Strafprozessen der Mitgliedstaaten neu auszugestalten. Zwar wird eine intensive Diskussion um die geeignete Stellung des Opfers in derartigen Verfahren geführt (vgl. hierzu Ashworth, A., „Victims‘ rights, defendants‘ rights and criminal procedure“, in Crawford, A., und Goodey, J. (Hrsg.), Integrating a victim perspective within criminal justice: international debates, Ashgate-Dartmouth 2000), aber es ist nicht ersichtlich, dass mit dem Rahmenbeschluss diese Frage zugunsten des einen oder anderen Standpunkts gelöst werden sollte.


36 – Vgl. Art. 50 bis 54quater CPP.


37 – Vgl. Art. 112 der italienischen Verfassung.


38 – Vgl. Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge und insoweit Zanon, N., Pubblico Ministero e Costituzione, Padua 1996.


39 – Vgl. Spangher, G., Trattato di procedura penale, Bd. 3, Indagini preliminari e udienza preliminare, Turin 2009, S. 608 f., und Bresciani, L., „Persona offesa dal reato“, in Digesto penale, IX, Turin 1995, S. 527. Diese Rolle scheint in Italien nicht unumstritten zu sein, und es gibt Stimmen, die sie als „gerichtlichen Paternalismus“ bezeichnen. Der Vorwurf bezieht sich aber auf die allgemeine Beschränkung, die alle Opfer und nicht wie im vorliegenden Fall spezifisch die minderjährigen Opfer betrifft. Zu dieser Diskussion vgl. Errico, G., „Rilettura dell'incidente probatorio per l’attuazione di un processo giusto“, in Cerquetti, G., und Florio, F., Dal principio dal giusto processo alla celebrazione di un processo giusto, Padua 2002.


40 – Die verfassungsrechtliche Stellung der Staatsanwaltschaft ist in Teil II Titel IV („Gerichtswesen“) der italienischen Verfassung geregelt. Vgl. insbesondere die Art. 107 und 112, in denen die Staatsanwaltschaft eindeutig in das Gerichtswesen im weiteren Sinne einbezogen wird.


41 – Vgl. die in Nr. 10 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Fundstellen.


42 – Vgl. Art. 34 Abs. 2bis CPP.


43 – Vgl. Art. 418 bis 426 CPP.


44 – Die Corte costituzionale erklärte mit dem Urteil Nr. 77 vom 10. März 1994 die Vorschrift, die der Durchführung der Beweisaufnahme in der Phase der Anhörung entgegenstand, für verfassungswidrig.


45 – Art. 415 und 416 CPP.


46 – Vgl. insbesondere in Bezug auf minderjährige Opfer und die Verpflichtung zur Fortsetzung der Ermittlungen in der Hauptverhandlung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. März 2004, M. C./Bulgarien, Nr. 39272/98, Ziff. 148 ff. Hierzu detailliert Fayolle, L., oben in Fn. 19 angeführt, S. 315 ff.


47 – Vgl. Spencer, J., „The victim and the prosecutor“, in Bottoms, A., und Roberts, J. V. (Hrsg.), Hearing the Victim. Adversarial justice, crime victims and the State, Devon-Portland 2010, S. 141 bis 144.