Rechtssache T‑511/09

Niki Luftfahrt GmbH

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen — Umstrukturierungsbeihilfe, die der Unternehmensgruppe Austrian Airlines von Österreich gewährt wurde — Entscheidung, mit der die Beihilfe vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Bedingungen für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird — Privatisierung der Unternehmensgruppe Austrian Airlines — Bestimmung des Beihilfeempfängers — Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 13. Mai 2015

  1. Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Kurze Darstellung der Klagegründe – Wegen einer rechtlichen Verpflichtung bestehende Unmöglichkeit für die Beklagte, auf Vorbringen zu antworten – Keine Auswirkung – Zulässigkeit

    (Art. 263 AEUV und 339 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1 und 53 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c)

  2. Nichtigkeitsklage – Gründe – Möglichkeit für Kläger, jeden Nichtigkeitsgrund geltend zu machen – Einschränkung nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen Vorschrift und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Klagegründe, die auf Informationen gestützt werden, die in der veröffentlichten Fassung einer Entscheidung über staatliche Beihilfen geschwärzt waren – Zulässigkeit – Verletzung der Verteidigungsrechte der Kommission – Fehlen

    (Art. 263 AEUV und 339 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 52 Abs. 1; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 24 und 25; Mitteilung 2003/C 297/03 der Kommission)

  3. Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Auf widerrechtlich erlangte Informationen gestützte Klagegründe – Einem nicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses verpflichteten Kläger bereits bekannte Informationen – Beeinträchtigung des Systems der Kontrolle staatlicher Beihilfen – Fehlen – Zulässigkeit

    (Art. 263 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 und 53 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1)

  4. Nichtigkeitsklage – Gründe – Verletzung wesentlicher Formvorschriften – Begründungspflicht – Klagegrund, der sich von dem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund unterscheidet

    (Art. 263 Abs. 2 AEUV)

  5. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung der Kommission über staatliche Beihilfen – Entscheidung, die eine Beihilfe zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens betrifft – Notwendigkeit, die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anzuführen, denen nach dem Aufbau der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt – Kein Erfordernis einer besonderen Begründung für jeden von den Beteiligten vorgebrachten Aspekt

    (Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG; Art. 296 AEUV)

  6. Staatliche Beihilfen – Begriff – Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen zu Vorzugsbedingungen – Einbeziehung

    (Art. 87 Abs. 1 EG)

  7. Staatliche Beihilfen – Begriff – Anwendung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

    (Art. 87 Abs. 1 EG; Art. 263 AEUV)

  8. Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission – Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der bei Erlass der Entscheidung verfügbaren Informationen

    (Art. 87 Abs. 1 EG; Art. 263 AEUV)

  9. Staatliche Beihilfen – Begriff – Verkauf eines öffentlichen Unternehmens, das eine staatliche Beihilfe erhalten hat – In den Kaufpreis einbezogenes Beihilfeelement – Vorteil zugunsten des Erwerbers – Fehlen

    (Art. 87 Abs. 1 EG)

  10. Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Ermessen der Kommission – Befugnis zum Erlass von Leitlinien – Gerichtliche Nachprüfung – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens

    (Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG; Art. 263 AEUV; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission, Rn. 16 und 17)

  11. Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Unternehmen in Schwierigkeiten – Begriff – Unternehmen in Schwierigkeiten, das einer Unternehmensgruppe angehört – Unternehmen in Schwierigkeiten, das von einer Unternehmensgruppe übernommen wird – Beurteilung

    (Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission, Rn. 13)

  12. Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Begriff der Umstrukturierung – Unternehmen in Überschuldungslage

    (Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission, Rn. 43)

  13. Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Dem Luftverkehrssektor angehörendes Unternehmen – Voraussetzungen

    (Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG; Mitteilung 2004/C 244/02 der Kommission, Rn. 38)

  14. Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Ermessen – Beachtung der Kohärenz zwischen den Vorschriften über staatliche Beihilfen und den sonstigen Vorschriften des Vertrags

    (Art. 43 EG, 87 EG und 88 EG)

  15. Nichtigkeitsklage – Gründe – Ermessensmissbrauch – Begriff

    (Art. 263 AEUV)

  1.  Nach Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichts muss jede Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Unionsrichter die Ausübung seiner richterlichen Kontrolle zu ermöglichen. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es somit erforderlich, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich eine Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben.

    Die angeblich wegen einer rechtlichen Verpflichtung bestehende Unmöglichkeit für die Beklagte, auf das Vorbringen der Klägerin zu antworten, ist nicht als Nachweis für das Vorliegen eines Verstoßes gegen die Formerfordernisse gemäß Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung geeignet und kann daher nicht zur Unzulässigkeit der Klageschrift führen.

    (vgl. Rn. 65, 66)

  2.  Eine natürliche oder juristische Person, die gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV eine in Abs. 1 dieser Vorschrift genannte Handlung anfechten kann, darf ohne Einschränkung jeden der in Abs. 2 der Vorschrift angeführten Klagegründe geltend machen.

    Jede Einschränkung des Rechts des Klägers, die Nichtigkeitsgründe geltend zu machen, die er für geeignet hält, muss deshalb unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie auch eine Einschränkung des in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellen würde, gemäß Art. 52 Abs. 1 dieser Charta im Recht der Union vorgesehen sein und mit den Anforderungen der zuletzt genannten Bestimmung in Einklang stehen. Insbesondere darf sie – unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich ist und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht.

    Was die in Art. 339 AEUV vorgesehene und in Art. 24 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG wiederholte Verpflichtung der Kommission betrifft, Auskünfte, die ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis fallen, insbesondere Auskünfte über Unternehmen sowie deren Geschäftsbeziehungen oder Kostenelemente, nicht preiszugeben, so sieht keine dieser Vorschriften ausdrücklich vor, dass Klagegründe als unzulässig zurückgewiesen werden, die sich auf Punkte der streitgegenständlichen Entscheidung beziehen, die in der veröffentlichten Fassung dieser Entscheidung geschwärzt waren und zu denen ein Kläger nur dadurch Zugang haben konnte, dass er sich ohne die Erlaubnis der Kommission die vollständige vertrauliche Fassung dieser Entscheidung beschafft.

    Im Übrigen wird die Verpflichtung der Kommission zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gegenstandslos, wenn sowohl der Kläger als auch die anderen Beteiligten bereits Kenntnis von den fraglichen Informationen haben und die mündliche Verhandlung vor dem Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt wird.

    (vgl. Rn. 67-71, 82, 83, 87, 89, 90)

  3.  Der Umstand, dass ein Kläger, der bereits Zugang zu den in der vollständigen Fassung einer im Bereich der staatlichen Beihilfen ergangenen Entscheidung der Kommission enthaltenen Informationen hatte und der nicht der Verpflichtung zur Wahrung des Berufsgeheimnisses gemäß Art. 339 AEUV und Art. 24 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG unterliegt, im Rahmen des Verfahrens vor dem Unionsrichter widerrechtlich erlangte Informationen verwendet, gehört, selbst wenn man annimmt, er sei nachgewiesen, nicht zu den Umständen, die es rechtfertigen würden, eine auf der Grundlage von Art. 263 AEUV eingereichte Klageschrift gemäß Art. 44 der Verfahrensordnung des Gerichts mit der Begründung, dass eine solche Praxis geeignet sei, das System der Kontrolle staatlicher Beihilfen in der Europäischen Union zu beeinträchtigen, da sie die Wirtschaftsteilnehmer davor zurückschrecken lasse, der Kommission im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung staatlicher Beihilfen vertrauliche Informationen mitzuteilen, als unzulässig zurückzuweisen.

    (vgl. Rn. 91-96)

  4.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 104, 111, 118)

  5.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 105-107, 114)

  6.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 122, 123)

  7.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 124-126)

  8.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 127, 188)

  9.  Wenn ein Unternehmen, das eine staatliche Beihilfe erhalten hat, zum Marktpreis erworben wird, d. h. zum höchsten Preis, den ein privater Investor unter normalen Wettbewerbsbedingungen für diese Gesellschaft in der Situation, in der sie sich – insbesondere nach dem Erhalt staatlicher Beihilfen – befand, zu zahlen bereit war, wird das Beihilfeelement als zum Marktpreis bewertet und in den Kaufpreis einbezogen angesehen. Unter diesen Umständen kann der Erwerber nicht als Nutznießer eines Vorteils gegenüber den übrigen Marktteilnehmern angesehen werden.

    (vgl. Rn. 133)

  10.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 142-149)

  11.  Auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen besteht einer der mit Rn. 13 der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten aufgestellten Grundsätze darin, dass einem Unternehmen in Schwierigkeiten, das einer Unternehmensgruppe angehört, keine Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfe gewährt werden darf, wenn es sich nicht um Schwierigkeiten des betreffenden Unternehmens selbst handelt und diese auf eine willkürliche Kostenverteilung innerhalb der Gruppe zurückzuführen sind oder wenn die Gruppe die Mittel hat, um diese Schwierigkeiten selbst zu bewältigen. Das Ziel dieses Verbots besteht also darin, zu verhindern, dass eine Unternehmensgruppe den Staat die Kosten für einen Umstrukturierungsplan für eines der zu ihr gehörenden Unternehmen tragen lässt, wenn sich dieses Unternehmen in Schwierigkeiten befindet und der Ursprung dieser Schwierigkeiten bei der Gruppe selbst liegt oder die Gruppe diese Schwierigkeiten mit eigenen Mitteln bewältigen kann.

    In diesem Zusammenhang besteht das Ziel der Ausdehnung des Verbots der Gewährung von Rettungs- oder Umstrukturierungsmaßnahmen auf Unternehmen in Schwierigkeiten, die im Begriff sind, von einer Unternehmensgruppe übernommen zu werden, darin, zu verhindern, dass eine Unternehmensgruppe dieses Verbot umgeht, indem sie den Umstand ausnutzt, dass ein Unternehmen, das zu übernehmen sie im Begriff ist, ihr im Zeitpunkt der Zahlung der Umstrukturierungsbeihilfe zugunsten des übernommenen Unternehmens noch nicht formell angehört.

    (vgl. Rn. 159, 160, 171)

  12.  Eine Umstrukturierung umfasst nach den Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten normalerweise einen betrieblichen Teil, der Maßnahmen zur Reorganisation und Rationalisierung der Tätigkeiten des Unternehmens vorsieht, und einen finanziellen Teil, der insbesondere die Form einer Kapitalzuführung oder des Schuldenabbaus haben kann. Insofern kann sich eine Umstrukturierung nicht auf eine finanzielle Beihilfe beschränken.

    Dies bedeutet aber nicht, dass die Umstrukturierungsbeihilfe notwendigerweise die im Rahmen des betrieblichen Teils der Umstrukturierung getroffenen Maßnahmen finanzieren muss. So ist Rn. 43 der Leitlinien zu berücksichtigen, aus der hervorgeht, dass sich die Höhe der Beihilfe auf die für die Umstrukturierung unbedingt notwendigen Mindestkosten nach Maßgabe der verfügbaren Finanzmittel des Unternehmens beschränken muss. Im Fall eines Unternehmens mit einer bedeutenden Verschuldung wird der wesentliche Teil der Beihilfe logischerweise für den Schuldenabbau verwendet werden, während der Beihilfeempfänger die Maßnahmen der betrieblichen Umstrukturierung mit seinen eigenen Mitteln sowie mittels einer eventuellen Fremdfinanzierung zu Marktbedingungen tragen wird.

    (vgl. Rn. 181, 182)

  13.  Aus Rn. 38 Nr. 4 der Luftverkehrsleitlinien von 1994 geht hervor, dass die Umstrukturierung nicht dazu führen darf, dass auf den betreffenden Märkten mehr Flugzeuge zum Einsatz kommen oder Sitzplätze angeboten werden, als es die Zuwächse auf diesen Märkten rechtfertigen. Diese Beschränkung muss allerdings mit dem in Rn. 38 Nr. 1 der Luftverkehrsleitlinien von 1994 festgelegten und in Rn. 38 der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten aufgegriffenen Ziel in Einklang gebracht werden, wonach der Umstrukturierungsplan es dem Unternehmen ermöglichen muss, innerhalb eines angemessenen Zeitraums die langfristige Überlebensfähigkeit wiederherzustellen. Dieses Ziel wäre aber schwer zu erreichen, wenn die Kapazitäten des Unternehmens, das die Umstrukturierungsbeihilfe erhält, nicht in demselben Maß wachsen könnten wie die seiner Wettbewerber, insbesondere im Fall eines raschen Marktwachstums.

    (vgl. Rn. 190, 191, 193)

  14.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 215, 216)

  15.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 225)